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Erinnern global

Jens Kroh

/ 7 Minuten zu lesen

Der Holocaust ist Bestandteil der Agenda der internationalen Politik. Aber welche Rolle spielt er im transnationalen Gedächtnis? Wie wird er erinnert, welche Unterschiede gibt es in den Erinnerungskulturen?

Das Massaker von Nanking von 1937 wird auf der englischsprachigen Seite der chinesischen Gedenkstätte mit dem Holocaust in Verbindung gebracht. Dabei geht es jedoch weniger um die Erinnerung an die ermordeten Juden als um die internationale Aufmerksamkeit. (© AP)

Globale Erinnerungskultur

"Der Holocaust war eine beispiellose und nicht zu leugnende Tragödie," so formulierte der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon anlässlich des "Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust" im Januar 2007. Erst im November 2005 hatte die UN-Vollversammlung den Rahmen für seine Rede geschaffen, indem sie den Beschluss fasste, fortan jedes Jahr der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Januar und damit verbunden der Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu erinnern.

Diese Entscheidung markiert den vorläufigen Höhepunkt einer mehrere Jahrzehnte andauernden Entwicklung. Während die systematische Ermordung der Juden in der Perspektive von Historikern, Massenmedien und Politikern lange Zeit nur einen untergeordneten Gesichtspunkt in der Auseinandersetzung mit "Drittem Reich" und Zweitem Weltkrieg bildete, wird sie heute als "paradigmatisches Menschheitsverbrechen" (Dirk Rupnow) gedeutet: als singuläres Ereignis, dessen Erinnerung unentbehrliche Lehren für Gegenwart und Zukunft bereit halte. Dementsprechend kreisen die Debatten über die Existenz eines europäischen oder globalen Gedächtnisses häufig um Konjunktur und Relevanz der Holocaust-Erinnerung.

Warum aber sollte sich ausgerechnet der dunkelste Teil der deutschen Geschichte als Bezugspunkt für eine globale Erinnerungskultur eignen? Wie geschlossen stimmt die Staatenwelt tatsächlich darin überein, dass dem "Zivilisationsbruch Auschwitz" (Dan Diner) ein herausragender Platz im Gedächtnis der Völker gebührt?

Zumindest auf die erste Frage hält der Soziologe Bernhard Giesen eine Antwort parat. Mit Blick auf das Ende des 20. Jahrhunderts erkennt er in westlich geprägten Demokratien eine Abkehr vom "Triumph" und eine Hinwendung zum "Trauma". Die zunehmende Auseinandersetzung mit der eigenen Korrumpierung und Kollaboration hat laut Giesen positive Folgen für die Herausbildung einer transnationalen – das heißt, einer nicht ausschließlich durch nationale Referenzrahmen und Grenzen determinierten – Gemeinschaft: "Während die Feiern eines triumphalen Sieges einer Nation jenseits der Grenzen, im Lande der Besiegten, Bitterkeit und Ressentiment auslösen, wirkt das gemeinsame Opfergedenken durch die politischen Repräsentanten der Sieger und Besiegten von gestern versöhnend."

In besonderer Weise trifft diese Diagnose auf die Erinnerung an die Opfer des Holocaust zu. Wie die Soziologen Daniel Levy und Natan Sznaider in ihrem Buch "Erinnerung im globalen Zeitalter" ausführen, hat eine Reihe von Medienereignissen (das "Tagebuch der Anne Frank", der "Eichmann-Prozess" in Jerusalem, die TV-Serie "Holocaust" und der Hollywood-Blockbuster "Schindlers Liste") wesentlich dazu beigetragen, dass sich Menschen mit unterschiedlichem ethnischem und gesellschaftlichem Hintergrund die Möglichkeit zur Identifikation mit den jüdischen Opfern bietet. Gleichzeitig hat sich das Leiden der Juden als universaler Maßstab für die Erfahrungen anderer Opfergruppen etabliert, was nicht zuletzt zu einer stärkeren "Opferkonkurrenz" und Indienstnahme des Holocaust geführt hat. Neben den Massenmedien, die von Vertreibung und Völkermord (Stichwort: Kosovo und Ruanda) berichten, nutzen etwa Abtreibungsgegner und radikale Tierschützer (PETA) mit dem Holocaust assoziierte Bilder und Metaphern, um eine möglichst große Öffentlichkeit zu erreichen.

"Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz"

Auch Regierungsmitglieder legitimieren ihr politisches Handeln mit dem Holocaust. Unvergessen ist der Spagat des damaligen Außenministers der Rot-Grünen Koalition, Joschka Fischer, der auf einem Sonderparteitag seiner Partei im Mai 1999 mit folgenden Worten für die Beteiligung der Bundesrepublik am Kosovo-Krieg warb: "Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen: nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz; nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus." Allerdings stand Fischer mit seiner Position, die eher unfreiwillig verdeutlicht, dass Auschwitz keine klare Richtschnur für politische Entscheidungen liefert, nicht allein. Dies zeigte sich kurz darauf bei der internationalen "Holocaust-Konferenz" in Stockholm.

Das Gipfeltreffen, dessen Ursprünge in der US-Geschichtspolitik der 1990er Jahre liegen, führte vom 26. bis zum 28. Januar 2000 mehr als zwanzig überwiegend europäische Staats- und Regierungschefs zusammen. In ihren Reden bekräftigten sie die fortdauernde Aktualität des Holocaust und verpflichteten sich außerdem in einer gemeinsamen Deklaration zur Bekämpfung jeg­licher Form von Fremdenfeindlich­keit, Rassismus und Antisemitismus. Dass sich der Bezug auf Auschwitz immer auch aus aktuellen Interessen speist, verdeutlicht die Ankündigung des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton, eine globale Menschenrechtspolitik notfalls mit Hilfe militärischer Interventionen durchsetzen zu wollen.

Doch obwohl heute Holocaust-Museen und -Zentren in allen Erdteilen existieren , wäre die Annahme eines globalen oder auch nur europäischen Konsenses falsch. Trotz der sichtbaren Bemühungen der UN-Spitze, das Gedenken an die Opfer des Holocaust als internationale Norm zu etablieren, gibt es bereits deutliche Unterschiede in den Erinnerungskulturen der europäischen Staaten. Während das alte Europa den Holocaust als negative Refe­renz seines Gedächtnisses verankert hat, deutet das neue Europa die stalinistischen Verbrechen oft als relevantere historische Erfahrung. Dabei wird die eigene Beteiligung und Mitwirkung an der deutlich längeren und zugleich jüngeren kommunistischen Diktatur regelmäßig mit dem Verweis auf die oktroyierte sowjetische Fremdherrschaft relativiert. Folgerichtig sind die von einer doppelten diktatorischen Vergangenheit betroffenen mittel- und osteuropäischen Staaten von einem "negativen Gedenken" (Volkhard Knigge), das sich durch "die öffentliche Erinnerung an begangene, nicht an erlittene Untaten" auszeichnet, noch recht weit entfernt.

Erinnerungskultur in Russland und Asien

Auch der russischen Erinnerungskultur ist diese Form des selbstkritischen Vergangenheitsbezugs fremd. Im Gegenteil: Die staatlich monopolisierte Erinnerung verherrlicht vor allem den sowjetischen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg, der in Russland nach wie vor als Großer Vaterländischer Krieg bezeichnet wird. Damit geht eine Ausblendung der Verbrechen Stalins (Große Säuberung, GULag und Holodomor) und dessen Teilrehabilitierung einher. Immer wieder kommt es deshalb zu brisanten Konflikten zwischen Russland und den ehemals von der Sowjetunion besetzten Staaten in Mittelosteuropa.

Die Erinnerungskultur im Nachbarland China unterscheidet sich ebenfalls stark vom Modell des "negativen Gedenkens". Zum einen werden in Hinblick auf die chinesische Geschichte des 20. Jahrhunderts von offizieller Seite keine Anstrengungen zur Aufarbeitung der Schattenseiten der Diktatur Mao Zedongs (u.a. Großer Sprung nach Vorn und Kulturrevolution) oder des Tian´anmen-Massakers unternommen. Zum anderen ist die chinesische Erinnerungskultur seit Mitte der 1980er Jahre stark von einem Opfernarrativ geprägt.

Das Massaker von Nanking, bei dem im Dezember 1937 japanische Soldaten zwischen 200.000 und 300.000 Zivilisten und Kriegsgefangene ermordet haben, wird dabei sogar direkt mit dem Holocaust in Verbindung gesetzt. Auf der offiziellen (englischsprachigen) Seite der Gedenkstätte heißt es, dass sie auf "einem der Exekutionsgelände und Massengräber des Holocaust" errichtet worden sei. Insofern überrascht es wenig, dass das Gedenken an die Opfer von Nanking in Teilen analog zum israelischen Holocaust-Gedenktag (Yom Hashoah) erfolgt: Seit 1995 ertönt am 13. Dezember, dem Tag des Beginns des Massakers, in Nanking Sirenengeheul. Der Holocaust dient jedoch vorrangig als Mittel, um international auf die japanischen Kriegsverbrechen aufmerksam zu machen. Ein Gedenken an die ermordeten Juden findet in diesem Zusammenhang nicht statt.

So ausführlich und unversöhnlich chinesische Schulbücher die japanischen Gräueltaten zum Thema machen, so wenig werden wiederum japanische Schüler über den von ihren Landsleuten in Ostasien geführten Vernichtungskrieg aufgeklärt. Besonders augenfällig wird dieser Sachverhalt dann, wenn das für die Zulassung von Lehrmitteln verantwortliche Erziehungsministerium Schulbücher mit revanchistischen Positionen genehmigt. Dieser Vorgang löste zuletzt 2001 und 2005 massive Proteste in China und Südkorea aus. Auch die Besuche japanischer Politiker des Yasukuni-Schreins, der dem Gedenken gefallener Soldaten, aber auch verurteilter Kriegsverbrecher dient, stoßen international auf Unverständnis.

Parallel dazu tobt seit Jahrzehnten ein japanischer "Historikerstreit" zwischen auf der einen Seite seriösen Geschichtswissenschaftlern und auf der anderen Seite reaktionären Historikern, die den Versuch unternehmen, den Großasiatischen Krieg zu heroisieren und das Massaker von Nanking zu verharmlosen. Insgesamt ist das Gedenken an Militarismus und Zweiten Weltkrieg in Japan jedoch dadurch charakterisiert, sowohl Täter als auch Opfer gewesen zu sein. Dabei ist eine ungewöhnliche Aufgabenverteilung zu beobachten: Während staatliche Akteure die Erinnerung an die Opfer der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki organisieren, gibt es eine Reihe zivilgesellschaftlicher Initiativen, die sich der Auseinandersetzung mit den Tätern verschrieben haben. Die japanische Erinnerungskultur kommt ungeachtet zweier Holocaust-Zentren in Fukuyama und Tokyo allerdings weitgehend ohne das Gedenken an die Opfer des Holocaust aus.

Differenzen in der Erinnerung

Offensichtlich bestehen international große Differenzen in der Erinnerung des Holocaust. Das Spektrum reicht von Staaten, in denen der Holocaust als Grundlage eines offiziellen Gedächtnisses dient (z.B. USA, Israel und viele vorwiegend westeuropäische Nationen) bis hin zu Ländern, in denen wichtige politische Akteure – etwa der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad – die Realität der industriell betriebenen Massenvernichtung leugnen. Neben diesen Einwänden gibt es weitere Argumente, die Anlass geben, Reichweite und Nachhaltigkeit einer transnationalen oder globalen Holocaust-Erinnerung zu hinterfragen. Erstens legen empirische Studien nahe, dass sich Elemente der offiziellen Erinnerungskultur und Inhalte nicht-öffentlicher Erinnerung deutlich voneinander unterscheiden.

Zweitens ist die politische Instrumentalisierung des Holocaust mit ebenso großer Skepsis zu sehen wie das verbreitete Argument, Auschwitz halte universale Lehren bereit. Denn auch in der Bundesrepublik, deren Bildungseinrichtungen und Massenmedien beständig Angebote zur Information über den Holocaust machen, sind Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus noch immer an der Tagesordnung. Drittens potenzieren sich im globalen Maßstab die Erinnerungskonflikte zwischen ethnischen Gruppen oder Nationalstaaten. Damit ist zugleich das Problem verbunden, dass die Schlichtung von geschichtspolitischen Gegensätzen mit autoritären, häufig nationalistischen Regimen notwendig wird, die deutlich prekärer ist als die Konfliktregulierung zwischen pluralistischen Demokratien in der EU. Insofern erscheint fraglich, ob sich tatsächlich eine globale Erinnerung mit dem Holocaust als Referenzpunkt herausbilden wird.

Links:

Externer Link: Gedenkstätte und Museum Auschwitz-Birkenau

Externer Link: "Aktive Europäische Erinnerung" im Rahmen des EU-Programms "Europa für Bürgerinnen und Bürger"

Externer Link: Gedenkstätten, Denkmale, Museen und Institutionen zum Gedenken an NS-Opfer

Externer Link: Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research

Externer Link: Gedenkstätte für die Opfer des Massakers von Nanking

Externer Link: "Holocaust Education" in den OSZE-Staaten

Externer Link: Friedensmuseum Hiroshima

Externer Link: Vereinte Nationen und Holocaust-Erinnerung

Externer Link: Anregungen der Gedenkstätte Yad Vashem zur Gestaltung von Holocaust-Gedenktagen

Quellen / Literatur

Cornelißen, Christop/Klinkhammer, Lutz/Schwentker, Wolfgang (Hg.), Erinnerungskulturen: Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt am Main 2003.

Dubin, Boris, "Erinnern als staatliche Veranstaltung. Geschichte und Herrschaft in Russland", in: Osteuropa 58 (2008), S. 57-66. Giesen, Bernhard, "Europäische Identität und transnationale Öffentlichkeit. Eine historische Perspektive", in: Kaelble, Hartmut/Kirsch, Martin/Schmidt-Gernig, Alexander, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Berlin 2002, S. 67-84.

Kohlhammer, Siegfried, "Die Vergangenheit gebrauchen zum Nutzen der Gegenwart!‛ Das Nanking-Massaker und die chinesische Geschichtspolitik", in: Merkur 61 (2007), S. 594-603.

Kroh, Jens, Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt am Main 2008.

Levy, Daniel/Sznaider, Natan, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001.

Müller, Jan-Werner, "Europäische Erinnerungspolitik Revisited", in: Transit. Europäische Revue 33 (2007), S. 166-175.

Rupnow, Dirk, "Transformationen des Holocaust. Anmerkungen nach dem Beginn des 21. Jahrhunderts", in: Transit. Europäische Revue 35 (2008), S. 68-88.

Uhl, Heidemarie, "Schuldgedächtnis und Erinnerungsbegehren. Thesen zur europäischen Erinnerungskultur", in: Transit. Europäische Revue 35 (2008), S. 6-22.

Welzer, Harald (Hg.), Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis, Frankfurt am Main 2007.

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und Stipendiat der Fritz Thyssen Stiftung. Er studierte Sozialwissenschaften an der Universität in Gießen und am Institut d'Etudes Politiques in Grenoble in Frankreich. Seine Dissertation schrieb er zum Thema: "Die Transnationalisierung der Holocaust-Erinnerung: Vom Medienereignis zur Geschichtspolitik".