Als die amerikanischen Truppen im April 1945 große Teile des Deutschen Reiches im Westen bereits besetzt hatten, schrieb die amerikanische Journalistin Martha Gelhorn in einer ihrer Reportagen mit bitterer Ironie über ihre deutschen Gesprächspartner: "Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je einer gewesen. Es hat vielleicht ein paar Nazis im nächsten Dorf gegeben (...) Oh, die Juden? Tja, es gab eigentlich in dieser Gegend nicht viele Juden (....)Wir haben nichts Unrechtes getan; wir sind keine Nazis." (In Fußnote: Europa in Ruinen. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944-1948, gesammelt von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt/M. 1990, S.9).
Von dem frenetischen Jubel der großen Masse des Volkes für den "Führer" wollten nach 1945 die meisten Deutschen nichts mehr wissen. Es dauerte fast zwei Jahrzehnte, bis sich auch in der breiteren Öffentlichkeit ein anderes, kritisches Bild vom Nationalsozialismus und seiner Verwurzelung in der deutschen Gesellschaft durchzusetzen begann. Noch 1955 hielten in einer Allensbach Umfrage 48 Prozent der Befragten Hitler für einen der größten deutschen Staatsmänner.
Als im Herbst 1989 die SED-Diktatur zusammenbrach und ein Jahr später die DDR von der historischen Bühne verschwand, war die Situation eine völlig andere. In einer im Wesentlichen friedlich verlaufenen Revolution befreiten sich die Ostdeutschen selber von ihrem marode gewordenen Regime. Die Beseitigung des Nationalsozialismus war dagegen erst in einem blutigen Weltkrieg dank der gewaltigen militärischen Überlegenheit der alliierten Mächte gelungen.
Umgang mit den zwei Vergangenheiten
Angesichts der ungeheuren nationalsozialistischen Verbrechen haben sich die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR zunächst schwer getan mit der Aufarbeitung dieser Vergangenheit. Erst 1952 wurde in München das Institut für Zeitgeschichte gegründet, das intensiv die NS-Geschichte erforschte, während das an den Universitäten noch kaum geschah und in der Öffentlichkeit darüber meist geschwiegen wurde. Nach einem verspäteten Start ist dann jedoch ohne Frage viel auf diesem Feld geschehen.
Nach 1990 tauchte bei manchen Beobachtern die Sorge auf, unter die NS-Zeit würde nun der oft geforderte "Schlussstrich" gezogen und alle historisch-politischen Energien würden sich auf die kommunistische Nachkriegszeit richten, über die nach Öffnung der Archive plötzlich riesige Mengen von Archivmaterial zur Verfügung standen. Diese Sorge erwies sich zwar als unbegründet. Aber inwiefern konnte man 1990 aus den Fehlern der Zeit nach 1945 lernen?
Wer genauer hinsieht, wird vor allem die gravierenden Unterschiede im Umgang mit den beiden diktatorischen Vergangenheiten feststellen. Schon im Gefolge der friedlichen Revolution und der Wiederherstellung der deutschen Einheit gab es eine breite öffentliche Diskussion über die DDR. Zahlreiche neue Forschungsinstitutionen, Lehrstühle, Stiftungen, Kommissionen, Gedenkstätten wurden geschaffen. 1991 setzte der Deutsche Bundestag eine Enquetekommission ein, die sich intensiv mit den Voraussetzungen, Erscheinungsformen und Folgen der SED-Diktatur befasste und ihre Ergebnisse (mit Fachgutachten und Stellungnahmen von Zeitzeugen) in 18 Bänden veröffentlichte.
Mit der Erstürmung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) durch Bürgerrechtsgruppen im Januar 1990 und der Sicherung der Akten stand plötzlich neben der SED-Überlieferung ein einmaliges Archivmaterial zur Verfügung, das Einblick in die geheimsten Winkel der Macht gab. Stasi-Akten machten erstmals die perversen Fantasien dieser Geheimpolizei und das unglaubliche Ausmaß der Überwachung der ostdeutschen Bevölkerung in vollem Umfang deutlich. Da das zuvor unbekannt war, stürzten sich die Massenmedien, aber zum Teil auch die Historiker auf diese Quellen und DDR-Geschichte hatte Hochkonjunktur in der zeithistorischen Forschung. Die DDR, seit 1972 ein trotz fehlender demokratischer Legitimation international anerkannter Staat mit zunehmend gewachsenen Kontakten zu Westdeutschland, erschien nun vor allem als "Stasi-Staat". Solche zugespitzten Urteile waren charakteristisch für die öffentliche Debatte in den 1990er Jahren. In der Diskussion um die Vergangenheit sind aber mittlerweile differenziertere Positionen in den Vordergrund gerückt.
Aufarbeitung der Vergangenheit
Schaut man auf die verspätet begonnene, aber intensive Erforschung der NS-Vergangenheit in der alten Bundesrepublik, so lassen sich einige inhaltliche Schwerpunkte erkennen. Zunächst gab es eine starke Konzentration auf die politische Geschichte, auf Hitler und die Außenpolitik, aber auch auf den vorwiegend von Militärs und konservativen Kräften getragenen Widerstand vom 20. Juli 1944. Der Widerstand der Arbeiterschaft wurde hingegen kaum berücksichtigt. Das Konzept des Totalitarismus, das die strukturelle Ähnlichkeit von NS- und kommunistischer Diktatur hervorhob, spielte in der Frühphase der Aufarbeitung eine wichtige Rolle. Ohne Frage war der Nationalsozialismus eine totalitäre Diktatur, die sämtliche Lebensbereiche erfassen und umgestalten wollte.
In vielen Feldern konnten sich die Nationalsozialisten jedoch auf Traditionen und Zustimmung stützen und diese nun mit einer rassistischen Ideologie aufladen. Andererseits gab es in der Gesellschaft und im kulturellen Leben auch Nischen und Rückzugsmöglichkeiten, um sich den Zumutungen des Regimes zu entziehen. Diese Aspekte eines breiten Konsenses der Bevölkerung mit dem Naziregime in Politik und Alltag, aber auch der begrenzten Möglichkeiten zu Verweigerung und Resistenz haben erst seit den 1970er Jahren intensiv Eingang in die Forschung und öffentliche Debatte gefunden.
Im Umgang mit der DDR-Geschichte gibt es einige Ähnlichkeiten, aber insgesamt mehr Unterschiede. Auch die SED-Herrschaft war in der Anlage eine totalitäre Diktatur. Ein solches Etikett verdeckt jedoch leicht, dass sich die Formen von Herrschaft und Repression im Laufe von 40 Jahren erheblich veränderten. Für eine differenzierte Auseinandersetzung ist es wichtig, die Jahrzehnte der DDR-Geschichte nicht als Einheit zu betrachten, sondern die beträchtlichen Veränderungen wahrzunehmen. Wer das nicht tut, geht auch an den sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen der Betroffenen vorbei. Das Ausmaß und die Grenzen der "Sowjetisierung" der SBZ/DDR sowie die relative Stärke und Kontinuität deutscher Traditionen sind mittlerweile intensiv erforscht worden. Auch der Widerstand gegen die SED-Herrschaft und die Möglichkeiten, trotz allen politischen Drucks "aufrechten Gang" zu praktizieren, haben frühzeitig Interesse gefunden. Die herausgehobene Rolle der evangelischen Kirche und ihre erschreckende Infiltration durch Stasileute wurden dagegen erst mit der Öffnung der Akten des MfS genauer untersucht. Auch der ökonomische Niedergang und die fatale Überforderung der Wirtschaft durch zahlreiche sozialpolitische Wohltaten,insbesondere die massive Subventionierung der Lebensmittel und der Mieten sind erst nach dem politischen Ende der DDR in vollem Umfang sichtbar geworden.
Forschungsdebatten
Gestritten wird in der Publizistik und in der Geschichtsschreibung nach wie vor heftig um die Rolle des "Alltags" in der Diktatur. Auch hier gibt es zahlreiche Parallelen zu den Diskussionen über die NS-Zeit. Der vor allem für die DDR-Geschichte vorgebrachte Verdacht, hier würde die Diktatur verharmlost, verbietet sich jedoch, wenn Alltag nicht nur als Ansammlung von banalen Details, sondern als zentrales Element von Herrschaft verstanden wird. Einflüsse und Grenzen eines diktatorischen Regimes auf das individuelle Leben der Betroffenen werden dabei sichtbar.
Angesichts einer kaum noch überschaubaren Menge von Publikationen zur DDR-Geschichte warnen kritische Stimmen zu Recht vor einer "Verinselung", d.h. vor einer Isolierung und allzu starken Konzentration des Interesses auf die DDR. Schließlich war der zweite deutsche Staat nicht der Mittelpunkt der Weltgeschichte. Seine Geschichte gehört neben der Verflechtung mit Westdeutschland in den größeren Zusammenhang der Kommunismusgeschichte in Ostmitteleuropa. Und hier gibt es noch erhebliche Defizite. Denn erst vergleichende Studien können die Besonderheiten der DDR schärfer herausarbeiten.
Ein besonderes Problem der Zeitgeschichte, vor allem für die politische Bildung, sind biografische Erinnerungen. Zeitzeugen, im Fernsehen besonders beliebt, sind ohne Frage eine wichtige Quelle. Aber sie haben zumeist nur einen höchst begrenzten Blick auf einen Teil der Vergangenheit, den sie selber erlebt haben. Sie eröffnen für die Geschichte von Diktaturen einerseits eindrucksvolle Perspektiven auf Unterdrückung und Terror, aber auch auf Möglichkeiten eines "richtigen Lebens im falschen System". Andererseits zeigen sich in den letzten Jahren verstärkt Trends zur "ostalgischen" Verklärung des Lebens in der DDR oder auch zur gedankenlosen Rechtfertigung der Rolle von Stasi- und Parteifunktionären. Ehemalige Offiziere des MfS melden sich in dreister apologetischer Absicht zu Wort, als wäre die DDR ein ganz normaler Rechtsstaat gewesen.
Aber auch die selektive Erinnerung an Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit, an die vermeintlich "heile Welt" der Diktatur ist im Zuge des gesellschaftlichen Umbruchs und der einschneidenden ökonomischen und sozialen Folgen der Globalisierung stärker geworden. Geschichtswissenschaft und politische Bildung müssen sich mit solchen Erscheinungen aktiv und unaufgeregt auseinandersetzen. Jede Generation wird dabei ihre eigenen und oft neuen Fragen stellen.
Die "Historisierung" der NS-Zeit hat erst in den siebziger Jahren intensiv begonnen. Sie zielt auf Einordnung der zwölf Jahre des "Dritten Reiches" in die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, aber auch auf die schwierige Verbindung von singulären Verbrechen und trivialem Alltag. Ein neuer Akzent der jüngsten Zeit ist die Opferdebatte: die deutsche Bevölkerung als Opfer des totalen Krieges, den Goebbels 1943 ausgerufen hatte, Opfer des Bombenkrieges, vor allem aber Opfer der überstürzten Flucht vor der Roten Armee und der Vertreibung nach Kriegsende.
Diese Opferperspektive war im Bewusstsein der Betroffenen stets präsent, aber erst seit Ende der 1990er Jahre ist sie auch wieder stärker in der Publizistik und Historiographie erörtert worden. Das ist legitim und notwendig, aber an eine wichtige Voraussetzung gebunden: Die Verursacher des Elends müssen zunächst benannt werden. Insofern ist bei der Erörterung der Schrecken des Krieges und des Zusammenbruchs der Verweis auf das Jahr 1933 unerlässlich. Dass auf den Trümmern des "Dritten Reiches" in der östlichen Hälfte Deutschlands schließlich eine neue, wenn auch völlig andere Diktatur errichtet werden konnte, war historisch nicht zwingend, gehört aber in den Zusammenhang einer solchen Erörterung.
Auf staatlicher Ebene hat es mittlerweile einen gewissen Konsens über den Umgang mit der Vergangenheit gegeben. Er hat seinen Niederschlag im Gedenkstätten-Konzept des Bundes von 2008 gefunden. Einer der Schlüsselsätze darin lautet: "Jede Erinnerung an die Diktaturvergangenheit in Deutschland hat davon auszugehen, dass weder die nationalsozialistischen Verbrechen relativiert werden dürfen noch das von der SED-Diktatur verübte Unrecht bagatellisiert werden darf."