Die Sorge vor russischer Aggression ist in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen traditionell groß. 1940 wurden sie von der Roten Armee besetzt, 1944, nach Jahren deutscher Besatzung, in die UdSSR eingegliedert. 1990 wollten sich die baltischen Staaten wieder unabhängig machen. Die Sowjetunion unterdrückte die Proteste zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit brutal, musste im Zuge ihres Zusammenbruchs 1991 aber nachgeben. Nach der Krim-Annexion 2014 war die Sorge im Baltikum groß, dass Russland auch dort angreifen könnte, die verstärkte Stationierung von Nato-Truppen in den Folgejahren milderte diese Befürchtung jedoch.
Als Russland im Sommer 2021 begann, Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammenzuziehen, waren die baltischen Staaten die ersten, die einen Einmarsch für imminent hielten. Während man in anderen EU-Staaten im Januar 2022 diskutierte, ob Russland vielleicht nur blufft und es sinnvoll wäre, auf seine vorgebrachten Sicherheitsbedenken Externer Link: einzugehen, warnte der litauische Außenminister davor, sich auf Verhandlungen mit Putin einzulassen, weil ihm gegenüber nur eine harte Haltung Erfolg haben könnte.
Mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine wurde diese Position schließlich auch in der gesamten EU mehrheitsfähig, wie man in Estland mit Genugtuung wahrnahm. So erklärte der estnische Verteidigungsminister Kalle Laanet am 31. März im Interview mit Saarte Hääl: "Estland ist nicht einfach nur herumgelaufen, hat Angst geschürt oder war russophob. Es war in der Tat eine reale Bedrohung, die sich nun verwirklicht hat. Wir werden nicht nur angeschaut, sondern auch gefragt, wie wir uns verhalten könnten. Unsere Meinung wird angehört und berücksichtigt. Betrachtet man die Sicherheitspolitik in Europa und in der Welt, so ist Estland sicherlich eines der Musterländer."
Die litauische Schriftstellerin Kristina Sabaliauskaitė, Expertin für russische Geschichte und Kultur, schrieb am 22. März in einem Gastkommentar für die niederländische Zeitung De Volkskrant und das litauische Onlineportal Lrt: "Der Einmarsch Russlands in die Ukraine kam für Litauer und Polen nicht unerwartet. … Während ich diese Zeilen schreibe, werden Kinder ermordet; Schulen, Krankenhäuser, UNESCO-geschützte Kathedralen werden wahllos bombardiert. … Es werden Todesstrafe- und Deportations-Listen von Tausenden von Ukrainern erstellt - genau wie zu Zeiten Stalins und Hitlers. Wir in Litauen haben jedoch immer gewusst, dass Russland immer noch zu solchen Dingen fähig ist, denn wir haben 1991 die 'Light-Version' von all dem erlebt, als 'nur' 14 Menschen getötet und fast tausend verwundet wurden."
Und Eesti Päevaleht schrieb anlässlich des Nato-Gipfels in Madrid am 1. Juli 2022: "Grenzland Estland stand auf dem Nato-Gipfel zur Abwechslung einmal im Mittelpunkt des Interesses. … Die Bedrohung durch Russland wird ernst genommen, die Ostflanke der Nato wird gestärkt, die Geschehnisse in der Ukraine werden nicht vergessen, und die Türen des Bündnisses stehen weiterhin für neue Verbündete offen, insbesondere an den Ufern der Ostsee."
Die harte Haltung gegenüber Russland spiegelt sich auch in der Politik der drei Länder seit dem 24. Februar wider. So stoppten Estland, Lettland und Litauen unmittelbar nach dem russischen Angriff sämtliche Lieferungen von russischem Gas.
Externer Link: Litauen unterband zwischenzeitlich den kompletten Transitverkehr zwischen Russland und der Exklave Kaliningrad, gab seine Blockade auf Bitten Brüssels hin aber schließlich auf.
Was Visa für russische Staatsbürger anbelangt, sind Estland, Lettland und Litauen auf einer Linie und haben die Ausstellung von Touristenvisa bis auf weiteres ausgesetzt
Seit Jahren diskutierte Forderungen, den russischen Einfluss in Estland und Lettland weiter zurückzudrängen, wurden nach dem 24. Februar 2022 tatsächlich mehrheitsfähig. Lettland stellte die Ausstrahlung von allen in Russland registrierten Fernsehkanälen ein, in russischsprachigen Schulen muss ab 2025 auf Lettisch unterrichtet werden. Auch in Estland wurde der Übergang von Russisch zu Estnisch als Unterrichtssprache weiter vorangetrieben. Schriftsteller Olev Remsu verteidigt die Verdrängung des Russischen in Eesti Päevaleht am 21. August wie folgt: "In der UdSSR, in einem Land der Lügen und Illusionen, wurde die Kolonisierung als Völkerfreundschaft bezeichnet, und die Menschen, die sich nicht die Mühe machen konnten, in unserem Land ein paar Worte Estnisch zu lernen, betrachteten die Völkerfreundschaft als pures Gold, und das tun sie immer noch. Daher der automatische Glaube, dass das Beharren auf der Kenntnis der estnischen Sprache russophob ist, insbesondere wenn es Anstifter für eine solche Haltung gibt. Zum Glück gibt es unter unseren Russen noch genügend europäisch gesinnte Menschen, die das Recht der Esten auf einen eigenen Staat anerkennen und die die estnische Sprache erlernt haben, denen ich aufrichtig danke."
In Lettland müssen sämtliche Monumente der Sowjetmacht bis zum 15. November dieses Jahres aus dem öffentlichen Raum verschwinden, in Estland bis zum Ende dieses Jahres. Außerdem wurden einige Straßen umbenannt. Die lettische Tageszeitung Diena schreibt am 23. August: "Man bekommt den Eindruck, dass es einen Teil der russischsprachigen Gemeinschaft gibt, der diesen Zusammenhang nicht sieht oder nicht sehen will: dass die Verurteilung [der russischsprachigen Letten] eine Reaktion auf den von Russland begonnenen Krieg ist. Stattdessen neigt man noch mehr dazu, sich als Opfer darzustellen. … Hinzu kommt, dass sich in ganz banalen Alltagssituationen ein Hass auf das Lettische manifestiert, der im multikulturellen Riga selbst während der Konfrontation zwischen Volksfront und Interfront [Volksbewegungen der 1990er Jahre] nicht zu spüren war. Gut, dass ein solcher Eindruck nicht bei allen Russen entsteht, sondern nur bei einem kleinen Teil der russischsprachigen Gemeinschaft."
In Estland ergaben Umfragen