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Zerstört Russlands Krieg auch das Visegrád-Bündnis? euro|topics: Europa und der Krieg

Leo Mausbach Kornélia Kiss Hans-Jörg Schmidt

/ 6 Minuten zu lesen

Die mitteleuropäischen Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn haben als V4 seit Jahren gemeinsame Interessenpolitik betrieben. Vor dem Krieg gegen die Ukraine wurde das Visegrád-Bündnis schon durch unterschiedliche Positionen zur EU auf die Probe gestellt. Nun haben sich durch den Krieg zusätzliche Gräben aufgetan, weil Ungarn sich nicht auf die Seite der Ukraine gestellt hat. Hat V4 noch eine Zukunft? Von den euro|topics-Korrespondenten Leo Mausbach (Polen), Kornélia Kiss (Ungarn) und Hans-Jörg Schmidt (Tschechien und Slowakei)

Die Ministerpräsidenten Viktor Orbán (Ungarn), Petr Fiala (Tschechische Republik), Eduard Heger (Slowakei) und Mateusz Morawiecki (Polen) auf dem Visegrád-Gipfel in Košice in der Slowakei. (© picture-alliance/AP, Frantisek Ivan)

Vor dem Krieg

Das Visegrád-Bündnis wurde 1991 zwischen Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei gegründet und wird seit der Unabhängigkeit Tschechiens und der Slowakei 1993 auch als V4 abgekürzt. Es sollte seinen Mitgliedern dazu dienen, die Herausforderungen nach dem Ende des Ostblocks und des Kalten Krieges gemeinsam zu meistern. Für die seit 2010 regierenden Fidesz-Regierungen in Ungarn und die seit 2015 regierende PiS in Polen war Visegrád auch deshalb eine besonders geschätzte Kooperation, weil sie im Externer Link: Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit mit der EU auf das Veto des jeweils anderen zählen konnten.

Als Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn am 15. Februar 2021 an die Externer Link: Gründung ihrer Visegrád-Gruppe vor 30 Jahren erinnerten, fiel das Resümee in Prag entsprechend ernüchtert aus. Im Landesecho.cz schrieb Gastkommentator Luboš Palata in Bezug auf die Streitigkeiten mit Brüssel: "Das Bündnis, das gegründet wurde, um die Demokratie und die Westorientierung Ostmitteleuropas zu verteidigen, ist heute das genaue Gegenteil, ein Feigenblatt für die Liquidierung der Demokratie in Polen und Ungarn."

Dem entgegnete Tomáš Procházka in Mlada fronta dnes: "Natürlich ist es heute in Ungarn und Polen um den Rechtsstaat nicht sonderlich gut bestellt. Aber im Kontext eines langfristigen Horizonts der Entwicklung unserer geopolitischen Interessen und Beziehungen in Mitteleuropa ist das irrelevant. Unsere strategischen Verbündeten sind nicht die derzeitigen Regierungen, sondern die Länder an sich - Polen und Ungarn."

In der Slowakei, die sich außenpolitisch üblicherweise an Prag orientiert, beurteilte man den Konfrontationskurs mit Brüssel ebenfalls gelassener. So betonte Ivan Hoffman in Pravda am 11. Dezember 2020: "EU-Gelder sind keine Belohnung für gutes Benehmen, sondern dienen dazu, innereuropäische Ungleichheiten zu glätten."

Mit Russlands Invasion kommt die Entfremdung

Mit der russischen Invasion der Ukraine hat sich die Zusammenarbeit der V4 stark verändert. Denn während Polen, Tschechien und die Slowakei sich ohne zu zögern auf die Seite der Ukraine stellten, besteht Ungarn auf einem Externer Link: neutralen bis russland-freundlichen Kurs.

In Polen führt die fehlende Solidarität Ungarns gegenüber den angegriffenen Nachbarn lagerübergreifend zu einer tief empfundenen Entfremdung. "Es ist also offensichtlich, dass für Orbán Moskau einfach näher ist als Warschau" , kommentiert die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita wenige Tage nach Kriegsausbruch. Sie schlussfolgert: "Die polnische Rechte sollte dringend die Frage beantworten, ob es sich lohnt, ein solches Bündnis aufrechtzuerhalten".

Auch die regierungsnahe Online-Zeitschrift wPolityce.pl spricht davon, dass "die ungarische Distanz zum Krieg in der Ukraine aus polnischer Sicht inakzeptabel" sei, ruft aber gleichzeitig zur Mäßigung der Kritik an Orbán auf. Die beiden Regierungen brauchten einander weiterhin als Bündnispartner im schwierigen Verhältnis zur EU.

Tschechien ist noch weiter von Ungarn abgerückt und kooperiert so eng wie nie mit Polen - sowohl bei der Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen als auch der Lieferung von Waffen für Kyjiw .

In der Slowakei hat der erneute Sieg Orbáns bei der ungarischen Parlamentswahl im April dieses Jahres mit Blick auf dessen Haltung gegenüber Putins Krieg Sorgen ausgelöst. So schrieb Roman Pataj am 5. April in Denník N: "Von nun an gibt es kein Argument mehr dafür, innerhalb der Visegrád-Staaten überdurchschnittliche Beziehungen zu Ungarn aufrechtzuerhalten. … Er (Orbán) hat ein enormes Erpressungspotenzial und das Vetorecht, beispielsweise bei der Genehmigung von Sanktionen gegen den Kreml."

Sorgenfalten auch in Budapest

Dass der Krieg die Kooperation der V4-Staaten gefährdet, ist auch der Regierung Ungarns bewusst. Bei einer Veranstaltung am 18. November 2022 in Budapest wies Viktor Orbán darauf hin, dass es in Tschechien und in der Slowakei die Ansicht gebe, die Zusammenarbeit in der Außenpolitik schrittweise aufzugeben. Auch mit Polen sei die zukünftige Zusammenarbeit nicht einfach. Das konservative Onlineportal Válaszonline schreibt im März 2022: "Trotz all seiner Probleme ist Polen ein verlässliches Mitglied des westlichen Bündnissystems, Orbán hingegen nicht. Da in Polen das Ausmaß der Korruption weitaus geringer ist, die Medien freier sind, die Wahlen sauberer, und mehr Offenheit für die Lösung der Rechtsstaatlichkeitsprobleme herrscht, wird Polen in der Sache der EU-Förderungen wohl ganz anders behandelt werden. Infolge der Feigheit und Putin-Freundlichkeit Ungarns kann sich die polnische Öffentlichkeit gegen Ungarn wenden... [und] wir können die Möglichkeit des polnischen Vetos schnell verlieren. Orbáns moralischer Sturzflug bietet den EU-Politikern die Gelegenheit, Ungarn als einziges Land - getrennt von Polen - mit dem Artikel 7-Verfahren und dem Rechtsstaatsmechanismus zu bestrafen"

Hat das Bündnis noch eine Zukunft?

Die ungarische Regierung setzt trotz der Differenzen weiterhin die größten Hoffnungen in die polnisch-ungarischen Beziehungen. Dementsprechend betont unter anderen die regierungsnahe Tageszeitung Magyar Nemzet am 19. Oktober deren Bedeutung: "Vielleicht hat Polen ernsthafte Vorurteile gegenüber den Russen und eine halbherzige Haltung gegenüber Deutschland, aber es hat angesichts seiner Geschichte allen Grund dazu. … Wichtiger [als diese Unterschiede] ist die Entwicklung der bilateralen Beziehungen, der Visegrád-Zusammenarbeit und die Gewissheit, dass die polnisch-ungarischen Beziehungen, was auch immer in unseren Ländern passiert, so fest sind, dass sie niemals gebrochen, gelockert oder geschwächt werden können."

In Polen ist man sich dessen nicht so sicher. Seit der "Waffenbrüderschaft" mit der Ukraine wird von verschiedenen Autoren von einer engeren polnisch-ukrainischen Zusammenarbeit geträumt, die das Gewicht in der EU (nach einem Beitritt der Ukraine) nach Osten verschiebt: "Regionale Bündnisse sind die Zukunft Polens. Putins Aggression hat etwas zutiefst Faustisches an sich, denn als eine Kraft, die das Böse will, tut sie das Gute. ... Ein Anstoß, der Europa verändern wird" , schreibt Piotr Arak, der Chef des ökonomischen Regierungs-Thinktanks PIE in einem Gastbeitrag für Rzeczpospolita am 14. November. Die liberale Gazeta Wyborcza hingegen ist am 26. August skeptisch: "In Polen kommen zwar Vorstellungen vom Aufbau einer regionalen Macht auf der Grundlage eines polnisch-ukrainischen Bündnisses auf, das Brüssel die Stirn bieten könne, es ist aber an der Zeit, diese Illusionen aufzugeben. Das ist nicht der Traum der Ukrainer, die seit 2014 in Richtung eines vereinten Europas streben."

Der Chefredakteur der Zeitschrift Visegrad Insight, Wojciech Przybylski, drückt in der Wochenzeitschrift Polityka am 13. Mai wiederum seine Hoffnung auf eine gemeinsame Euro-Einführung als neues verbindendes Element der V4-Staaten aus und sieht Polen in einer Schlüsselrolle: "Es liegt auf der Hand, dass sich andere ostmitteleuropäische Länder schnell anschließen würden, wenn Polen den Weg zur Einführung des Euro einschlagen würde. Die Visegrád-Gruppe würde gleichzeitig ihren Zusammenhalt zurückgewinnen und neue Einflussmöglichkeiten erhalten."

Ernüchterung in Kosiče

Schaut man sich allerdings das Presseecho zum jüngsten Externer Link: Treffen der V4 in Kosiče an, das - nach zwei Externer Link: abgesagten Zusammenkünften - am 28. November stattfand, ist von Hoffnung nichts mehr zu spüren. So schreibt die slowakische Sme: "Wir können die Konfrontation mit Orbán und eine Art 'Winterschlaf auf Zeit' für Visegrád nicht vermeiden. Tschechiens Premier Fiala sagte schon vor dem Treffen, der Gipfel werde zeigen, ob die V4-Kooperation angesichts der stark abweichenden Positionen Ungarns derzeit überhaupt Sinn mache. ... Auf diese Frage und auf die, ob Ungarn weiter Geld von der EU bekommen soll, müssen die Premierminister Heger, Fiala und Morawiecki in wenigen Tagen auf dem EU-Gipfel eine klare Antwort finden."

Und die oppositionelle ungarische Népszava bilanziert ernüchtert: "Der Gipfel hatte kein konkretes Ergebnis. Es scheint, als gebe sich niemand mehr der Illusion hin, dass das Visegrád-Forum gerettet werden kann."

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ist Korrespondent bei euro|topics.

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Dipl.-Journalist, geb. 1953; Korrespondent in Prag; Tigridova 11, 140 00 Praha 4/ Tschechien. E-Mail Link: schmidt.prag@gmail.com