Erst die Frage nach dem Grexit, nun der Streit um die Flüchtlingspolitik und ein möglicher Brexit – Ist die europäische Integration gescheitert?
Die Interner Link: Europäische Integration oder auch die Interner Link: Europäische Union (EU) ist nicht gescheitert, aber sie befindet sich in einer schwierigen Situation. Wenn wir allerdings nur auf die Probleme sehen, übersehen wir, dass sehr Vieles im Normalbetrieb weitergeht, das Entscheidungssystem vom Interner Link: Rat und Interner Link: Europäischen Parlament sowie die Initiativrolle der Interner Link: Europäischen Kommission funktionieren. Wir betrachten vor allem die Defizite in bestehenden Politikfeldern, der Interner Link: Eurozone und dem Interner Link: Schengen-Raum. Aber das größte Problem, vor dem die EU steht, ist aus meiner Sicht ihre Interner Link: Legitimität und das fehlende Vertrauen in sie. Hier hat ein Wandel über die vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre stattgefunden. Das Problem ist zumindest in diesem Ausmaß neu, weil hier eben nicht nur die EU als Löser von Problemen in Misskredit geraten ist, sondern sich vielmehr die Frage stellt: Ist das gesamte politische System, das mit Brüssel verbunden wird, in den Augen der Bürgerinnen und Bürger überhaupt anerkennungswürdig? Das macht die neue Qualität der Probleme aus, vor denen die EU heute steht.
Was kann man dagegen tun? Wo sollte man ansetzen?
Ich sehe die Probleme der europäischen Integration im Kontext der Krise der Interner Link: repräsentativen Demokratien in den Mitgliedstaaten. Insofern ist die Lage in der Tat bedenklich. Aus meiner Sicht muss man in den Mitgliedstaaten ansetzen, weil dort hauptsächlich die Interner Link: Legitimität für Entscheidungen im EU-Mehrebenensystem generiert wird.
Wie ist das mit fehlenden europäischen Narrativen? Können sie ein Mittel gegen die wachsende Euroskepsis sein?
Da bin ich skeptisch. Ich glaube nicht, dass es sehr fruchtbar ist, jetzt von oben nach unten neue Interner Link: Narrative für die EU zu konstruieren. Vielmehr meine ich, dass die ursprünglichen Gründungsmotive weiterhin relevant sind, aber wir Antworten aus unserer Zeit benötigen. Wenn wir zurückblicken: Dauerhafter Frieden bleibt ein Motiv. Natürlich sind auch der Wohlstand, der Zugang zu Erwerbsarbeit und zu besseren Lebensperspektiven wichtige Punkte. Nicht zu vergessen die Selbstbehauptung Europas in der Welt, denn wir wollen Regeln regional und global mitgestalten. Ich glaube nach wie vor, dass dies zusammengenommen ein ausreichender rationaler Grund ist, die EU als Handlungsrahmen und politisches Gemeinwesen wertzuschätzen. Ich glaube jedoch nicht, dass man durch einen verordneten Kosmopolitismus oder Europäismus weiter kommt. Stattdessen müssen die Negativentwicklungen, aber auch die Gestaltungsmöglichkeiten durch die EU sehr viel genauer dargelegt werden, ohne künstlich neue Narrative zu kreieren.
Welche Alternativen zu "mehr Integration" gibt es für die EU?
Ich fange mal damit an, was für einzelne Länder eine Alternative sein mag: Das ist eben, auszusteigen. Länder außerhalb der EU suchen aber oft eine sehr enge Anbindung an sie. Beispiele sind die Schweiz oder Norwegen. Es gibt also nach wie vor eine große Anziehungskraft der EU auf Nachbarn. Die Frage ist, inwieweit man sich nur an Teilbereichen und insbesondere nur an wirtschaftlichen Integrationsbereichen beteiligen kann, aber bei politischer Integration, bei den Entscheidungsverfahren oder bestimmten Formen von Lastenteilung außen vor bleiben kann. Großbritannien hat das als Mitglied schon sehr weit getrieben. Es existiert innerhalb der EU ein großes Spektrum von unterschiedlichen Beteiligungsmöglichkeiten, sodass es bereits abgestufte Integrationstiefen für die einzelnen Mitgliedstaaten gibt. Und natürlich besteht die Möglichkeit des Rückzugs auf den Nationalstaat, der in einem Netzwerk von bilateralen Beziehungen versucht, seine Außenbeziehungen zu regeln. Aber ansonsten gibt es keine Alternative, die nicht doch eine starke Rolle der EU vorsieht. Das heißt auch, die Abhängigkeit der Länder, die die EU verlassen, wird aus meiner Sicht groß bleiben.
Am 23. Juni entscheiden die Briten, ob sie weiterhin in der EU bleiben oder diese verlassen. Warum kommt es nach Jahrzehnten der Debatte um ein "In" oder "Out" nun zum Referendum?
Die einfache Antwort wäre, dass es das Geschick oder Missgeschick eines Regierungschefs gewesen ist, das Land in eine solche Entscheidungslage hineinzuführen. Aber wichtig ist natürlich, dass in der Tat ein längerer Prozess zur Interner Link: Entfremdung Großbritanniens von der EU führte. Schon der Beitritt 1973 beruhte entweder auf einem Missverständnis oder einer Selbsttäuschung der Briten, die im Grunde genommen das Ziel hatten, ausschließlich dem gemeinsamen Markt beizutreten. Auch in den Folgejahren haben britische Regierungen mit ganz wenigen Ausnahmen gegenüber ihrer Wählerschaft vor allem die wirtschaftliche Argumentation betont: "Mitgliedschaft ist wirtschaftliche Integration. Und das ist auch, was wir aus der Mitgliedschaft herausholen wollen." Dass Großbritannien sehr wertvoll war in der Entwicklung der gemeinsamen Sicherheitspolitik, dass Großbritannien auch seinen – wenn auch eher ungewollten – Anteil hatte an der Einführung Interner Link: qualifizierter Mehrheitsentscheidungen, wurde hingegen nicht kommuniziert. Dadurch ist ein völlig überholtes Bild der heutigen EU gegenüber der eigenen Bevölkerung gezeichnet worden.
Welche Folge hätte ein Ausstieg Großbritanniens auf das Gesamtgefüge der EU? Wie wahrscheinlich wäre eine Kettenreaktion von Austritten?
Ich glaube nicht, dass sich mehrere Länder anschließen und ebenfalls den Interner Link: Artikel 50 des Vertrags von Lissabon anrufen werden. Aber es wird auch einiges davon abhängen, wie die EU damit umgeht, ob sie eine harte oder eine weiche Strategie gegenüber dem Austrittskandidaten Großbritannien betreiben wird. Wie werden die Arrangements aussehen? Und welche Signale werden damit nach innen gegeben? Ermutigt die EU andere Mitgliedstaaten zu pokern, ermutigt sie Länder zu drohen: Dann treten wir auch aus. Oder werden hier Korridore aufgemacht, um für sich bessere Bedingungen auszuhandeln? Dass der Brexit ein Impetus sein kann, ist nicht auszuschließen. In jedem Falle wird sich die Diskurslandschaft noch einmal verändern. EU-Skeptiker und EU-Gegner erhalten Auftrieb. Außerdem, ganz unabhängig davon, welches funktionale Interner Link: Arrangement man für die Wiederanbindung eines Drittstaats Großbritannien findet, wird die EU zuerst einen erheblichen Verlust ihrer Interner Link: soft power zu verzeichnen haben. Denn von außen wird Folgendes wahrgenommen: Ein großes außen- und sicherheitspolitisch wichtiges Land, eine große Handelsnation mit globaler Reichweite kehrt der EU den Rücken zu, weil die Bürgerinnen und Bürger sagen: Wir wollen da nicht mehr Mitglied sein. Das ist ein Reputations- und Statusverlust für die EU, den man zwar wieder aufholen kann, der aber zuerst einmal ein Einschnitt ist.
Was würde das bedeuten? Würde sich der Reputationsverlust auch in ganz handfesten Folgen äußern?
Wir werden auf der internationalen Bühne klare Folgen sehen: Im Interner Link: Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben wir mit Großbritannien und Frankreich im Moment zwei europäische Staaten als ständige Mitglieder, die sich abstimmen und Loyalitätspflichten gegenüber der EU haben sollten. Nach einem Austritt Großbritanniens bliebe nur Frankreich übrig. Ohne Großbritannien ist das Gewicht der EU z.B. auch in den Interner Link: G7 geringer. Ein Austritt wird zudem die interne Machtbalance in der EU verändern und das wird auch im Auftreten nach außen Bedeutung gewinnen, wenn etwa durch Frankreich andere Akzente gesetzt werden. Auch im sicherheitspolitischen Bereich wird es ohne Großbritannien ein potentes Land weniger in der EU geben.
Großbritannien hat sich über die Jahrzehnte einen Sonderstatus erarbeitet. Wie viel Sonderausnahmen verträgt denn die Union?
Das weiß man nicht. Man kann sogar bezweifeln, dass es bis jetzt gut gegangen ist. Wir sehen nur, dass die Differenzierung ein Begleitphänomen aller Vertiefungsschritte seit Interner Link: Maastricht ist. Es ist keine einzige Vertragsrevision zustande gekommen, ohne besondere Regelungen für einzelne Länder zu finden. Es ist auch nicht gelungen, neue Politikfelder aufzumachen, ohne Opt-Outs oder andere Differenzierungsmöglichkeiten zu bieten – und sei es nur im Sinne von unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Empirisch kann man nicht feststellen, wie weit das noch getrieben werden kann. Ich glaube aber, dass man das Instrument der Differenzierung mit Vorsicht anwenden sollte, vor allem weil wir es im Moment mit einer Präferenz für den Rückbau von Integration zu tun haben. Differenzierung ist etwas, das man sich leisten kann, wenn es einen Kern gibt, der in der Lage ist, den Acquis zu stemmen und den Zusammenhalt zu schaffen. In einer angeschlagenen EU führt die immer stärkere Differenzierung zu einem sehr, sehr starken Ausfransen und das dann in der Tat zu einer anderen Europäischen Union, die nur noch aus variabler Geometrie und ad-hoc-Koalitionen besteht. Das heißt die Differenzierung ist kurz gesagt nicht das Allheilmittel, um den Desintegrationstendenzen begegnen zu können.
Ihre Prognose: Wie entwickelt sich die EU als Handlungsgemeinschaft weiter: Integration, Differenzierung, Desintegration?
Eine dosierte Differenzierung haben wir seit 20 Jahren. Die Frage ist: Wann ist der Kipppunkt erreicht? Von den Prioritäten her geht es jetzt darum, die Kräfte des Zusammenhalts zu stärken, was sogar bedeuten kann, dass man aus Klugheit vielleicht die Integrationstiefe in bestimmten Politikfeldern wieder reduziert. Es kommt wie immer auf das Maß und die Interessenbalance an, die man unter 28 findet. Ich bin davon überzeugt, dass es weitere Integrationsschritte geben wird. Die Handlungsfelder sind auch schon ziemlich klar: Das ist einmal die weitere Vertiefung der Interner Link: Währungsunion, das ist der gesamte Bereich des Binnenmarkts, die digitale Agenda etc. Das sind die Fragen nach der sozialen Dimension und der Transfer innerhalb der Eurozone sowie das neue große Feld der inneren Sicherheit. In vielerlei Hinsicht gibt es hier eine Sachlogik hin zu mehr Integration und echter Kompetenzübertragung auf die EU. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass wir jetzt schnell zu größeren Vertragsreformen kommen. Diese Integrationsschritte werden sich wahrscheinlich über einen längeren Zeitraum entwickeln. Als Gegengewicht bleibt der Souveränitätsreflex der Mitgliedstaaten. Hier werden starke Vorbehalte weiterhin existieren. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass in den Mitgliedstaaten über europapolitische Themen argumentativ gestritten wird, auch über die Frage: Wohin soll es gehen? Das verlangt, dass diejenigen, die für mehr Integration eintreten, gute Argumente haben und sich mit den Gegenpositionen auseinandersetzen und dass man Alternativen aufzeigt, auch im Spektrum von Integrationsbefürwortern. In der Vergangenheit ist aber die Diskussion so nicht geführt worden, sondern in einer Frontstellung: "Bist du für oder gegen die europäische Integration?" Ich glaube, dass eine Diskussion wichtig ist, auch damit sich die Bürgerinnen und Bürger wieder stärker mit der Wirklichkeit auseinandersetzen und sich keinen Illusionen hingeben, dass die Rückkehr zur nationalen Interner Link: Souveränität zugleich die Lösung der Probleme bietet.
Das Interview führte Sinah Grotefels.