Seit nun gut zwanzig Jahren wird davon gesprochen, wie der Übergang der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust nach dem Ende der biografischen Zeugenschaft zu gestalten ist. Die Beunruhigung ist unter anderem ein Ausdruck davon, welch immense Bedeutung den Zeitzeugen für die Vermittlung von Zeitgeschichte zukommt. Die Entwicklung, die Augenzeugenberichte der Überlebenden des Holocaust in die Geschichtsschreibung einzubeziehen, setzte 1961 mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem ein. Schon damals hatten die Zeugenaussagen eine weit über den Strafprozess hinausreichende Bedeutung, was nicht unumstritten blieb
Bedeutung der Zeitzeugen
Angesichts der erheblich verbesserten technischen Aufzeichnungs- und Archivierungsmedien mag die Besorgnis über den Verlust der unmittelbaren Zeitzeugen überraschen. Der Massenmord an den europäischen Juden ist jedoch ein Ereignis, das nicht nur Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist, sondern diese auch massiv verändert hat. Da die europäischen Juden systematisch verfolgt und ermordet wurden – gegen Ende des Krieges bemühten sich Sonderkommandos der SS sogar noch um die Beseitigung von Spuren des Verbrechens
Ähnliches gilt für Zeugnisse von Angehörigen anderer Opfergruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle, politisch Verfolgte, so genannte Asoziale, Zwangsarbeiter, rassisch oder religiös Verfolgte. Führende Historiker wie Saul Friedländer oder Yehuda Bauer haben Zeitzeugenberichte in ihre Darlegungen der NS-Geschichte aufgenommen, um bewusst subjektive Elemente und Informationen, die einem herkömmlich quellenkritischen Geschichtsverständnis nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen, verarbeiten zu können.
Erst die Stimmen der Opfer, die häufig nur durch Glück, Mut, Zufall und der Hilfeleistung einiger weniger überlebten, tragen zu einem umfassenden Verständnis dieser Epoche bei
Tradition der Zeugenschaft
Für ein Verständnis des zukünftigen Erinnerns ist die Kenntnis der Zeugenschaftstraditon von besonderer Bedeutung. Bekanntermaßen beziehen sich viele Überlebende des Holocaust in ihren Berichten auf die Pflicht, Zeugnis abzulegen. Diese Zeugnispflicht hat – insbesondere in der jüdischen Kultur – eine lange Geschichte. Welche Stellung können die Nachgeborenen in der intergenerationellen Tradierung einnehmen? Der israelische Philosoph Avishai Margalit hat für die besondere Zeugenschaft der Holocaust-Überlebenden den Begriff des moralischen Zeugen geprägt
Der moralische Zeuge unterscheidet sich vom religiösen Zeugen, also etwa dem jüdisch-christlichen Märtyrer (gr. Martys/Zeuge) oder dem islamischen Shahid, dadurch, dass er nicht durch den Tod für die Existenz seines Gottes zeugt, sondern sein Überleben notwendige Voraussetzung des Zeugnisses ist. Der religiöse Zeuge braucht demnach einen weiteren, sekundären Zeugen, der seine Tat in der Welt bekundet. Eine verhängnisvolle Modernisierung der sekundären Zeugenschaft kann man in den Bekennervideos von Selbstmordattentätern beobachten sowie in der medialen Berichterstattung über solche Anschläge, die das Publikum zu Zeugen der Tat machen.
Der moralische Zeuge des Holocaust ist demgegenüber den Toten, sich selbst und einer zunächst unwissenden, häufig auch ungewissen Öffentlichkeit verpflichtet. Nach Margalit hat er das von einem ethisch Bösen verursachte Leid selbst erfahren und zielt mit seinem Zeugnis auf die Überwindung dieses Bösen in der Welt. Das unterscheidet ihn auch vom juristischen Zeugen, der vor Gericht möglichst unvoreingenommen zu sein hat, wie vom historischen Zeugen, der an der zu überbringenden Botschaft unbeteiligt erscheint
Für eine ethische Betrachtung der Zeugenschaft des Holocaust folgt daraus, dass die Nachgeborenen nicht an die Stelle der moralischen Zeugen treten können, da sie das Leid nicht selbst erfahren haben. Vielmehr kommt es auf eine bewusste Wahrnehmung der generationellen Differenz an, die die Nachgeborenen als sekundäre Zeugen zu Grenzgängern einer Erfahrung macht, der sie sich qua Einfühlungsvermögen und Vorstellungskraft nur annähern können. Der Mitbegründer des Fortunoff Video Archive For Holocaust Testimonies, Geoffrey Hartman, hat dafür den Begriff des intellektuellen Zeugen geprägt
Die Übernahme von generationeller Verantwortung ist gerade im Kontext der deutschen Tätergesellschaft mit einer enormen moralischen Hypothek verbunden, die eines differenzierten historischen Zugangs bedarf. Aus entwicklungspsychologischer und pädagogischer Perspektive ist für ein zukünftiges Erinnern die Gegenwart des generationellen Zugangs zu betonen, eigene Leid- oder Ausschlusserfahrungen zu thematisieren, um im Vergleich die in der Regel enorme historische Differenz auszuloten. Ein sachbezogener, auf die Vermittlung von historischem Wissen angelegter Unterricht, der die erinnnerungskulturelle Stellung der Zeitzeugen berücksichtigt, kann besonders im schulischen Kontext den thematischen Zugang vereinfachen
Audiovisuelle Zeugnisse der Überlebenden
Damit werden die audiovisuellen oder schriftlichen Zeugnisse der Überlebenden zu historischen Quellen, die es in ihrer emotionalen und affektiven Dimension zu verstehen, aber auch als mediale Kunstprodukte zu re- und dekonstruieren gilt. Entsprechende geschichtsdidaktische Konzepte zur Förderung historischer Kompetenz und zur Analyse von Zeitzeugendarstellungen im Dokumentar- und Spielfilm haben etwa Bodo von Borries und Waltraud Schreiber entwickelt
Die medialen Artefakte transformieren durch ihre spezifische Form zwar den Gehalt des Ausgesagten, bringen dabei aber eigenständige Qualitäten hervor
Zeitzeugen in Filmen und Dokumentationen
Die zunehmende Verwendung von Zeitzeugenaufnahmen in dokumentarischen und fiktionalen Filmen macht es notwendig, ein historisches, kulturwissenschaftliches und medienpädagogisches Verständnis dieser Artefakte zu erwerben. So werden die entsprechenden Szenen mit Zeitzeugen meist zur Authentifizierung der jeweiligen filmischen Erzählung verwendet, das heißt, sie dienen dem Eindruck, eine Atmosphäre des Dabeigewesenseins und der Unmittelbarkeit zu erzeugen. Als Beispiel aus dem Bereich des fiktionalen Films kann hierfür "Der Untergang" von Oliver Hirschbiegel angeführt werden, in dem die Filmhandlung durch eine Videosequenz mit Hitlers ehemaliger Sekretärin Traudl Junge gerahmt wird
Jüngere Untersuchungen zur Verwendung von Zeitzeugendarstellungen in deutschen TV-Dokumentationen, etwa den ZDF-Produktionen unter der Leitung von Guido Knopp, belegen eine Ausweitung von Opfernarrativen auf tendenziell alle Zeitgenossen des Zweiten Weltkriegs
In einer zukünftigen Erinnerung erscheint es sinnvoll, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust durch die widerstreitenden, ethnisch und national diversifizierten Gedächtnisse hindurch zu erinnern. Diese haben mit den zahlreichen, auch regional in Archiven niedergelegten Zeugenschaftsberichten ein menschliches Gesicht bekommen. Deren Nutzung und Aktivierung ist unvermeidlich vom generationellen Interesse der Nachgeborenen und einer interessierten Pädagogik abhängig. Vielleicht kann die den Zeugenschaftsberichten inhärente Verpflichtung, gesehenes Unrecht gegenüber der Öffentlichkeit zu berichten, einen Anstoß liefern, diese Tradition zu beleben. Damit wäre der geschichtlichen Erinnerung wie den gegenwärtigen Verhältnissen gleichermaßen gedient.