Die deutsche Erinnerungskultur zielt über die Vermittlungen des Geschichtsunterrichts, der politischen Bildung, der Gedenkstättenpädagogik, der Medien und des weiten pädagogischen Feldes der Holocaust Education auf eine historisch-moralische Bildung ab, die zum einen Nationalsozialismus und Holocaust historisch verständlich machen, zum anderen Persönlichkeiten bilden soll, die sich gegenüber massen- oder völkermörderischer Gewalt widerständig verhalten können. Erklärte Erziehungsziele sind das Einüben von Demokratiefähigkeit und die Entwicklung von Zivilcourage.
Diese erinnerungspolitische Zielformulierung teilt die Bundesrepublik mit einer Reihe europäischer wie nichteuropäischer Staaten. Ihren gleichsam offiziellen Gründungsakt erfuhr diese erinnerungskulturelle Perspektivierung mit der internationalen Holocaust-Konferenz, die im Januar 2000 in Stockholm stattfand. Gemeinsam mit den USA, Großbritannien, Israel und Deutschland hatte Schweden 1997 die Task Force on International Cooperation ins Leben gerufen, die unter anderem jene Konferenz initiierte, bei der sich Vertreterinnen und Vertreter aus 45 Ländern in Stockholm trafen. Die Teilnehmenden kamen aus der Politik, der Wissenschaft, aus Institutionen der pädagogischen Geschichtsvermittlung sowie aus Organisationen von Überlebenden des Holocaust. Am letzten Konferenztag wurde eine Erklärung verabschiedet, in der sich die Beteiligten unter anderem dazu verpflichten, "Erziehung, Gedenken und Forschung über den Holocaust zu fördern", "der Opfer des Holocaust zu gedenken und die zu ehren, die sich dagegen verhalten haben".
Dieser Gründungsakt einer transnationalen Erinnerungskultur fiel in den meisten europäischen Ländern mit einer neuen Geschichtsbezogenheit zusammen, in deren Zentrum der Holocaust, der Zweite Weltkrieg, die Vertreibungen und schließlich auch die Kollaboration standen und noch stehen. Der Generationenroman erlebt eine europäische Renaissance, Geschichtsfeatures haben ebenso Hochkonjunktur wie die Figur des Zeitzeugen, und eine ganze Generation wurde neu erfunden, die der "Kinder des Weltkriegs", die heute im Rentenalter sind und sich auf die Suche nach den Ursachen ihrer "frühen Traumatisierungen" machen. Es hat sich ein Kult des Leidens und der Opferschaft zu etablieren begonnen, der Ansprüche an eine eigene, dann wieder nationale Erinnerung am besten zu begründen scheint.
In diesem Spannungsfeld universalistischer und nationaler Erinnerungen ist Erinnerungspolitik zu einem immer wichtigeren politischen Handlungsfeld geworden. Bezugnahmen auf gefühlte und reale Vergangenheiten haben weit reichende Folgen für die Begründung kultureller und sozialer Zugehörigkeiten und wirken sich auf die Verhandlung politischer Positionen aus. Zudem ergibt sich die Frage, ob ein "europäisches Gedächtnis" zwingend für einen gelingenden Integrationsprozess ist oder ob das künftige Europa ohne eine solche mentale Gemeinschaftsstiftung auskommt bzw. auskommen muss, weil seine Erinnerungslandschaft zu heterogen und pluralistisch ist. Nach wie vor kommt dem Zweiten Weltkrieg bzw. der deutschen Besatzung in den meisten europäischen Ländern eine herausragende Bedeutung zu, wenn es darum geht, die eigene Identität und den daran gebundenen Wertekonsens zu bestimmen.
Nationale und transnationale Erinnerungskulturen
Fragen der Tradierung von Geschichte und die Konstruktion von Vergangenheitsbildern haben stets eine wichtige Rolle für die Selbstvergewisserung von Individuen, gesellschaftlichen Gruppen, Institutionen von Herrschaft, Staaten und Nationen gespielt. Dies wird besonders in Umbruchzeiten deutlich, wenn Herrschaftsansprüche und Mechanismen zur Herrschaftsstabilisierung aus neu oder wieder "erfundenen Traditionen" begründet und mit einer neu konstruierten Geschichte abgesichert werden.
Die Neubewertung der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs, der Besatzungszeit, der Kollaboration, der Vertreibung und des Widerstands gehört zu den zentralen Themen öffentlicher Diskurse in allen europäischen Gesellschaften. Das verwundert nicht: Der Umstand, dass alle westeuropäischen Gesellschaften inzwischen Einwanderungsgesellschaften sind, bringt die Notwendigkeit der Entwicklung einer transnationalen Erinnerungskultur mit sich. Die osteuropäischen Transformationsgesellschaften haben erhebliche Selbstvergewisserungsbedürfnisse und sind auf der Suche nach einer integrativen Geschichte, wobei es hauptsächlich Opfernarrative sind, die diese Suche anzuleiten scheinen. In den westeuropäischen Gesellschaften, die ihrem Selbstverständnis nach nicht von ähnlich tief greifenden Transformationen gekennzeichnet sind, scheint das erhöhte Bedürfnis nach Selbstvergewisserung über die Vergangenheit eher die Folge einer erheblichen Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft zu sein – die sich angesichts sich verschärfender Wirtschaftskrisen noch vertiefen dürfte.
In diesem unübersichtlichen erinnerungskulturellen Gelände bilden sich transnationale Erinnerungsräume
Mediale Repräsentationen gehen in eine internationale Ikonografie des Holocaust ein, der über nationale Geschichtskulturen hinweg zum gemeinsamen Referenzpunkt wird. Er steht für das inzwischen weltweit anzutreffende Paradigma einer Beschäftigung mit, wie Reinhart Koselleck es genannt hat, "negativer Geschichte", das seinerseits konfliktträchtig ist. Befürchtungen, die Beschäftigung mit den dunklen Seiten der eigenen Geschichte sei kontraproduktiv für die Stabilität einer Nation, haben sich für Deutschland langfristig als unzutreffend erwiesen. Jene, die zunächst auch in Opposition zum Staat für die Erinnerung an die Verbrechen eintraten, haben den Grundstein zu einer differenzierten Erinnerungslandschaft gelegt, die ausgesprochen positive Effekte für die Außenwahrnehmung Deutschlands hatte. Zugleich, und hier zeigt sich ein psychologisches Problem, haben noch immer viele Menschen Schwierigkeiten mit der prominenten Rolle, die der Holocaust im öffentlichen Gedächtnis Deutschlands einnimmt. Und schließlich treten Nationalsozialismus und Holocaust mit dem Verschwinden der Zeitzeugengeneration in den Aggregatzustand des kulturellen Gedächtnisses und der Historisierung. Die Erinnerungen daran werden kalt, die Aushandlungen weniger emotional.
Es gibt tiefe Unterschiede in den jeweiligen nationalen Basiserzählungen über den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust, die Kollaboration und den Widerstand. In Deutschland ist diese Erzählung tendenziell metanarrativ angelegt - sie ist immer auch eine Auseinandersetzung damit, wie man Geschichte erzählen kann und wie nicht, wogegen sich in den anderen Ländern Erzählstrukturen finden, die viel stärker als nationale Geschichtsschreibung konturiert sind. Solche unterschiedlichen Modi historischer Kommunikation können einen gemeinsamen europäischen Geschichts- und Lernraum viel stärker behindern als unterschiedliche Bewertungen historischer Ereignisse.
Private und öffentliche Erinnerungskulturen
Die Vermittlungen zwischen privater und öffentlicher Erinnerung pluralisieren sich. Dabei hat die in noch vor der Jahrtausendwende in Deutschland durchgeführte Untersuchung "Opa war kein Nazi"
Individuen gehören unterschiedlichen Erinnerungsmilieus an, wie sie durch Familien, lokale Gemeinschaften, Interessengruppen, pädagogische Rahmenvorgaben und nicht zuletzt durch die Massenmedien geschaffen werden. In Familien und kleinräumigen Erinnerungsgemeinschaften sind es gerade nicht die großen Erzählungen, sondern die kleinen, profanen Geschichten über partikulare Ereignisse und persönliche Erlebnisse, aus denen das gemeinsame Gedächtnis gebildet ist und in denen es sich tradiert.
Bislang ist die Bedeutung der Weitergabe von Vergangenheitsvorstellungen durch direkte Kommunikation, etwa in der Familie, gegenüber den Effekten pädagogischer Geschichtsvermittlungen erheblich unterschätzt worden. Was in der Familie beiläufig und absichtslos, aber emotional nah und damit immer auch als etwas vermittelt wird, was mit der eigenen Identität zu tun hat, kann andere Vorstellungen erzeugen als das, was über dieselbe historische Zeit in der Schule als Wissen vermittelt wird - und es kann für die Geschichtsdeutung wirksamer sein. Man kann diese Diskrepanz als Unterschied von "Album" und "Lexikon" bezeichnen, wobei deutlich ist, dass die emotional grundierte Vergangenheitsdarstellung des Albums zugleich auch eine Grenze der Wissensvermittlung durch Bildungsinstitutionen markiert: Der Gebrauch des Geschichtswissens bestimmt sich nach Deutungsrahmen, die jenseits der Institutionen entstanden sind. Dieser Befund wird noch bedeutsamer, wenn die Abnehmerinnen- und Abnehmergruppen der Bildungsangebote soziokulturell heterogen zusammengesetzt sind. Und schließlich wird das vermittelte Wissen je nach sozialer Konfiguration - Familiengespräch, politische Diskussion, Gedenkstättenbesuch - unterschiedlich eingesetzt.
Modernisierung der erinnerungskulturellen Praxis
Da sich die Aneignungsformen von Geschichte mit den Generationen und dem Zeitabstand zu den Ereignissen beständig verändern, kann man die bislang erfolgreiche Erinnerungs- und Vermittlungspraxis nicht einfach fortschreiben, sondern muss sie beständig modernisieren. Besonders wichtig ist die zeitnahe Auswertung neuer wissenschaftlicher Fragestellungen und Ergebnisse für pädagogische Handlungsfelder. So können neuere Erkenntnisse zur breiten Zustimmung der Bevölkerung zur nationalsozialistischen Politik oder zur Tötungsbereitschaft "ganz normaler Menschen" einleuchtende Gegenwartsbezüge und Anschlüsse an die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern herstellen. Auch hier erwachsen aus der multikulturellen Zusammensetzung der Schulklassen neue Anforderungen an Geschichtspädagogik und Gedenkstättenarbeit.
In diesem Zusammenhang fällt schmerzlich auf, dass es trotz der breiten öffentlichen Verankerung des Erinnerns und Gedenkens und der Etablierung entsprechender Orte und Anlässe bisher nicht gelungen ist, Vermittlungen zwischen der Holocaust- und Völkermordforschung und den Praxisfeldern Schule, politische Bildung, Stiftungen und Gedenkstätten systematisch zu verankern. Vieles hängt von individuellen Initiativen und Programmen ab, und wissenschaftliche Befunde, die für pädagogische Handlungsfelder wichtig sind, werden nicht systematisch an Anwender gebracht, sondern, falls überhaupt, durch engagierte Pädagogen abgerufen und in die pädagogische Arbeit zu implementieren versucht. Das hat häufig nicht nur die Vermittlung veralteten Wissens zur Folge, sondern auch eine generationsfixierte Ritualisierung, ja Versteinerung der pädagogischen Angebote, welche die emotionale Dimension des Geschichtsbewusstseins heutiger Rezipienten völlig vernachlässigen.
Zusammengefasst ergibt sich im europäischen Vergleich ein erheblicher Bedarf nach verbesserten Schnittstellen zwischen Wissenschaft und politischer Bildung, in denen Vermittlungsangebote auf dem Niveau des aktuellen Forschungsstands für unterschiedliche Abnehmergruppen entwickelt, koordiniert und angeregt werden. Während in vielen anderen europäischen Ländern in den vergangenen Jahren Zentren und Institute für Holocaust- und Genozidforschung (z.B. Kopenhagen Peace Research Institute; Holocaust Senteret Oslo) eingerichtet wurden, gibt es eine solche Einrichtung, die Forschung und Vermittlung integriert, ausgerechnet in Deutschland bislang nicht. Obwohl sich die deutsche Geschichtswissenschaft sehr intensiv mit Fragen der Holocaust- und Völkermordforschung befasst hat, ist die Vermittlungslandschaft weitgehend unkoordiniert geblieben.
Die Entwicklung modernisierter Konzepte der erinnerungskulturellen Arbeit leidet unter einem weiteren zentralen Defizit: Bislang ist die Wirkungs- und Rezeptionsforschung systematisch vernachlässigt worden. Das eklatante Defizit zeigt sich insbesondere im Vergleich zu Museen und speziell zu Geschichtsmuseen, die schon lange systematisch zu diesen Fragen forschen oder, wie etwa das Jüdische Museum Berlin, eigene Abteilungen für Besucherforschung unterhalten. Seit vielen Jahren wird über eine bundesweite Evaluation zumindest der großen Gedenkstätten gestritten. Dabei werden die Besonderheit der Gedenkstätten und ihre Vergleichbarkeit mit Museen ins Feld geführt. Ebenso herrscht Uneinigkeit, ob der Messung von Besucherströmen größere Aufmerksamkeit zuteil werden soll oder ob man sich vorrangig mit qualitativen Methoden der pädagogischen Arbeit annähern sollte.
Beide Desiderate hängen eng miteinander zusammen. Die Programmatik der erinnerungskulturellen Institutionen ist nach wie vor stark von ihrer eigenen Durchsetzungsgeschichte geprägt und betont die Notwendigkeit erstens der historischen Aufklärung und zweitens emphatisch eine Politik des Nicht-Vergessens. Beides ist durch die erfolgreiche Erinnerungspolitik der Bundesrepublik und nicht zuletzt durch die engagierte Arbeit vieler Gedenkstättenakteure heute erinnerungskultureller Standard, so dass insbesondere jüngere Besucherinnen und Besucher mit Vorwissen und Erinnerungsbereitschaft den erinnerungskulturellen Angeboten gegenübertreten und durch die Emphase der Vermittlungsrhetorik eher irritiert, wenn nicht abgeschreckt werden. Wer unablässig gesagt bekommt, er dürfe nicht vergessen, obwohl er nie die Absicht zu vergessen hatte, wird sich irgendwann genervt anderen Dingen zuwenden. Der Geschichtsdidaktiker und langjährige Leiter der Gedenkstätte Villa ten Hompel, Alfons Kenkmann, hat pointiert formuliert, dass die "junge Generation auf eine Generation von Gedenkstättenpädagogen [trifft], die mit ihren Einrichtungen alt geworden sind und sich nun der Entwicklung von den Gedenk- zu Lernorten zu stellen haben. Diese Befunde verlangen eine Offenheit für neue museumsdidaktische Konzeptionen und damit eine Überarbeitung der vor bis zu drei Dekaden entstandenen musealen und geschichtsdidaktischen Angebote."
Reflexive Erinnerungskultur
Wie kann in einer Erinnerungs- und Memorialkultur angemessen Ausdruck finden, dass die Judenverfolgung die Zustimmungsbereitschaft der meisten nichtjüdischen Deutschen zum Nationalsozialismus nicht behinderte, sondern förderte? Sicher nicht durch Formen, die es über fiktive Identifikationen mit Opfern und artifizielle Betroffenheit erlauben, auf Abstand von solchen Befunden zu gehen, denn dieser Abstand erspart es wiederum, Bezüge zwischen einer gelebten Gegenwart und einer rituell erstarrten Vergangenheitsbetrachtung herzustellen. Wenn der Holocaust nicht aus Mangel an Zivilcourage, sondern als in breiten Teilen der Bevölkerung zustimmungsfähiges Projekt zustande gekommen ist, liegt darin die Herausforderung, in der Gegenwart die Potentiale für antisoziales Verhalten, für die Aufweichung rechtsstaatlicher Prinzipien, für gegenmenschliche Praktiken wahrzunehmen. Dann aber wäre die Erinnerung nicht museal und identifikatorisch, sondern gegenwärtig, reflexiv und politisch.
Für eine reflexive Erinnerungskultur sind Pathosformeln ebenso kontraproduktiv wie Ansprüche auf transtemporale Gültigkeit der Inhalte. Erinnerung schreibt sich immer nach Erfordernissen der Gegenwart um, und das Gedenken folgt diesen Umschriften in gemessenem Abstand. Wäre das nicht so, hätten wir heute gar keine Holocausterinnerung, denn der unmittelbaren Nachkriegsgesellschaft ging es, wenn denn um irgendetwas Zurückliegendes, um das Gedenken der eigenen Verluste und Leiden, nicht um die Erinnerung an die Taten. Diese frühe Erinnerungskultur ist sukzessive durch jene abgelöst worden, welche die Opfer und ihre Leiden in den Mittelpunkt stellte. Auf diesem Fundament steht die gegenwärtige Erinnerungskultur, und jetzt kommt es darauf, sich den Potentialen, Handlungen und Orientierungen zu widmen, die Ausgrenzungsgesellschaften entstehen und Genozide möglich werden lassen. In diesem Sinn ist Erinnerungskultur eine zivilgesellschaftliche Angelegenheit, deren Bezugspunkt die Gegenwart und Zukunft und gerade nicht die Vergangenheit ist. Es kommt darauf an, von der Thematisierung des Grauens und der Opferschaft auf die Herstellung von Ausgrenzungs- und Tötungsbereitschaft zu wechseln und verstehbar zu machen, wie sich normative Verschiebungen in modernen Gesellschaften etablieren, die schließlich zu gegenmenschlichen Entwicklungen und Massengewaltprozessen führen können.
Gesellschaftliche Funktionszusammenhänge und Institutionen sind als Speicher von Potentialen zu verstehen, die Handlungsbereitschaften und Handlungen unterschiedlichster Art entbinden können. Weil hoch arbeitsteilige Funktionsvollzüge partikulare Handlungsrationalitäten ausbilden, welche die Voraussicht über die Folgen eigenen Handelns systematisch begrenzen, muss über Konzepte partikularer Verantwortungsstärkung nachgedacht werden. Hier liegt eine ganze neue Aufgabe für das weite Feld der politischen und historischen Bildung, die sich bisher auf die Entwicklung universaler Verantwortungs- und Moralvorstellungen konzentriert, die Individuen in konkreten Handlungssituationen aber - das zeigte etwa das Milgram-Experiment (1961) - radikal überfordern können. Designs künftiger Angebote der politischen Bildung und der zivilgesellschaftlichen Erinnerungskultur sollten daher an die lebensweltliche Gegenwart der Abnehmerinnen und Abnehmer der Vermittlungsangebote anknüpfen. Daraus folgt notwendig eine Abkehr vom Paradigma der Top-down-Pädagogik ("Ihr sollt wissen") zur kooperativen Erarbeitung von Inhalten oder Ausstellungseinheiten (bottom up). Strategien reichen von der klassischen "Flachware", also Bild- und Textmedien, die über Anwendungsfälle von Zivilcourage und zivilem Widerstand berichten (z.B. über Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Rosa Parks), zugleich aber - etwa mittels computergenerierter Ausbreitungsmuster von Widerstandsbewegungen - verdeutlichen, dass es hier nicht um Heroisierungen, sondern um soziale Handlungen mit Impulswirkung geht. Die Perspektive auf die Öffnung und Nutzung von Handlungsspielräumen kann am Beispiel von Personen erfolgen, muss aber Personalisierungen vermeiden. Dabei ist immer auch die zeitgenössische Perspektive wichtig, etwa: Wie werden Umwelt- und Klimaflüchtlinge in der EU behandelt, wie ahnden Rechtsstaaten Menschenrechtsverletzungen, was ist Folter?
Wie Handlungsspielräume auch unter extremen Bedingungen genutzt werden können, kann an historischen Beispielen gezeigt werden - etwa an Helfer- und Retterverhalten während der NS-Zeit, das Privatpersonen (wie Oskar Schindler) genauso gezeigt haben wie Wehrmachtsangehörige (wie Heinz Drossel). Solche Personen haben Handlungsspielräume anders genutzt als die übergroße Mehrheit ihrer Zeitgenossen, und darin liegt ein erhebliches Lernpotential. Solches Material kann um kleinere Experimente und Planspiele ergänzt werden. Experimente zum Bystander-Verhalten etwa haben gezeigt, dass das Maß der "Verantwortungsdiffusion" als zentraler Faktor für erfolgende oder ausbleibende Hilfe gelten kann: Je mehr Personen anwesend sind, wenn sich jemand in einer Notsituation befindet, desto weniger neigen Einzelne zum Helfen (bystander effect). Das Wissen über hemmende Faktoren in Hilfesituationen moderiert das Verhalten, prosoziales Verhalten kann also durch Lernen beeinflusst werden. Andere klassische Experimente der Psychologie und Sozialpsychologie, etwa die Konformitätsexperimente von Asch (1951) oder Experimente zum Hilfeverhalten (Aronson 1994), können mit Hilfe von game designs für Alleinbesucher als Lernspiele operationalisiert werden oder für Gruppen zu Rollenspielen aufbereitet werden. Die Möglichkeit, Erfahrungen mit eigenen Handlungs- und Verhaltensbereitschaften zu machen, dürfte für nachhaltigere pädagogische Effekte sorgen als die bloße kognitive Konfrontation mit dem, was anderen Menschen zu anderen historischen Zeiten widerfahren ist. Zudem könnten gerade unter Nutzung elektronischer Medien Projekte initiiert werden, in denen Schülerinnen und Schüler Präsentationen, Rollenspiele oder Computersimulationen zu Fragen wie Zivilcourage, Ausgrenzung und prosozialem Verhalten erarbeiten, anstatt sich in alle Zukunft im "Spurensuchen" und in Verbrechensrekonstruktionen zu ergehen.
Dabei verdient ein weiterer Aspekt Beachtung. Die tradierten Strategien der politischen und historischen Bildung stehen nicht nur in Konkurrenz zu massenmedialen Geschichtsvermittlungen; auch in der Vermittlungslandschaft haben sich enorme Veränderungen hin zum Infotainment ergeben. Häuser wie das "Phaeno" in Wolfsburg, das "Universum" in Bremen oder das "Klimahaus" in Bremerhaven bieten anspruchsvolle Vermittlungsangebote mit Event-Charakter auf dem neuesten Stand der Präsentationstechnik. Dass es solche Ausstellungshäuser, die nicht zufällig nicht mehr "Museum" oder "-stätte" heißen, bislang ausschließlich im naturwissenschaftlich-technischen Bereich gibt, sollte als Herausforderung begriffen werden, analoge Häuser im geschichts- und gesellschaftswissenschaftlichen Feld zu etablieren. Anregungen dafür sind etwa in den Ausstellungen von levande historia in Stockholm, des Hygiene-Museums Dresden oder in den erwähnten Häusern selbst zu bekommen. Der Transfer von Wissen zu sozialem Handeln in zeitgenössischen Formaten würde dazu führen, dass Besucherinnen und Besucher die Institutionen der politischen Bildung nicht mehr mit Inferioritäts- und Beschämungsgefühlen verlassen, sondern mit dem Bewusstsein, etwas Interessantes gemacht und erlebt zu haben.
Zukunftsgedächtnis
Dies alles lässt sich als Plädoyer dafür lesen, die Erinnerungskultur in Richtung Zukunft neu zu justieren. Dieses Plädoyer lässt sich mit einem weitgehend unbeachteten Aspekt der Gedächtnistheorie untermauern: Erinnerung dient der Orientierung in einer Gegenwart zu Zwecken künftigen Handelns. Deshalb spielen "Vorerinnerungen", wie Edmund Husserl
Antizipierte Retrospektionen spielen für menschliches Handeln eine zentrale Rolle - jeder Entwurf, jeder Plan, jede Projektion, jedes Modell enthält einen Vorgriff auf einen Zustand, der in der Zukunft vergangen sein wird. Und genau aus diesem Vorentwurf eines künftigen Zustands speisen sich Motive und Energien - aus dem Wunsch, einen anderen Zustand zu erreichen als den gegebenen. Die prospektive Form des Gedächtnisses hat der menschlichen Lebensform den evolutionären Vorteil verschafft, Vorteile und Hindernisse bei der Gestaltung der Welt abschätzen und virtuell durchspielen zu können. Der Bezugspunkt des Gedächtnisses ist die gehoffte Zukunft.
Für das, was man unter Erinnerung und Gedächtnis versteht, öffnet sich damit ein erheblich weiterer Raum als bisher. Ungleichzeitigkeiten in Handlungsorientierungen und -optionen werden sowohl auf der gesellschaftlichen wie auf der individuellen Ebene zugänglich, die Schwerkraft von Selbstbildern und Habitusbildungen oder die Tiefenwirkung historischer Erfahrungen auf die Konzipierung von Zukunftsentwürfen oder allgemeiner: zukunftsbezogenen Handlungspotentialen werden besser verständlich. Wenn Zukunft systematisch zur Erinnerung gehört, könnte man eine "Theorie des Zukunftsgedächtnisses" (H.-J. Heinrichs) entwickeln. Damit würde die Privilegierung der Vergangenheit gegenüber der Gegenwart und der Zukunft in der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung ebenso Geschichte sein wie die Höherbewertung des Erinnerns gegenüber dem Vergessen. Da jede Gedächtnistätigkeit ein selektiver Vorgang ist, ist Vergessen konstitutiv für Erinnerung überhaupt. Und da der funktionale Überlebenswert des Gedächtnisses von seinem Zukunftsbezug abhängt, ist es die Zukunft, die konstitutiv für das Gedächtnis ist, nicht die Vergangenheit. Die Zukunft macht Vergangenheit erst verstehbar und motiviert Geschichtsbewusstsein.
Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 25-26/2010)