Wir unterscheiden im Deutschen zwei Worte: Gedächtnis und Erinnerung. Das Erinnern vollzieht man als einzelner Mensch, wenn man Erfahrungen hat, die man verarbeitet, über die man nachdenkt und die man sich wieder zurückruft – und die man vor allem auch mit anderen Menschen teilt. Die Soziologen haben festgestellt, dass in dem Maße, wie wir uns erinnern, wie wir Erinnerungen erzählen und weitergeben, wir sie auch in uns aufbauen. Es gibt aber auch größere Wir-Gruppen. Eine Wir-Gruppe ist z.B. die Nation in der wir leben, und die Nation bildet auch so etwas wie ein Gedächtnis aus: Ein Programm, eine Selbstbindung, eine Form, die Vergangenheit präsent zu halten, von der man glaubt, dass man auf sie nicht verzichten kann, weil man sie für die Gegenwart und für die Zukunft braucht.
Während die Historiker sich in der Vergangenheit tummeln und alles Mögliche erforschen und sich aneignen, ist die Vergangenheitskonstruktion auf der Ebene der Nation sehr selektiv. Im kollektiven Gedächtnis herrscht Platzmangel. Es ist immer eine Entscheidung, was hinein kommt, die mit einem starken normativen Wert verbunden ist. Wir identifizieren uns dadurch, es ist Teil unserer Identität. Deswegen können wir auch in diesem Zusammenhang von einem Gedächtnis sprechen.
Möglichkeiten der Teilhabe sind auf der Ebene der Nation Jahrestage. In Deutschland gibt es seit 1996 den 27. Januar als einen Jahrestag im kollektiven Gedächtnis der Deutschen: die Befreiung von Auschwitz. Es gibt weitere Jahrestage, die mehr oder weniger formell sind. So hat der 3. Oktober überhaupt keine historische Relevanz. Der 9. November hingegen ist ein Datum, das im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, im Erfahrungsgedächtnis noch verankert ist, und zwar auf vielfältige Weise. So steht dieses Datum u.a. auf der einen Seite für den der Tag des Mauerfalls und damit einer friedlichen Revolution. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch das Datum der Reichspogromnacht, also ein Tag der Gewalt.
Deutschland ist natürlich keine selbstgenügsame Einheit, sondern Teil der Europäischen Union. Die Frage ist deswegen, ob auch diese Union so etwas wie ein gemeinsames Gedächtnis ausbildet. Ich persönlich dachte am 8. Mai des letzten Jahres [2005; Anm. d. Verf.] sehr stark daran, ob nicht der 8. Mai zu so etwas werden kann wie ein europäisches Datum. Der 8. Mai ist ein Datum, das man aus vielen Perspektiven erlebt hat, an dem man sich trifft und die individuellen, partikularen Erfahrungsgedächtnisse kombinieren kann mit einer gemeinsamen Vision für die Zukunft. Das wäre ideal, da Deutschland dabei ist, diesen Tag nicht mehr als Katastrophe und Niederlage zu bewerten, sondern als Tag der Befreiung.
Das Problem dabei wäre jedoch, dass man nicht berücksichtigt, dass es eine Art Nachgeschichte des Zweiten Weltkriegs gibt, und zwar durch die Okkupationen in Osteuropa und die Dikaturen, die dort entstanden sind, sodass man nicht sagen kann, dass dieses Datum generell für Europa gleichermaßen als Tag der Befreiung gefeiert werden kann, weil er nämlich auch schon wieder einen Teil der Unfreiheit eröffnet. Mit anderen Worten: Man muss überlegen, ob man etwas finden kann, wo sich alle treffen. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man geht ganz weit zurück in die Geschichte und schaut nach den Wurzeln der europäischen Kultur, so. z.B. Mittelmeerraum oder christliches Abendland oder jüdisch-christliche Kultur und Traditionen; oder aber es geht darum, die verworrenen und zerstrittenen Erinnerungen miteinander auszugleichen.
Interessant ist auch die Frage, ob es auf transnationaler, über Europa hinausgehender Ebene Erinnerungspunkte in der Vergangenheit gibt, die man für eine Art von Weltgesellschaft relevant machen könnte. Der Holocaust wird für Europa eine zwingende und bindende Erinnerung sein. Die Frage ist: Wie sieht es in anderen Ländern aus, die eine ganz andere Geschichte hatten? Ich denke z.B. an die Traumata der Kolonialisierung. Die postkoloniale Geschichte hat gezeigt, wie sich diese Nationen von der Kolonisierung befreit haben, nämlich durch Zerschlagung ihrer eigenen Kulturtraditionen und eine Form der Enteignung. Diese Traumata sind von anderer Qualität und können nicht alle unter der Chiffre des Holocaust subsumiert werden [Anm. d. Verf.: Frau Assmann bezieht sich hier auf Äußerungen auf dem Podium, in denen Redner berichtet hatten, dass in China die so genannte Kulturrevolution und die damit verbundene Ermordung politischer Gegner mitunter mit dem Holocaust verglichen werde].
Der Punkt ist deswegen, dass der Holocaust nicht als Erinnerungsdatum fungiert, sondern als ein Symbol für ein Trauma, das grundsätzliche Bedeutung hat und das die Zukunft der Menschen prägt in dem Sinne, dass man aus ihm die Leere zieht, Menschenrechte zu entwickeln und auch die eigenen Traditionen zu schützen, also eine Stärkung des Einzelnen erreicht innerhalb einer globalisierten Weltgesellschaft. Das könnte mit der Chiffre des Holocaust auch in den Kulturen möglich werden, die selbst nicht an dieses [Anm. d. Verf.: deutsche und europäische] Erfahrungsgedächtnis gebunden sind.
Redaktion: Matthias Jung
Kamera und Schnitt: Jörg Pfeiffer
Das Interview entstand im Rahmen der Veranstaltung "China zwischen Vergangenheit und Zukunft" vom 22.-24. März 2006.