Finnland: Bündnisfreiheit war gestern
vom euro|topics-Korrespondenten für Finnland, Claudius Technau
Finnland galt bis zu seinem im Mai gemeinsam mit Schweden eingereichten Antrag auf die Nato-Mitgliedschaft als neutrales Land. Tatsächlich verstand sich Finnland bis dato aber lediglich als bündnisneutral, da es sich mit seinem EU-Beitritt 1995 bereits nach Westen orientiert hatte.
Ein wesentliches Argument der damaligen Beitrittsbefürworter war, dass schon die EU-Mitgliedschaft die Stabilität und die Sicherheit für Finnland verbessern würde. Entsprechend sah man lange keinen Bedarf, sich einem militärischen Bündnis anzuschließen, zumal Finnland von jeher über eine gut ausgebildete und gut ausgestattete Armee von Wehrpflichtigen und Reservisten verfügt. Stattdessen partizipierte das Land seit 1994 am Programm "Partnership for Peace" der Nato und vertiefte auch sonst seine Zusammenarbeit mit der Organisation. Eine Mitgliedschaft Finnlands in dem Verteidigungsbündnis war für die Mehrheit der Finnen bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine undenkbar. Noch im Januar 2022 sprachen sich laut einer repräsentativen Umfrage der finnischen Rundfunkanstalt Yle nur 28 Prozent der Befragten für den Beitritt aus, während 42 Prozent dagegen waren.
Niinistös Rede war schließlich der Anstoß für die Forderung nach einer offenen, alle Aspekte abwägenden Nato-Debatte. Am 5. Januar 2022 schrieb die in Lappland erscheinende Tageszeitung Lapin Kansa:
"In der neuen Situation muss Finnland die Vor- und Nachteile einer Nato-Mitgliedschaft abwägen und ernsthaft über den besten Zeitpunkt für einen Beitrittsantrag nachdenken. ... Nötig ist eine offene und mutige Debatte über Themen, über die wir bisher eher geschwiegen haben. Die Bedeutung des westlichen Verteidigungsbündnisses ist gewachsen, da sich die EU auch in militärischen Fragen als Papiertiger erwiesen hat. … Die Mehrheit der Bevölkerung hat sich bisher gegen eine Mitgliedschaft ausgesprochen. … Wenn die finnische Führung die Initiative ergreift, könnten die Bürger ihre Meinung schnell ändern."
Letztlich waren es die Bürger, die in dieser Frage die Führung übernahmen und ihre Nato-Position revidierten. Bereits zu Kriegsbeginn befürworteten schon 53 Prozent der Befragten den Beitritt, während ihn nur noch 28 Prozent ablehnten. Bis Anfang Mai stieg die Zahl der Befürworter in der Yle-Umfrage auf 76 Prozent. Die Erklärung für den radikalen Meinungswandel in der Gesellschaft innerhalb weniger Monate lieferte am 12. Mai 2022 die Boulevardzeitung Ilta-Sanomat:
"Für Finnlands künftige Nato-Mitgliedschaft gibt es nur einen einzigen Grund. Russland hat rücksichtslos, rechtswidrig und brutal die Ukraine angegriffen. Seitdem kann kein Nachbarland mehr Russland vertrauen. Schweden wird wahrscheinlich zusammen mit Finnland der Nato beitreten. Russland wird dann mit einem geeinten Norden konfrontiert sein, auf den es keinen Druck ausüben kann."
Schwedens Weg in die Nato: Die Sozialdemokraten schwenken um
von der euro|topics-Korrespondentin für Schweden Anne Rentzsch
Schweden war wie sein Nachbar Finnland lange bündnisneutral. Die Parteien des konservativ-liberalen Spektrums haben sich allerdings seit Jahren für eine Nato-Mitgliedschaft eingesetzt, ebenso wie ein Großteil der Presse - nicht zuletzt die renommierteste Tageszeitung, die liberale Dagens Nyheter. Der Widerstand von Rot-Grün blieb allerdings ebenso hartnäckig wie die Ablehnung von Seiten der Bevölkerungsmehrheit.
Nach Russlands Angriff auf die Ukraine änderte sich die Stimmung im Land schlagartig. "Zwei Tage nach der Invasion sprechen sich erstmals mehr Schweden für eine Nato-Mitgliedschaft als dagegen aus"
Die Furcht, als bündnisfreies Land nicht genügend geschützt zu sein, bestimmte den öffentlichen Diskurs und ließ schließlich sogar die sozialdemokratisch geprägte Boulevardzeitung Aftonbladet als langjährigen Natogegner umschwenken. "Niemals zuvor stand ich einer schwedischen Natomitgliedschaft positiv gegenüber. Die Bündnisfreiheit hat uns gute Dienste geleistet, aber jetzt, angesichts eines aggressiven Russlands, reicht sie nicht mehr aus"
Schließlich vollzogen auch die zu diesem Zeitpunkt regierenden Sozialdemokraten die Wende: Noch Anfang März hatte Ministerpräsidentin Magdalena Andersson ein Abrücken von der traditionellen Bündnisfreiheit ausdrücklich und mit der Begründung abgelehnt, dies würde "die Lage in Europa destabilisieren". Im Mai, nach einem entsprechenden Beschluss des sozialdemokratischen Parteitags, unterschrieb Außenministerin Ann Linde das Beitrittsgesuch. Die Schlagzeilen zum Antrag auf Nato-Mitgliedschaft nahmen sich überwiegend positiv aus: „Endlich wird Schweden ein normales Land“, freute sich Anna Dahlberg in Expressen. Man werde das „ständige Lavieren zwischen Ost und West aufgeben“ und sich nicht zuletzt von seinem "aufgeblasenen Selbstbild" verabschieden müssen.
Österreich: Neutral und ziemlich wehrlos?
vom euro|topics-Korrespondenten für Österreich Lukas Kapeller
21 von 27 EU-Staaten sind Mitglieder der Nato. Mit Schweden und Finnland werden es 23 sein, also alle außer Irland, Malta, Zypern – und Österreich. Wien sendet bisher auch keine Signale, dem Nordatlantikpakt beitreten zu wollen.
Die Neutralität Österreichs besteht seit dem Jahr 1955. Österreich, das unter dem Jubel nicht unbeträchtlicher Teile der Bevölkerung 1938 von Nazi-Deutschland einverleibt wurde, war nach 1945 unter den alliierten Besatzungsmächten USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich aufgeteilt. Um als Staat wieder seine Souveränität zu erlangen, bedurfte es auch der Zustimmung Moskaus – ein entscheidender Punkt dabei war Österreichs Bekenntnis, fortan ein neutraler Staat zu sein
Im österreichischen Neutralitätsgesetz vom 26. Oktober 1955 heißt es, das Land erkläre "aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität". Österreich werde "diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen".
Seit dem 24. Februar 2022 stellen sich in der Alpenrepublik allerdings Fragen: Ist die Neutralität noch berechtigt und überhaupt erfüllbar? Hat Österreich mit seinem schwach finanzierten Bundesheer im Ernstfall die militärischen Mittel, sich zu verteidigen? Österreichische Militärs warnen seit Jahrzehnten, dies sei definitiv nicht der Fall. Auch die Presse übt Kritik, wie etwa Christian Böhmer im Kurier am 28. März: "Österreich hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verdammt gemütlich in seiner Neutralität eingerichtet – freilich ohne die unangenehme Kehrseite des Modells anzuerkennen. Denn wer nicht Teil eines Militärbündnisses sein will oder darf, der muss – eigentlich logisch! – aus eigener Kraft in der Lage sein, sein Staatsgebiet und seine Bürger zu verteidigen. … Österreich hat die Armee derweil fast totgespart und sich hanebüchene Diskussionen geleistet."
Trotz des Angriffs Russlands auf die Ukraine wird in Österreich weder eine intensive Debatte über einen Nato-Beitritt noch über die Sicherheitspolitik im Allgemeinen geführt. Im Jahr 2001 hatte der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) noch vorsichtig am Dogma der österreichischen Neutralität gerüttelt: "Die alten Schablonen – Lipizzaner, Mozartkugeln oder Neutralität – greifen in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr", sagte er damals. Heute sprechen sich die drei größten Parteien, die ÖVP unter Kanzler Karl Nehammer, die Sozialdemokraten und die rechtspopulistische FPÖ, allesamt gegen einen Nato-Beitritt aus. Auch dazu findet sich Kritik in der Landespresse: "Der Ukraine-Schock reißt den Kontinent aus dem Schlaf. Nur ein Land döst weiter, als ob nichts geschehen wäre: Österreich. Die Neutralität bleibt unangetastet, obwohl klar ist, dass sie nicht schützt. Die Beistandsklausel in Artikel 42 des EU-Vertrags ist schön und gut. Im Ernstfall muss die Republik auf Artikel 5 des Nordatlantikvertrags hoffen, auf den Schutzschirm umliegender Nato-Staaten. Da stellt sich schon die Frage, was eigentlich Österreichs Beitrag ist. Denn die außenpolitische Bedeutung der Neutralität hat eher schimärenhaften Charakter, wie der erfolglose Besuch des Bundeskanzlers bei Russlands Präsident Putin gezeigt hat", schreibt Christian Ultsch in der Tageszeitung Die Presse am 23. April.
Eine flüchtige Verteidigungsdebatte wurde im März von einigen ÖVP-Politikern aus der zweiten Reihe angestoßen. Friedrich Ofenauer, ÖVP-Wehrsprecher im Parlament, sagte damals, es "muss über die österreichische Neutralität und ihre Ausgestaltung ernsthaft diskutiert werden". Der ehemalige Nationalratspräsident Andreas Khol (ÖVP) warnte: "Ein angegriffener bündnisloser oder neutraler Staat bleibt allein und wird zum Opfer." Nehammer wollte aber, wohl mit Blick auf Umfragen, keine Diskussion wie in Schweden oder Finnland und richtete seinen Parteifreunden postwendend aus, Österreich werde in jedem Fall neutral bleiben, die Debatte sei beendet.
Im Mai ergab eine Umfrage des Instituts für Demoskopie und Datenanalyse, dass nur 14 Prozent der Österreicher für einen Nato-Beitritt sind, während 75 Prozent einen solchen ablehnen.