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Wie einig ist Europa ein Jahr nach der Invasion? euro|topics: Europa und der Krieg

Sophie Elmenthaler

/ 14 Minuten zu lesen

Der russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Europa geeint. Wird diese neue Einigkeit Bestand haben?

14.12.2022: Mitglieder sowie Besucher des Europäischen Parlaments gedenken während einer Schweigeminute der ukrainischen Opfer des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. (© picture-alliance/dpa)

In der Zeit nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine, hat sich Europa spürbar verändert. "Die demokratische Welt hat nicht nur standgehalten, sie hat sich in beispielloser Weise geeint", stellt das russische Exilmedium Moscow Times am 20. Dezember 2022 fest. Ähnlich urteilt die rumänische Wochenzeitung Revista22 am selben Tag: "Die größte Überraschung war die Interner Link: Einigkeit, die die Europäer angesichts der russischen Militäraggression gegen die Ukraine und der Energieaggression gegen den gesamten Kontinent zeigten."

Nach wie vor scheint, das legen zumindest aktuelle Umfragen nahe, Europa geeinter zu sein als zuvor. In kürzester Zeit mussten viele gemeinsame Antworten gefunden werden, etwa bei den Themen Externer Link: Waffenlieferungen, Externer Link: russisches Gas, Energiepreise, Inflation und Sicherheit. "Es wird nicht mehr über die Größe von Tomaten oder die Form von Bananen diskutiert, die in Europa akzeptabel sind; stattdessen wird darüber debattiert, welche Panzer und möglicherweise F-16-Kampfjets an Kiew geliefert werden sollen", schreibt die New York Times am 23. Februar 2023. Und obwohl mit neuen Externer Link: Gaslieferverträgen, Externer Link: Preisdeckeln und Externer Link: inflationsausgleichenden Maßnahmen die finanzielle Belastung der Bürgerinnen und Bürger sowie Staaten etwas aufgefangen wurde, bleibt sie weiterhin hoch. Auch deshalb ist fraglich, ob das Gefühl der Einigkeit Bestand haben wird und wie sich Europas Länder langfristig zur Europäischen Union und Russland positionieren werden. Im Zuge dessen lohnt sich ein Blick auf die EU-skeptischen Stimmen und Parteien, die in der Vergangenheit erfolgreich waren oder es noch sind. Eine zentrale Frage ist dabei, ob die EU-Skepsis mit einer pro-russischen Haltung einhergeht oder nicht. Ungarn wirkt mit seiner offensichtlich pro-russischen Haltung, die offenbar den Rückhalt der Bevölkerungsmehrheit genießt, isoliert – aber was bedeutet das für sein Verhältnis zu Brüssel? Wohin wird die Reise in Bulgarien und der Slowakei gehen, in denen pro-russische und EU-skeptische Haltungen weit verbreitet sind, aber bisher keine Regierungsmehrheit finden konnten? Wie passen in der heutigen Situation Euroskeptizismus und eine pro-westliche Einstellung zusammen?

Euroskeptische Parteien in Europa - Überblick

Der Euroskeptizismus ist ein relativ unscharfer Begriff, der eine kritische bis ablehnende Haltung gegenüber der EU und ihren Institutionen bezeichnet. Er beruft sich dabei auf den Vorrang nationaler Souveränität und Identität. Im Zuge der Finanzkrise 2008/2009 und der Flüchtlingskrise 2015/16 konnten Parteien mit EU-skeptischen Positionen in vielen Ländern Europas Erfolge erzielen und zum Teil auch Regierungen stellen. In Österreich war die FPÖ nach einem Tief ab 2008 wieder erfolgreich, in den Niederlanden gelangte Geert Wilders mit der PVV 2009 ins Parlament. Viktor Orbáns Fidesz ist seit 2010 an der Macht, in Polen konnte die PiS von 2015 bis 2021 allein regieren. In Frankreich begann 2011 die Erfolgsgeschichte der RN-Vorsitzenden Marine Le Pen. In Italien konnten nach Jahren, in denen der wohlgemerkt nicht EU-skeptische Populist Silvio Berlusconi die Politik geprägt hatte, ab 2013 die linkspopulistische Fünf-Sterne-Bewegung und die rechtspopulistische Lega von Matteo Salvini bemerkenswerte Ergebnisse erzielen und mitregieren. In Deutschland gründete sich 2013 die AfD.

In Großbritannien gipfelte die EU-Ablehnung von Ukip und vielen Tories nach einem Referendum im Brexit. Bis auf die PiS, Geert Wilders’ PVV und die britischen Konservativen pflegten oder pflegen alle genannten Parteien gute bis sehr gute Beziehungen zu Putins Russland.

Seit der Corona-Pandemie und spätestens seit dem Krieg gegen die Ukraine haben EU-skeptische Positionen in Europa teilweise an Attraktivität verloren: Die Mehrheit der Briten glaubt inzwischen, dass der Brexit falsch war. In Italien wurde 2022 mit Giorgia Melonis Fratelli d’Italia zwar eine postfaschistische, aber weniger EU-skeptische Partei Wahlgewinner, während Lega und Fünf-Sterne massive Einbußen hinnehmen mussten. In Österreich sank der Stimmenanteil der FPÖ bei der Nationalratswahl 2019 von 26 auf 16,2 Prozent. In Frankreich konnte sich Marine Le Pen Externer Link: trotz hohen Stimmenanteils zweimal in Folge nicht als Präsidentschaftskandidatin gegen Emmanuel Macron durchsetzen, sie hat nach der Externer Link: umstrittenen Rentenreform in Frankreich aber viel an Popularität gewonnen. In Ländern wie Polen, Ungarn, Slowakei und Bulgarien haben EU-skeptische Positionen weiterhin Erfolg oder zumindest erhebliches Wählerpotenzial.

Ungarn: Überzeugte EU-Querulanten

Seit dem Beginn des Krieges haben sich die Differenzen zwischen Ungarn und der Europäischen Union verschärft. Schon die früheren Orbán-Regierungen sahen die Kritik an der ungarischen Rechtsstaatlichkeit als unberechtigten politischen Druck aus Brüssel und Einmischung in die Souveränität des Landes an. Vor allem seit der Migrationskrise 2015 hatte die ungarische Regierung Stimmung gegen die EU gemacht und sie als supranationale Macht dargestellt, die die Selbstbestimmung Ungarns bedroht, indem sie Ungarn zum Beispiel zur Aufnahme von Migranten zwinge oder "LGBTQ-Propaganda" bei Kindern fördere.

Im Bezug auf den Krieg übt die ungarische Regierung noch schärfere Kritik an der Europäischen Union, die sich ihrer Meinung nach aufgrund der Waffenlieferungen bereits indirekt im Krieg mit Russland befindet. Ungarn fordert eine Waffenruhe und Friedensverhandlungen, es liefert keine Waffen an die Ukraine. Gegen die EU-Sanktionen gegen Russland hat die Regierung zwar kein Veto eingelegt (Ausnahme: Patriarch Kyrill ), diese aber harsch kritisiert. Zudem verschleppt Ungarn seit Monaten die Ratifizierung des Nato-Beitritts von Schweden. Aus der EU auszutreten scheint allerdings nicht auf Orbáns Agenda zu stehen, auch wenn er die Idee im Wahlkampf erwähnt hatte. Die ungarischen Wahlberechtigten sind mit seinem Kurs überwiegend einverstanden: Im April 2022 wurden Orbán und Fidesz mit einer Zweitdrittelmehrheit wiedergewählt.

In den regierungsnahen Medien werden ab und zu Meinungen veröffentlicht, die nicht nur die EU, sondern auch die Nato im Visier haben. Das Flaggschiff der regierungsnahen Medien, die Tageszeitung Magyar Nemzet, schreibt am 17. Februar: "Die Nato ist keine Garantie für unsere Sicherheit, sondern eine Gefahr für Ungarn, auch für das gesamte Europa. … Nach dem Zusammenbruch des Roten Reiches wurde ihre Haupttätigkeit eindeutig die Vertretung der globalen wirtschaftlichen und politischen Interessen der Vereinigten Staaten. … Dies zeigt sich unter anderem in der aggressiven Expansion nach Osten nach 1990, die euphemistisch als ‘Erweiterung’ bezeichnet wird." Viktor Orbán betonte indes in seiner jüngsten Rede zur Lage der Nation, dass die Nato für Ungarn lebenswichtig sei.

Kritik an Orbán nicht nur von der Opposition

In der regierungskritischen Öffentlichkeit wird Orbáns Politik als grundlegend falsch gesehen. Die größte oppositionelle Zeitung Népszava zeigt sich am 3. März genervt von der vorherrschenden Rhetorik: "Stellen wir uns mal vor, was passieren würde, wenn der ‘kriegsfreundliche’ Westen der russischen Erpressung nachgeben und die Souveränität der Ukraine opfern würde. Besonders viel Fantasie braucht man nicht, man muss einfach in den Geschichtsbüchern nachlesen. Wahrscheinlich zögert der Westen, mit Putin zu verhandeln, bevor er sich aus den besetzten Gebieten zurückzieht, weil er 1938 schon einmal naiv so einen Fehler gemacht hatte." Ein weiterer Kritikpunkt der Opposition lautet, dass Ungarn dabei ist, sich in Europa komplett zu isolieren und damit zu schaden. Schaut man sich Ungarns Verhältnis zu seinen bisherigen Verbündeten an, scheint dieser Vorwurf durchaus der Realität zu entsprechen - so kriselt es beispielsweise im Interner Link: Visegrád-Bündnis. Nicht zuletzt deshalb gibt es innerhalb von Orbáns Partei hin und wieder auch Stimmen, die einen Kurswechsel nahelegen. So schreibt der Parlamentsabgeordnete Zsolt Németh im regierungsnahen Medium Mandiner am 9. Februar: "Die Annahmen, dass der Westen im Niedergang sei und seine globalen Herausforderer an Stärke gewinnen, sind mit Vorsicht zu betrachten. … In Kriegen geht es schon lange nicht mehr nur um militärische Fragen, sondern auch um einen öffentlichen Wettstreit der industriellen Fähigkeiten und Technologien. … In Wirklichkeit ist der Kampf alles andere als ausgeglichen, denn der Westen ist deutlich besser dran. Daher sollte der dominante Westen auch weiterhin der Ausgangspunkt für die ungarische Strategie sein."

Slowakei: Staat versus Bevölkerung?

Die Slowakei mit ihrer aktuell pro-europäischen Regierung gehörte von Beginn des russischen Überfalls an zu den besonders engen Partnern der Ukraine, militärisch und humanitär. Auch in der Presse war die Unterstützung für Kyjiw groß. Am 25. Februar 2022 forderte die unabhängige Tageszeitung Denník N die Slowaken auf, sich auf harte Zeiten einzustellen: "Sanktionen werden ganz Europa schaden, aber wir können zur Niederlage Putins beitragen, indem wir geduldig ihre Folgen ertragen. Die Welt, in der wir uns vor allem mit Gedanken darüber beschäftigen konnten, wie wir unser Leben verbessern und wo wir im Sommer Urlaub machen können, ist vorbei. Wenn Frieden in unser Leben zurückkehren soll, müssen wir verstehen, dass das ohne Opfer - hoffentlich nur materielle - nicht funktionieren wird."

Wenige Wochen nach Beginn der Aggression stimmte die Slowakei als Nato-Mitglied zur Stärkung des Ostflügels der Präsenz von Nato-Truppen auf ihrem Territorium zu.

Nach Polen hat die Slowakei zudem als zweites Nato-Land im März 2023 die Lieferung von ausgemusterten MiG-29-Kampfflugzeugen sowjetischer Herkunft angekündigt und inzwischen geliefert.

Keine Einigkeit bei den Bürgern

Schaut man in die Bevölkerung, ergibt sich in der Haltung zur Ukraine ein gemischtes Bild. Gab es zu Beginn des Krieges enorm viel ehrenamtlich organisierte Hilfe für ukrainische Flüchtlinge, scheint sich die spontane Solidarität im Dezember verflüchtigt zu haben. Die slowakische NGO Globsec kam bei einer Umfrage im Dezember 2022 zu dem Ergebnis, dass die Slowaken unter den Visegrád-Ländern die größte Abneigung gegen ukrainische Flüchtlinge haben. 52 Prozent glaubten demnach, dass sich ihretwegen die wirtschaftliche Situation der Slowakei verschlechtere (Vergleich: in Polen galt das für 11 Prozent, in Ungarn für 15 Prozent und in Tschechien für 25 Prozent der Befragten). Des Weiteren sahen 84 Prozent der Polen und 72 Prozent der Tschechen Russland für den Beginn des Krieges verantwortlich, in Ungarn und der Slowakei glaubten dies nur 43 Prozent. In der Slowakei machten entsprechend bis zu 39 Prozent die USA und die Nato für den Krieg in der Ukraine verantwortlich.

Kurz vor dem Krieg im Januar/Februar 2022, als es um ein Abkommen über eine militärische Zusammenarbeit zwischen der Slowakei und den USA ging, ergab eine Umfrage der slowakischen Agentur Focus, dass 34,7 Prozent der Befragten Russland für die wachsenden Spannungen um die Ukraine verantwortlich machten, aber 44,1 Prozent die USA und die Nato. Je älter die Befragten waren und je ländlicher sie wohnten, desto verdächtiger war ihnen der Westen. In der Slowakei gibt es demnach – vor allem aus historischen Gründen – großen Zuspruch in der Bevölkerung für Putins Russland, der im Missverhältnis zur Ukraine-Hilfe der amtierenden Regierung und der 2019 gewählten, linksliberalen Präsidentin Externer Link: Zuzana Čaputová steht.

Rolle rückwärts mit Robert Fico?

Die für Ende September 2023 geplanten Externer Link: Neuwahlen könnten angesichts des großen pro-russischen Wählerpotenzials zu einem Comeback des dreimaligen früheren Premiers Externer Link: Robert Fico und seiner linkspopulistischen, euro-skeptischen Partei Smer-SD führen und damit zu einem jähen Wechsel in der slowakischen Ukrainepolitik.

Fico musste 2018 im Zusammenhang mit dem Externer Link: Mord an Ján Kuciak und Martina Kušnírová zurücktreten. Das liberale Onlineportal Aktuality.sk warnt am 22. Dezember 2022:

"Einst präsentierte sich Fico als proeuropäischer Politiker, der uns im harten Kern der EU haben will, der weiß, wie wichtig unsere Teilnahme in der Nato ist. ... Heute ist er der Führer der russischen fünften Kolonne in der Slowakei. Sollte Fico zu einem Zeitpunkt zurückkehren, an dem die Ukraine die Hilfe eines vereinten Europas und der Nato benötigt, würde das ernsthafte Probleme verursachen. Fico ist keine Garantie mehr für unsere prowestliche außenpolitische Ausrichtung und wird sogar zu einer Sicherheitsbedrohung für die Slowakei." So kann etwa nicht ausgeschlossen werden, dass Fico die Erlaubnis für die Stationierung fremder Nato-Truppen in der Slowakei rückgängig machen könnte.

Bulgarien: Russlandnähe ohne EU-Skepsis

Bulgarien befindet sich nach fünf Wahlen innerhalb von zwei Jahren in einer politischen Externer Link: Pattsituation. Die Externer Link: Anti-Korruptions-Regierung von Kiril Petkow vom November 2021 zerbrach bereits im Juni 2022, bei den Externer Link: Neuwahlen im Oktober setzte sich dann mit minimalem Vorsprung wiederum die rechtskonservative Gerb des langjährigen früheren Premiers Externer Link: Bojko Borissow durch. Beide Parteien sind pro-europäisch, wie auch der überwiegende Teil der Bevölkerung (45 Prozent Zustimmung zur EU vs. 18 Prozent Ablehnung). Die politische Instabilität hat aber dazu geführt, dass pro-russische und antiwestliche Stimmen in der bulgarischen Politik und Öffentlichkeit gestärkt wurden. Es gibt zudem eine historisch starke Verbundenheit der linken Parteien (Sozialisten und Kommunisten) mit Russland. So sah sich Petkow 2022 aufgrund des Widerstandes seiner sozialistischen Koalitionspartner gezwungen, die Externer Link: Unterstützung der Ukraine mit Munition und Rüstungsgütern heimlich durchzuführen, während sein Land Waffenlieferungen offiziell ablehnte. Als die Lieferungen nach einer Recherche der Tageszeitung Die Welt Anfang 2023 publik wurden, zeigte sich ein Teil der bulgarischen Presse erleichtert. So schreibt das linksliberale Onlineportal Webcafé am 20. Januar: "Der Krieg in der Ukraine ist ein Versuch Moskaus, sich gewaltsam durchzusetzen und die Länder des ehemaligen Ostblocks in Angst und Schrecken vor einer Intervention ihrer ehemaligen 'Herren' im Kreml zu versetzen. Dieser Versuch scheitert an der Widerstandsfähigkeit der Ukraine. Wenn Bulgarien dazu beigetragen hat, kann uns das nur freuen. Was den Welt-Artikel betrifft, können wir uns ebenfalls freuen, dass der Externer Link: Name unseres Landes endlich einmal im Guten erwähnt wird und wir zur Abwechslung mal auf der richtigen Seite der Geschichte stehen."

Die Bevölkerung erscheint in Bezug auf die Ukraine ähnlich geteilt wie in der Slowakei: Während die große Mehrheit der Bulgaren humanitäre Unterstützung befürwortet, sind 57 Prozent gegen Waffenlieferungen und 41 Prozent gegen Sanktionen gegen Russland.

Russland steht neben seinen guten Verbindungen zu den genannten Teilen der bulgarischen Politik immer wieder im Verdacht, über Korruption, etwa im Energiesektor , und Spionage Einfluss auf Bulgarien nehmen zu wollen, weswegen im Juni 2022 Externer Link: 70 russische Diplomaten ausgewiesen wurden. Aber offenbar will man die Verbindung zu Moskau zumindest nicht ganz abreißen lassen, wie die Wiederaufnahme von Gaslieferungen durch Gazprom im August 2022 zeigt.

Großbritannien: Proeuropäisch ohne die EU?

Großbritannien befindet sich nach dem Brexit in einer Sonderstellung innerhalb Europas. Während dieExterner Link: atlantische, pro-ukrainische Haltung des Vereinigten Königreichs nie zur Debatte stand, ist das Verhältnis zu Brüssel nicht unbedingt einfacher geworden. Das Tauziehen um das Externer Link: Nordirland-Protokoll beschädigte die Beziehungen nach dem Beginn des Krieges weiter. Auch auf persönlicher Ebene klappte es nicht: Die meisten EU-Regierungen und EU-Institutionen trauten dem früheren Premier und Brexit-Verfechter Externer Link: Boris Johnson nicht. Im Februar dieses Jahres erklärte dieser, Großbritannien habe dank des Brexit die Möglichkeit gehabt, Kyjiw viel schneller und umfassender zu unterstützen als die EU, die sich erstmal einigen musste.

Dennoch führte der Ukraine-Krieg zu einer Annäherung zwischen Großbritannien und dem Rest Europas. Die gemeinsam empfundene Bedrohung durch Russland drängte einige Konfliktpunkte zwischen London und Brüssel in den Hintergrund. Dazu kam die Amtsübernahme durch Rishi Sunak als neuer Premier am 25. Oktober 2022, der eine spürbare Entspannung der Beziehungen folgte. So schreibt die linke Tageszeitung The Guardian im November: "Es ist noch zu früh, um von einem Wendepunkt zu sprechen, aber es besteht zumindest die Chance, dass wir auf das Jahr 2022 als das Jahr zurückblicken werden, in dem die Briten und die anderen Europäer endlich einer Abwärtsspirale entkommen sind, die seit dem Brexit-Referendum nicht nur die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU vergiftet hat, sondern auch die bilateralen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und vielen EU-Ländern. Es wird vielleicht nicht besser, aber zumindest wird es vorerst nicht noch schlechter."

Das Tauwetter gipfelte am 27. Februar im Externer Link: Windsor-Abkommen, das den Streit um das Nordirland-Protokoll beilegen soll. Die konservative Tageszeitung Daily Telegraph, bis dato Sprachrohr der Brexiteers, kommentiert: "Rishi Sunak konnte das neue Brexit-Abkommen vor allem deshalb durchsetzen, weil er nicht Boris Johnson war. … Die EU wusste, dass das Abkommen bei den Tory-Brexiteers auf wenig Gegenliebe stoßen würde, und wollte Sunak helfen, es durchzubringen."

Aktuelle Umfragen legen nahe, dass ablehnende Haltungen gegenüber der EU in der Bevölkerung weiter abnehmen: Nicht nur empfinden viele den Brexit inzwischen als Fehler; auch die Wählergunst schlägt nach Jahren konservativer Regierung in Richtung der Labour-Partei aus , die pro-europäisch ist – wenngleich sie angekündigt hat, den Brexit nicht rückgängig machen zu wollen.

Italien: Westorientierung und Souveränismus?

Den Wahlsieg Giorgia Melonis und ihrer postfaschistischen Fratelli d'Italia (FdI) bei der italienischen Parlamentswahl 2022 kann man kaum anders als fulminant nennen: Von unter fünf Prozent zum eindeutigen Wahlgewinner mit 26 Prozent Stimmanteil. Die Koalition aus den Fratelli, Salvinis Lega und Berlusconis Forza Italia hat in beiden Parlamentskammern die Externer Link: absolute Mehrheit. Kurz nach dem Wahlsieg wurden nicht nur wegen der extrem rechten und bis dato EU-skeptischen Positionen der FdI Sorgen laut, sondern auch, weil man fürchtete, dass die beiden Putin-freundlichen Juniorpartner in der Koalition die italienische Politik auf einen Anti-Ukraine-Kurs lenken könnten. So schreibt die liberale Tageszeitung Corriere della Sera am 26. September: "Es ist nicht zu übersehen, dass die neue Phase außerhalb unserer Grenzen als ein Risiko und von einigen Regierungen sogar als Trauma empfunden wird. Es wird ein Dominoeffekt auf die kontinentalen Bündnisse befürchtet mit einer Wiederbelebung des Souveränismus durch die italienischen Ergebnisse, die auf die Externer Link: schwedischen folgen, und einem Aufschwung des Wohlwollens gegenüber Russland aufgrund der Präsenz der Lega und der Forza Italia in der Koalition." Die linksliberale, größte spanische Tageszeitung El País hofft am 25. September, dass die EU Meloni in Schach halten wird: "Noch nie wurde eine Regierung in Westeuropa von einer neofaschistischen Rechten geführt, die ihre antieuropäische Skepsis und ihren kriegerischen Nationalpopulismus unverhohlen zur Schau stellt. ... Italien driftet offen nach rechts ab, Europa muss seine Kontrollmechanismen gegen diejenigen verschärfen, die danach streben, die EU selbst zu destabilisieren."

Öl ins Feuer der Befürchtungen gießt im Oktober Silvio Berlusconi, der sich seiner Freundschaft mit Wladimir Putin rühmt.

Sorgen unbegründet?

In den folgenden Wochen und Monaten überrascht Meloni jedoch: Ihren ersten Auslandsbesuch absolviert sie in Brüssel. Die linksliberale Tageszeitung La Repubblica kommentiert am 4. November: "Es ist eine symbolische Geste. Aber es ist eine wichtige Geste, weil sie auf eine politische Priorität hinweist. Sie reiste nicht nach Kyjiw, wohin sie ebenfalls eingeladen worden war. Sie ist nicht nach Warschau gereist, wo ihre europaskeptischen Parteifreunde regieren." Die linke belgische Tageszeitung De Morgen ist am selben Tag weniger überrascht: "Außer reinem politischen Pragmatismus gibt es noch einen weiteren, vielleicht noch wichtigeren Grund, warum Meloni nun einen gemäßigteren Ton anschlägt in Brüssel: Sie kann es sich schlicht nicht leisten, europäische Führer zu beleidigen. … Das Land ist mit 200 Milliarden Euro der größte Empfänger des europäischen Externer Link: Corona-Erholungsfonds."

Auch die Befürchtungen über einen Putin-freundlichen Kurs Italiens kann Meloni ausräumen: Sie bekennt sich klar zur Unterstützung der Ukraine, sichert Anfang Dezember weitere Waffenlieferungen an Kyjiw für ein weiteres Jahr per Dekret ab , obwohl eine Mehrheit der italienischen Bevölkerung nach einer Untersuchung der liberalen Tageszeitung La Stampa dagegen ist. Nach hundert Tagen im Amt zieht die europäische Presse eine überwiegend positive Bilanz.

Allgemeines Misstrauen bleibt

Dennoch bleibt die Frage, in welche Richtung sich Giorgia Meloni und ihre Partei langfristig entwickeln werden: Werden sie den gemäßigten Kurs, zumindest auf europäischer Ebene, weiterführen und sich Europas Konservativen annähern, oder hält sich Meloni nur strategisch bedeckt , solange es nötig ist? Mit der EU zeichnen sich derzeit zwei Konflikte ab. Erstens blockiert Italien die Ratifizierung des neuen Rettungsschirms ESM. Und zweitens verschleppt es die Freigabe zurückgehaltener EU-Gelder in Höhe von 19 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds, indem es die Auflagen Brüssels nicht erfüllt. Zudem entspricht Melonis Politik auf nationaler Ebene durchaus den Erwartungen an eine ultrarechte Politikerin: Wegen hoher Migrantenzahlen rief Meloni im März für sechs Monate den Notstand aus , was schnellere Abschiebungen ermöglicht. Die Rechte gleichgeschlechtlicher Eltern sollen eingeschränkt werden. Für Aufregung sorgte auch ein Gesetz zur Einschränkung von Anglizismen im Sprachgebrauch. Sollte Italien unter Meloni langfristig konservative Gesellschaftspolitik, EU-Skepsis und eine pro-westliche Haltung miteinander kombinieren, hätte sie in Polen und teilweise auch in Großbritannien prominente potenzielle Verbündete. Für eindeutige Beurteilungen ist es noch zu früh. Vielleicht aber steht Melonis Kurs in Italien für einen aktuellen Trend, in dem EU-skeptische Haltungen in Verbindung mit einer pro-westlichen Haltung politisch erfolgversprechender erscheinen als die Hinwendung nach Moskau.

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ist Redakteurin bei euro|topics.