Einleitung
Mit Flucht und Vertreibung der Deutschen 1944/45 kehrt ein Thema in die öffentliche Debatte zurück, das jahrzehntelang als anstößig und rückwärtsgewandt, ja revanchistisch verpönt war. Wer sich nicht vor der Übernahme der Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes scheue und die Aussöhnung mit den Nachbarn anstrebe, so hieß es, dürfe über Deutsche als Opfer nicht reden. Allein die Vertriebenenverbände kümmerten sich um die Betroffenen - und ihre allzu einseitige Betrachtungsweise galt vielen als hinreichender Beleg für die Diskreditierung des Themas. Als gebe es nur die Alternative zwischen einem reuigen Deutschen, der die Vertreibung als Strafe für die Verbrechen des Hitler-Regimes akzeptiert, und einem Ewiggestrigen, der das Leiden der Nachkriegszeit vor sich her trägt, um über die Schuld der Kriegszeit nicht zu reden. Seit Anfang der neunziger Jahre weicht diese Frontstellung auf. Der ehemalige deutsche Osten rückt wieder ins Gesichtsfeld. Die Öffnung des Eisernen Vorhangs löste eine wahre Erinnerungsflut und eine Neugier nach unterdrückten Wahrheiten aus. Verena Dohrn und Martin Pollack etwa schilderten das untergegangene Habsburgerreich in Galizien, Ralph Giordano reiste nach Ostpreußen und beschrieb mit großer Empathie die Trauer der einstigen Bewohner, Christian von Krockow schilderte die Strapazen der Flucht, Freya Klier griff das bis dahin tabuisierte Thema der Verschleppung von Frauen in die Sowjetunion auf, Ulla Lachauer notierte ostpreußische Lebensläufe, Roswitha Schieb machte sich auf die Reise in die Heimat ihrer Eltern nach Schlesien, Andreas Kossert entfaltete das Beziehungsgeflecht von Deutschen und Polen in Masuren, Matthias Kneip fuhr mit Großmutter, Vater und Tante in deren oberschlesische Heimat, und Helga Hirsch recherchierte über die Lager für deutsche Zivilisten in Polen.
Günter Grass schließlich war mit seiner Novelle "Im Krebsgang"
Und so sind Flucht, Vertreibung und auch der Bombenkrieg präsent wie selten zuvor: durch Jörg Friedrichs "Der Brand"
Das Jahrhundert der Vertreibungen
Im Rückblick ist das 20. Jahrhundert vielfach als das der Völkermorde und Vertreibungen bezeichnet worden. An seinem Beginn stand der Genozid an den Armeniern durch die Türken (1915), an seinem Ende standen "ethnische Säuberungen" im zerfallenden Jugoslawien. Dazwischen lagen allein in Europa u.a. die Zwangsdeportationen von Krimtataren, Tschetschenen, Wolgadeutschen und Einwohnern der baltischen Staaten innerhalb der Stalin'schen Sowjetunion, die Umsiedlungen von Polen aus dem okkupierten Westpolen in das Generalgouvernement, die Vernichtung der Juden durch das NS-Regime, die Vertreibung der Deutschen aus ihren Ostgebieten und der Ungarn aus der Slowakei.
Bisher haben sich Wissenschaftler und Medien nicht auf gemeinsame Bezeichnungen einigen können. Für die Armenier handelt es sich bei der Tötung ihrer Landsleute um gezielten Völkermord, für die Türken um das unbeabsichtigte Nebenprodukt von Deportationen. Deutsche sehen in den Ereignissen 1944/45 Vertreibungen, Polen hingegen eher Zwangsaussiedlungen, Tschechen oft sogar nur einen Bevölkerungs-"Abschub" (odsun). In Polen und Tschechien stoßen sich Wissenschaftler an dem angeblich zu emotionalen Terminus "Vertreibung"; die öffentliche Meinung in Deutschland hingegen reibt sich an dem sterilen Begriff der "ethnischen Säuberung". Nur in der Unterscheidung von Vertreibung und Völkermord scheint Einigkeit erreicht: Genozid, so Norman M. Naimark, meine die beabsichtigte Tötung eines Teils oder aller Mitglieder einer ethnischen, religiösen oder nationalen Gruppe; die Intention der ethnischen Säuberung bestünde hingegen darin, ein Volk und möglichst auch seine Spuren aus einem bestimmten Gebiet zu entfernen.
Angriffe stärkerer auf schwächere Völker, die mit der Ausrottung oder Vertreibung der Schwächeren endeten, hat es immer gegeben. Im 19. und 20. Jahrhundert hat sich dieses Phänomen durch die Entstehung des Nationalismus allerdings entscheidend verändert. Die alten Reiche - Österreich-Ungarn, das Osmanische und das Zarenreich, auch Preußen-Deutschland - hatten ihre Legitimität aus der Loyalität ihrer Untertanen gegenüber den Dynastien bezogen und nicht aus der Zugehörigkeit der Bürger zu einem bestimmten Volk. In Österreich-Ungarn konnte jemand Jude sein, Deutsch sprechen und einen ungarischen Pass besitzen. Mit der Durchsetzung des Nationalstaats aber wurden jene Bürger bevorzugt, die der staatstragenden, der Titularnation angehörten. Und da die mitteleuropäische Landkarte nur wenige ethnisch homogene Territorien kannte, waren Konflikte programmiert.
Als die Pariser Vorortverträge 1919/20 den Selbstbestimmungswünschen der Völker Rechnung trugen, erfüllten sie zwar die Träume von Polen, Litauern, Esten, Letten, Tschechen, Ungarn, Kroaten, Slowenen und Serben. Aber sie enttäuschten Minderheiten, die nun in ihren Heimatländern zu unerwünschten "Fremden" wurden und vom Völkerbund geschützt werden mussten. "Versailles hatte sechzig Millionen Menschen eigene Staaten gegeben", so der britische Historiker Mark Mazower, "dafür aber weitere fünfundzwanzig Millionen zu Minderheiten gemacht."
Die 1,1 Millionen Deutschen, die im polnischen Staat mit insgesamt 27 Millionen Staatsbürgern blieben, sollten durch eine restriktive Politik verdrängt werden - u.a. mit dem Gesetz über die Staatsbürgerschaft, mit der Durchsetzung der Agrarreform, der Besetzung von Beamtenstellen und der Einschränkung des muttersprachlichen Unterrichts. Tatsächlich sind zwischen 1918 und 1931 mehrere Hunderttausend Deutsche aus Polen ausgewandert. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts kannte der Nationalitätenkampf zwischen Deutschen und Polen allerdings nur Zwangsassimilierung und Verdrängung. Erst Hitler griff zu massenhaften Zwangsumsiedlungen und zu biologischer Vernichtung, denn ihm ging es um weit mehr als ethnische Entflechtung - er wollte "Lebensraum" für das deutsche Volk. Seine rassistische Politik ging von einer Hierarchie aus, die einigen "Rassen" die Hegemonie zuerkannte und anderen das Lebensrecht absprach. Daraus leitete er das Recht des "Mutterlandes" ab, zum "Schutz der Volksgruppe" unmittelbar im Gastland zu intervenieren: Er holte das Sudetenland "heim ins Reich" und siedelte die Tschechen ebenso aus den eingegliederten Gebieten aus wie die Polen gleich nach der Besetzung aus dem Warthegau. Während sich fortan die Polen im "Generalgouvernement" drängten, wurden auf den von ihnen geräumten Höfen und Wohnungen über eine Million (Volks-)Deutsche aus den baltischen Staaten, aus Wolhynien, Bessarabien, der Bukowina, der Dobrudscha, aus Bulgarien, Bosnien und Ungarn angesiedelt.
Es entsprach dem Geist der Zeit, wenn die in London ansässigen Exilregierungen von Polen und Tschechen für die Zeit nach dem Sieg über Hitler-Deutschland die Aussiedlung von Deutschen aus ihren Ländern forderten. Damit verfolgten sie eine ethnische Homogenisierung, die ihnen bei der Staatsgründung 1918 nicht gelungen war: In Polen bildeten die ukrainischen, jüdischen, deutschen und weißrussischen Minderheiten bis 1939 etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung; in der Tschechoslowakei stellten die Deutschen etwa 23 Prozent. Weder Churchill noch Roosevelt waren einem "Bevölkerungstransfer" grundsätzlich abgeneigt. Der Vertrag von Lausanne bildete für sie sogar eine "idée fixe".
Spätestens seit der Konferenz von Teheran (November 1943) war Churchill und Roosevelt klar, dass Stalin die polnischen Ostgebiete bis hin zur Curzon-Linie - die 1920 vom britischen Außenminister George Curzon vorgeschlagene sowjetisch-polnische Grenze - beanspruchte, Po-len insofern für die "wahrscheinlichen Verluste im Osten" entschädigt werden müsste. Seitdem war die Westverschiebung Polens im Prinzip eine beschlossene Sache, der Grenzverlauf wurde in Potsdam im August 1945 endgültig an Oder und westlicher Neiße festgelegt. USA und Großbritannien erklärten sich einverstanden, die "früher deutschen Gebiete" östlich davon unter polnische und das nördliche Ostpreußen unter sowjetische Verwaltung zu stellen - die endgültige Regelung der Grenzfrage sollte einer Friedenskonferenz vorbehalten bleiben. Soweit die Deutschen nicht schon vor der Front geflohen waren, war ihr "Transfer" auf "ordnungsgemäße und humane Weise" vorgesehen.
Hegten die Amerikaner zunächst Skrupel, so widersetzten sie sich doch niemals ernsthaft dem Kurs der Briten, der auf westlicher Seite treibenden Kraft der Ausweisung. Die Briten duldeten die Ausweisungspläne des tschechischen Exil-Staatspräsidenten Edvard Benes nicht nur, sie ermunterten ihn sogar zu einer möglichst weitgehenden Lösung. In der Tschechoslowakei wie in Polen machten sich im Laufe des Jahres 1944 auch die Kommunisten die Forderungen nach Vertreibung der Deutschen zu Eigen. Die prokommunistische Regierung in Lublin erklärte im Februar 1945, also noch vor der völkerrechtlichen Klärung in Potsdam, sie habe "in Ausführung des Programms, die polnische Westgrenze an die Oder und Neiße vorzuschieben, mit der Eingliederung der deutschen Vorkriegsterritorien in Polen begonnen", und der Erste Sekretär der Polnischen Kommunistischen Partei Wladyslaw Gomu|lka sprach von der Notwendigkeit der "Entdeutschung" seines Landes. Als historische Rechtfertigung ihres Anspruchs auf die "wiedergewonnenen Gebiete" diente ihnen die Herrschaft des Piastengeschlechts aus dem 10. bis 14. Jahrhundert, die sich zeitweise bis zur Oder erstreckt hatte.
Gegenüber Deutschland zogen die Sowjetunion und ihre späteren Satellitenstaaten Polen und Tschechoslowakei an einem Strang. Moskau musste die Polen und Tschechen zu nichts drängen, es brauchte sie nur gewähren zu lassen. "Wo die russischen Truppen standen", konstatiert Klaus-Dietmar Henke, "begannen die Vertreibungen deshalb als eine von den betroffenen Staaten beinahe wie eine innere Angelegenheit gehandhabte pauschale Abrechnung mit den Deutschen."
Ihre Opfer wurden nicht allein die Deutschen. Polen vereinbarte einen Bevölkerungsaustausch mit der Ukraine - aus Südostpolen zogen Ukrainer in die Sowjet-Ukraine, während Polen aus den "Kresy", den ehemals polnischen Ostgebieten, in die "wiedergewonnenen Westgebiete" umgesiedelt wurden. Nachdem bis Ende 1946 aufgrund der Pogrome von Kielce, Krakau und anderen Orten noch 220 000 Juden das Land verlassen hatten, war der Anteil der Minderheiten in Polen von 32 Prozent vor dem Krieg auf drei Prozent geschrumpft. In der Tschechoslowakei sank er nach der Aussiedlung der Ungarn aus der Slowakei von 33 auf 15 Prozent, in Rumänien von 28 auf 12 Prozent.
Der Verlust der Heimat
Stalingrad bedeutete die Wende: Der Aggressor wurde zum Getriebenen, und die Kriegsschauplätze, bisher vor allem auf den Territorien fremder Staaten, verlagerten sich ins Reichsgebiet. Im Juli 1944 wurden die Bewohner des Memellandes hinter die Memel evakuiert, im Oktober zogen die ersten sowjetischen Truppen in Ostpreußen ein. Entgegen dem ausdrücklichen Verbot von Gauleiter Erich Koch begaben sich die meisten Zivilisten auf eigene Faust auf die Flucht - vor allem nach den Schreckensmeldungen über die Vergewaltigungen und Ermordungen der Frauen von Nemmersdorf, das am 21. Oktober 1944 eingenommen worden war.
Die Fluchtwelle aus Ostpreußen bildete erst den Anfang. Noch weit mehr Menschen setzten sich in Bewegung, als die Rote Armee Mitte Januar 1945 ihre Großoffensive begann und über die Weichsel nach Westen stieß: Vier bis fünf Millionen flüchteten aus Danzig, Masuren, Ober- und Niederschlesien, Ostpommern und Ostbrandenburg. Hunderttausende starben an Entkräftung oder Kälte, ertranken in den Fluten der Ostsee, verbluteten nach sowjetischen und amerikanischen Bombenangriffen oder wurden von der Front überrollt und von Rotarmisten vergewaltigt.
Auch in den deutschen Siedlungsgebieten im südlichen Mitteleuropa kam es von Herbst 1944 an zu massiven Evakuierungen und Fluchtbewegungen. So wurden bis März 1945 100 000 von insgesamt 140 000 Deutschen aus der Slowakei und fast alle 95 000 Deutschen aus Kroatien ins "Protektorat Böhmen und Mähren", ins Sudentenland oder nach Österreich umgesiedelt.
Im Frühjahr 1945 kam kaum jemand unter den Flüchtenden auf die Idee, der Verlust der Heimat könnte endgültig sein. Vor allem die Reichsdeutschen aus Schlesien, Westpreußen und Pommern warteten nur das Ende der Kampfhandlungen ab. Allein nach Breslau kehrten mehrere Zehntausende zurück, insgesamt waren es über eine Million. Doch im Juni 1945 wurden die zurückströmenden Menschen schon westlich der Oder von Polen abgefangen. Damals begann die erste Phase der Vertreibung aus Polen. Diese "wilden" Aussiedlungen noch vor der Potsdamer Konferenz setzten am 20. Juni 1945 ein und dauerten ungefähr einen Monat. In diesem Zeitraum sind bis zu 400 000 Deutsche aus dem Grenzgebiet östlich von Oder und Neiße und aus Oberschlesien ausgesiedelt worden. Teilweise in Razzien von einer unvorbereiteten Armee zusammengetrieben, mussten die Menschen den Weg bis zu Oder und Neiße zu Fuß zurücklegen, und selbst für Kranke gab es keinerlei Transportmittel. Aufgrund des Einspruchs der Roten Armee, aber auch von polnischen Behörden, welche die Deutschen als Arbeitskräfte benötigten, wurden die Aussiedlungen Mitte Juli eingestellt.
Danach befanden sich noch etwa 4,5 Millionen Deutsche in Polen. Gemäß einer Anweisung des Ministeriums für öffentliche Verwaltung vom Juni 1945, der zufolge den Deutschen "das Leben derart erschwert werden" solle, dass auch die "hartnäckigsten Feinde des Polentums den Mut verlieren", in Polen zu bleiben, wurden "freiwillige Ausreisen" gefördert: durch Enteignungen, unzureichende Versorgung, Ausschluss von ärztlicher Versorgung, Ausschluss der Kinder von der Schulpflicht, durch massenhafte Beseitigung der "Spuren des Deutschtums" und durch Duldung von Diebstählen und Vergewaltigungen. Bis Ende 1945 verließen bis zu 550 000 Deutsche "freiwillig" Polen. Noch in den Zügen wurden sie ausgeraubt.
Von Februar bis Dezember 1946 erfolgten organisierte Aussiedlungen in Absprache mit den Alliierten. Etwa 1,5 Millionen Menschen kamen in die britische und - bis November 1947 - 1,84 Millionen in die sowjetische Zone. Insgesamt verließen in dieser Zeit fast 3,5 Millionen Deutsche die alten Ostgebiete.
In der Tschechoslowakei kam es vor allem in Prag, aber auch im Sudetenland gleich in den ersten Nachkriegstagen zu massenhaften Racheakten von Militär, "revolutionären Garden" und Zivilisten. Staatspräsident Benes führte am 12. Mai 1945 in Brünn aus: "Wir werden Ordnung machen unter uns, insbesondere auch hier in der Stadt Brünn mit den Deutschen und allen anderen. Mein Programm ist - ich verhehle es nicht -, dass wir die deutsche Frage in der Republik liquidieren müssen. Bei dieser Arbeit werden wir alle eure Kräfte brauchen."
Die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn begann im Januar 1946 in Ortschaften entlang der Grenze zu Österreich, in denen die donauschwäbische Bevölkerung zusammengedrängt worden war. Ursprünglich war auch hier nach dem Prinzip der Kollektivschuld die Aussiedlung der gesamten, etwa 500 000 Personen zählenden Minderheit geplant; schließlich waren etwa 117 000 von ihnen betroffen. Nach einer Unterbrechung im Juni wurden die Transporte in die amerikanische Zone im November 1946 wieder aufgenommen, im Dezember aber vollständig eingestellt.
Insgesamt sind etwa 14 Millionen Deutsche aus dem Osten vertrieben worden; etwa zwei Millionen von ihnen kamen während Flucht und Vertreibung um. Die SBZ nahm 37,2 Prozent auf (4,5 Millionen), die britische Zone 32,8, die amerikanische 28,2 und die französische 1,4 Prozent - insgesamt 7,9 Millionen Menschen. 1950 stellten die Vertriebenen in der Bundesrepublik 16,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, bis 1961 stieg ihr Anteil aufgrund der Massenflucht aus der DDR sogar auf 21,5 Prozent. Jeder fünfte Bundesbürger war ein Flüchtling oder Vertriebener. Ihre rasche soziale und wirtschaftliche Integration gilt daher manchen noch heute als das eigentliche Nachkriegswunder. Wenn überhaupt, dann fielen Vertriebenenkinder im Wirtschaftswunderland positiv auf. So hielt der Soziologe Helmut Schelsky lobend fest: "(Die Flüchtlingsjugend) ist in ihrer hohen sozialen Mobilität, ihrem Anpassungs- und Durchsetzungswillen, ihrem sozialen und beruflichen Aufstiegsstreben und Leistungswillen von der einheimischen Jugend (. . .) höchstens durch die Schroffheit und das Tempo unterschieden, mit der sie in diese Verhaltensnotwendigkeiten hineingezwungen wurden."
Doch heute sind wir uns dessen nicht mehr so sicher.
Die Integration der Flüchtlinge
Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen wurde zur alleinigen Aufgabe der Deutschen erklärt, aber die Alliierten übten beträchtlichen Druck aus. Die Vertriebenen sollten sich auf keinen Fall um Forderungen nach Rückkehr in die alte Heimat scharen, sondern sich möglichst schnell assimilieren. "Die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen soll ihr organisches Aufgehen in der einheimischen Bevölkerung gewährleisten", hieß es etwa im Gesetz Nr. 303 in Baden-Württemberg vom Februar 1947.
In den ersten Wochen und Monaten stießen die Flüchtlinge und Vertriebenen bei den Einheimischen auf Mitgefühl: Die einen wie die anderen waren davon überzeugt, die Einquartierungen seien vorübergehend. Als sich dann abzeichnete, dass die Ostdeutschen bleiben würden, gab es vielerorts Ärger, denn die Wohnungsbewirtschaftung führte dazu, dass Alteingesessene Zimmer an Vertriebene abtreten mussten; in den westlichen Zonen lebten nun pro Quadratkilometer weit über 200 Menschen statt wie vor dem Krieg 160. Ferner bewirkte die plötzliche Konkurrenz, dass neben dem ansässigen Apotheker ein zweiter Laden in der Kleinstadt öffnete, dass schlesische Klempnermeister oder sudetendeutsche Gerber billigere Angebote unterbreiteten und sich auf dem Arbeitsmarkt Menschen bewarben, die größere Kompromisse einzugehen bereit waren als die Einheimischen. So wechselten zwei Drittel der vor dem Krieg selbständigen Vertriebenen nach 1945 den Erwerbszweig, unter den Landwirten waren es sogar 87 Prozent.
Die teilweise katastrophale Unterbringung in leeren Fabrikhallen, Hotels oder in Baracken ehemaliger Zwangsarbeitslager suchte man seit 1950 durch Wohnungsprogramme abzuschaffen. Zehn Jahre nach Kriegsende existierten in der Bundesrepublik aber noch immer 3000 kriegsbedingte Lager, obwohl vielerorts neue Siedlungen entstanden waren und viele Vertriebene dank günstiger Darlehen eigene Häuser zu bauen begannen. Die Zahlungen durch den Lastenausgleich entschädigten die Betroffenen zwar nur für einen Bruchteil ihres verlorenen Vermögens, gaben ihnen aber das Gefühl einer gewissen Genugtuung. Um die Wachstumspolitik nicht zu gefährden, erfolgten die Hauptentschädigungen allerdings nicht vor 1959. In langwierigen Prozeduren, bei denen die Angaben von speziellen Kommissionen verifiziert wurden, sind bis 1979 etwa 22 Prozent der Vermögensverluste ausgeglichen worden.
Die Vertriebenen in der DDR erhielten nach der Wiedervereinigung eine einmalige Pauschalsumme von 4000 DM. In der SBZ hatte es aufgrund des Befehls Nr. 304 der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) von 1946 nur eine einmalige Unterstützung für Arbeitsunfähige und Bedürftige gegeben: 300 RM für Erwachsene, 100 RM für deren Kinder. Bis 1949 waren 400 Millionen Mark für diese Vertriebenensoforthilfe ausgeschüttet worden - fast jeder zweite Vertriebene hatte davon profitiert. Ebenfalls aufgrund eines Befehls der SMAD wurden die Vertriebenen seit 1945 offiziell als "Umsiedler" bezeichnet; die SED sprach auch von "Neubürgern". So spiegelte die Wortwahl wider, dass Kritik an Vertreibung und die Erinnerung an Unrecht in der SBZ/DDR nicht erwünscht waren.
Dabei ist der Verzicht auf die deutschen Ostgebiete den deutschen Kommunisten nicht leicht gefallen.
Vielen Vertriebenen in der DDR hat die Tabuisierung ihrer Vergangenheit die Trauerarbeit erschwert. Nicht einmal ihre kulturelle Identität konnten sie in die Aufnahmegesellschaft einbringen. Als 1989 die Mauer fiel, strömten Zehntausende Schlesier, Pommern und Ostpreußen in die Versammlungen der Vertriebenenverbände: Es bestand starker Nachholbedarf, über die verlorene Heimat zu reden und das Unrecht zu benennen. Viele hatten bereits lange vorher die Konsequenzen gezogen: Von den gut vier Millionen Vertriebenen in der DDR hatten sich bis zum Mauerbau 1961 über eine Million in den Westen abgesetzt.
In den Westzonen wurde das Koalitionsverbot für Flüchtlinge und Vertriebene Ende der vierziger Jahre aufgeweicht. Zunächst hatten die Alliierten befürchtet, unter den Westpreußen, Pommern oder Sudetendeutschen könnten schnell Nationalismus und Revanchismus erstarken. Im Februar 1946 war der Versuch von Linius Kather, vor 1933 einziger Vertreter der Zentrumspartei im Stadtparlament von Königsberg, eine "Notgemeinschaft einzelner Landsmannschaften" zu gründen, von der Militärregierung untersagt worden. Und im Mai 1946 wurde sein Antrag auf Genehmigung einer "Arbeitsgemeinschaft deutscher Flüchtlinge" abgelehnt. Doch bei der evangelischen Kirche entstanden "Hilfskomitees" für Menschen aus den Vertreibungsgebieten, geleitet von Eugen Gerstenmaier; die katholische Kirche ernannte den früheren Ermländer Bischof Maximilian Kaller zum "Flüchtlingsbischof".
Der einsetzende Kalte Krieg erleichterte jedoch dann die Zulassung von Vertriebenenorganisationen. So durfte sich die "Arbeitsgemeinschaft deutscher Flüchtlinge" unter dem neuen Namen "Aufbaugemeinschaft der Kriegsgeschädigten" im März 1948 als Verein eintragen, und im April 1949 schlossen sich die Landesverbände der Heimatvertriebenen zum "Zentralverband vertriebener Deutscher" (ZvD) zusammen. Gemeinsam mit den Landsmannschaften der Sudetendeutschen und der Schlesier bildete er im November 1951 den Bund der Vertriebenen (BdV).
Die "Charta der Heimatvertriebenen" vom 5. August 1950 ist ein gutes Beispiel für die Mischung aus Radikalität und Mäßigung, mit der die Vertriebenenorganisationen fortan Politik machten. Einerseits verzichtete die Charta "auf Rache und Vergeltung" und forderte die "Schaffung eines geeinten Europas, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können"; andererseits bestand sie auf dem "Recht auf Heimat" als grundlegendem Menschenrecht - als Recht auf Rückkehr verstanden. Bis in die achtziger Jahre hinein, als die schlesische Landsmannschaft ihren "Deutschlandtag" unter die Losung "Schlesien bleibt unser!" stellte, verstanden es die Vertriebenenverbände immer wieder, die Öffentlichkeit, vor allem aber die Nachbarn im Osten, mit radikalen, revanchismusverdächtigen Parolen aufzuschrecken. Dabei war es von den siebziger Jahren an still um sie geworden, seit mit der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition Aussöhnung gefragt war und nicht mehr Konfrontation. Unter den Vertriebenen gehörte schon 1965 nur knapp ein Prozent einer Landsmannschaft an.
Wesentlich kurzlebiger als der BdV erwies sich der im Januar 1950 in Schleswig-Holstein vom ehemaligen SS-Sturmbannführer Waldemar Kraft gegründete "Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten" (BHE). Bei der ersten Landtagswahl, an der er teilnahm (Schleswig-Holstein im Juli 1950), erreichte er überraschend 23,4 Prozent. Doch schon bei der Bundestagswahl 1953 erhielt er trotz eines Wählerpotentials von zehn Millionen Bundesbürgern mit Vertriebenen- oder Flüchtlingsstatus nur 5,9 Prozent (1,6 Millionen Stimmen), bei der Wahl 1957 schrumpfte sein Anteil auf 4,6 Prozent. Damit war der BHE, von Adenauer zuvor noch als Koalitionspartner geschätzt, nicht mehr im Parlament vertreten. Als Kommunikationsmittel zwischen den Vertriebenen dienten die Zeitungen der Landsmannschaften. Das "Ostpreußenblatt" erreichte 1959 eine Auflage von 128000, "Die Pommersche Zeitung" 53 000 (1960), "Die Sudetendeutsche Zeitung" 25 000 (1960) und "Unser Oberschlesien" 22 900 (1962). Als Lesemotive standen an erster Stelle: Heimaterinnerungen, landsmannschaftlich-familiäre Nachrichten, Unterhaltung, Lastenausgleich und Soziales.
Gelungene oder erzwungene Integration?
Mitte der achtziger Jahre mehrten sich Stimmen in der sozialhistorischen Migrationsforschung, die den Integrationsprozess der Vertriebenen nicht mehr uneingeschränkt positiv beurteilten.
In den ersten Jahren war das Anderssein der Flüchtlingskinder nicht zu übersehen gewesen. Die "Langeoog-Studie" - so benannt, weil sie von 1946 bis 1950 insgesamt 12 500 Kinder (die Hälfte von ihnen aus vertriebenen Familien) untersuchte, die zu Erholungskuren auf die Insel geschickt wurden - stellte für 1946 fest: Das Untergewicht von Vertriebenenkindern betrug bis zu 20 Prozent, das Längenwachstum blieb deutlich hinter der Norm zurück, Eiweißmangel führte zu Haltungsschäden, falsche Ernährung zu schlechten Zähnen, Rachitis und erhöhter Anfälligkeit für infektiöse Krankheiten wie Tuberkulose. Nicht alle verfügten über Seife, ihre Haut war oft schmutzig, verkrustet, welk, die Kinder wirkten alt. Sie zeigten einen Mangel an Selbstvertrauen, waren misstrauisch, ernst, schweigsam und litten an mangelnder Konzentrationsfähigkeit, an Schlafstörungen, Alpträumen, Bettnässen, Sprachstörungen, Schwindel und Kopfschmerzen - all jene Symptome, die man heute als Posttraumatisches Belastungssyndrom bzw. post-traumatic stress disorder (PTSD) bezeichnet.
Die "Langeoog-Studie" zeigte, dass die Kinder ab 1949 weniger von den Eindrücken der Vergangenheit erzählten, bei einigen trat sogar Erinnerungsverweigerung auf. Stattdessen drehten sich ihre Erzählungen um die Gegenwart, vor allem um aktuelle Mangelsituationen.
Die Kinder, denen die Funktion des Bindeglieds zwischen Flüchtlingen und Einheimischen zugewiesen wurde, gerieten in einen inneren Spagat. Die Schule und die neue Heimat setzten sie unter starken Anpassungsdruck, und auch die Eltern wollten mit ihren Kindern beweisen, dass "wir aus dem Osten so gut sind wie die Einheimischen". Aber die Eltern empfanden die Aufgabe des alten Dialekts oder die Übernahme neuer Sitten auch als Verrat. So pendelten die Kinder zwischen zwei Welten, zwei sich ausschließenden Anforderungen, denen sie nicht gleichzeitig genügen konnten. Innerlich fühlten sie sich oft zerrieben, erfüllten sie äußerlich auch alle Erwartungen.
Eine psychologische Studie kam 1964 zu dem Ergebnis, dass der körperliche Entwicklungsstand der Flüchtlingskinder durch die Versorgungsengpässe während und nach der Flucht "vermutlich nicht dauerhaft" beeinträchtigt worden sei. Krankhafte Befunde seien seltener als bei einheimischen Altersgenossen, schulische Leistungen sogar besser, und mögliche frühkindliche traumatische Erlebnisse hätten zu keiner Beeinträchtigung geführt.
Diese Auffassungen über die Belastbarkeit von Menschen wurden erst durch die Erfahrungen bei der Behandlung von Holocaust-Überlebenden ab Ende der fünfziger Jahre in Zweifel gezogen. 1961 schrieb Walter Ritter von Baeyer, ehemals beratender Psychiater der Wehrmacht und von 1955 bis 1972 Leiter der Universitätsnervenklinik in Heidelberg: "Der alte Erfahrungssatz - der Kern der bis dato herrschenden Lehre -, dass der Mensch unglaublich viel verträgt, ohne dauernden Schaden an seiner Seele zu nehmen, gilt hier nicht mehr. Davor dürfen wir nicht länger die Augen verschließen."
Das Psychologische Institut in Hamburg hat 1999 erstmals eine Untersuchung unter 270 Vertriebenen durchgeführt, davon 205 Frauen. Diese waren bei der Flucht zwischen neun und 21 Jahre alt (diebefragten Männer zwischen sieben und 15). 82 Prozent hatten gehungert, 70 Prozent waren durch Beschuss und Bombardierung in Todesnähe geraten, mehr als die Hälfte der Frauen war vergewaltigt worden. Am schrecklichsten wurden Vergewaltigungen, Hinrichtungen, der Anblick von verstümmelten Toten und der Tod von Familienangehörigen erlebt. Noch zur Zeit der Befragung litten 62 Prozent unter traumabezogenen Symptomen; bei 4,8 Prozent wurde ein voll ausgeprägtes, bei 25 Prozent ein partielles PTSD festgestellt.
Weit überproportional sind Vertriebene und ihre Kinder auch unter den Patienten von Schmerztherapeuten und Psychoanalytikern zu finden. Zwar gibt es noch keine systematischen Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen chronischen Schmerzen, Beziehungsstörungen, mangelndem Selbstwertgefühl und Schädigungen während Flucht und Vertreibung. Doch einige Analytiker haben erste Schlussfolgerungen gezogen.
Dass diese Phänomene erst in jüngster Zeit ins Bewusstsein rücken, liegt auch daran, dass viele Vertriebenenkinder ins Rentenalter kommen. Plötzlich werden sie sich bewusst, wie weit sie mit einer überzogenen Leistungsorientierung, mit protestantischer Arbeitsethik und Karrieredrang ein brüchiges Selbstwertgefühl zu überdecken versuchten und sich in die Arbeit flüchteten, obwohl ihnen berufliche Erfolge häufig nur bedingte Befriedigung verschafften. Sie haben im Leben oft viel erreicht, fühlen sich aber aufgrund emotionaler Defizite und schwachen Selbstbewusstseins unzufrieden und unausgefüllt. Insofern sind noch die Kinder mit der Hypothek der Eltern belastet. Es trifft eben nicht zu, dass sich das Problem der Flucht durch das Ableben der Erlebnisgeneration von selbst erledigt. Im Unterschied zur Erlebnisgeneration ist die Generation der Kinder nicht mehr dazu erzogen worden, "die Zähne zusammenzubeißen". Das Individuum muss sich nicht immer als stark, hart und als Herr der Situation beweisen. Jemand, der sich sensibel mit seinen beschämenden, demütigenden Erlebnissen auseinandersetzt, erfährt neuerdings sogar eher Wertschätzung als einer, der Probleme hinter einer stoischen Fassade verbirgt.
Drei Phasen kollektiven Erinnerns
Der französische Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs gehörte in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu den ersten, die von einem "kollektiven Erinnern" und einem "kollektiven Gedächtnis" sprachen. Seine zentrale These besagt - sehr zugespitzt -, dass sich jede Gemeinschaft die Vergangenheit schafft, die sie für ihr Selbstbild braucht. Die Vergangenheit wird wie ein Reservoir aus Symbolen, Zeichen, "ewigen" Wahrheiten benutzt, aus denen sich das kollektive Gedächtnis identitätsstiftende Bezugspunkte heraussucht, um aktuellen und zukünftigen Zielsetzungen der Gesellschaft Sinn zu unterlegen. Aus diesem gemeinsamen Erinnern, so Jan Assmann in Anlehnung an Halbwachs, entstehe kollektive Identität: "Das Bewusstsein sozialer Zugehörigkeit, das wir 'kollektive Identität' nennen, beruht auf der Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem gemeinsamen Gedächtnis."
Im Unterschied zur Geschichtswissenschaft geht es dem kollektiven Erinnern nicht um eine detailgerechte Rekonstruktion von Fakten. Vielmehr greift das "gemeinsame Gedächtnis" auf zentrale Codes, Orte, auf Archetypen, Mythen, Feste und Riten zurück, die historische Differenzierungen weitgehend unberücksichtigt lassen. "Es nährt sich von unscharfen, vermischten, globalen und unsteten Erinnerungen, besonderen oder symbolischen, ist zu allen Übertragungen, Ausblendungen, Schnitten und Projektionen fähig (. . .) und rückt die Erinnerung ins Sakrale", erläutert der französische Historiker Pierre Nora.
Wenn die Deutschen nun nach Jahrzehnten der Tabuisierung die Vertreibung wieder zu einem Bezugspunkt ihres kollektiven Gedächtnisses machen, stellt sich die Frage: Welchen veränderten Sinn gibt die Erinnerung an Flucht und Vertreibung unserem Gemeinschaftsgefühl? Inwiefern verändert sich unsere kollektive Identität? Nach den sechziger Jahren erleben wir augenblicklich die zweite Korrektur in der Wahrnehmung von Flucht und Vertreibung. Für Konrad Adenauer lag im festen Bündnis mit dem Westen die Antwort auf die Bedrohung durch die Sowjetunion. Für ihn war der Antikommunismus die zentrale Lehre aus dem Nationalsozialismus: "Ich bin seit Jahr und Tag davon ausgegangen, dass das Ziel Sowjetrusslands ist, im Wege der Neutralisierung Deutschlands die Integration Europas zunichte zu machen", erklärte er im April 1952.
Aber auch Adenauer kam den Vertriebenen, die wenige Jahre nach der Flucht noch massenhaft zu "Tagen der Heimat" strömten, entgegen. Auf einer Kundgebung am Berliner Funkturm erklärte er Anfang Oktober 1951: "Lassen Sie mich mit letzter Klarheit sagen: Das Land jenseits der Oder-Neiße gehört für uns zu Deutschland."
Wenn die Grenzfrage in der Öffentlichkeit dennoch offen gehalten wurde, hatte das taktische Gründe. 1951 glaubten 66 Prozent der Bevölkerung, die Ostgebiete würden irgendwann wieder an Deutschland fallen. Auch um deren Erwartungen entgegenzukommen, finanzierte Vertriebenenminister Theodor Oberländer (BHE) eine mehrbändige "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" - die erste von einer Historikerkommission seit 1951 erarbeitete wissenschaftliche Abhandlung über Flucht und Vertreibung, die vor allem auf Augenzeugenberichten, privaten Briefen und Umfragen fußt. Sie erschien zwischen 1953 und 1961. Kritiker monierten, dass der historische Kontext fehlte, und der Historiker Theodor Schieder urteilte, dass "das ganze Spektakel (. . .) ja nichts weiter als der Versuch ist, die Volksgruppen aus dem allgemeinen Gericht über die NS-Politik auszunehmen, unter das wir als sogenannte Binnendeutsche uns ja ohne weiteres stellen". Die deutschen Leiden wurden herausgestrichen und gleichzeitig das Erscheinen einer 1000-seitigen Studie über die Volkstumspolitik des NS-Staates verhindert. Man befürchtete, sie könnte von den Alliierten als "Entschuldigungszettel" für die Vertreibung genutzt werden.
Was der Philosoph Hermann Lübbe 1983 anlässlich der 50. Wiederkehr der nationalsozialistischen Machtübernahme als Maßnahme "kommunikativen Beschweigens" lobte, weil es der Mehrheit des Volkes, die mit dem Nationalsozialismus verbunden gewesen sei, den Übergang in die Demokratie ermöglicht habe, stieß bei der jungen Generation in den sechziger Jahren auf Widerspruch. Aufgewühlt von den Prozessen gegen KZ-Aufseher in den Jahren 1963 bis 1965 und dem Verfahren gegen Adolf Eichmann in Jerusalem begann die 68er-Generation das Selbstverständnis der Gesellschaft in Frage zu stellen. Es empörte die Söhne und Töchter, dass ihre Eltern sich schon 1946 über das Unrecht der Alliierten gegenüber den Deutschen (die Entnazifizierung) mehr erregt hatten als über die Verbrechen der Deutschen. Es empörte sie, dass die Schuldigen rasch amnestiert, die Verwicklung von Mitläufern erst gar nicht untersucht und Organisationen wie die Wehrmacht in toto rehabilitiert worden waren. Es empörte sie auch, dass ökonomische Prosperität Vorrang hatte vor einer juristischen Bewältigung der NS-Vergangenheit und der Antikommunismus dazu diente, von der Auseinandersetzung mit der Geschichte abzulenken.
Im Laufe der sechziger Jahre fokussierte sich die Debatte auf die Frage der deutschen Schuld. Der Holocaust wurde, so der Publizist Karl Heinz Bohrer, "zum archimedischen Punkt der deutschen Geschichte". War für Adenauer das Jahr 1945 der entscheidende Bezugspunkt gewesen - und damit deutsches Leid und die Kritik am kommunistischen Unrechtsregime in Mitteleuropa -, so wählten die 68er gemeinsam mit Bundeskanzler Willy Brandt das Jahr 1933 als Ausgangspunkt ihrer Erinnerungspolitik. Brandt war der erste Kanzler, der mit dem Kniefall vor dem Warschauer Mahnmal für die Gefallenen im Ghetto-Aufstand 1943 öffentlich Reue zeigte. In dieser zweiten Phase kollektiven Erinnerns standen Fragen nach Schuld und Verantwortung der Nachgeborenen im Vordergrund. Doch indem sie die eine Einseitigkeit aufhob, verfiel die Debatte nach 1968 in eine andere: Die deutsche Nation, so die Logik, habe sich moralisch selbst vernichtet. Die Deutschen wurden nur noch verächtlich als Tätervolk wahrgenommen. Es galt als politisch unkorrekt, über Deutsche als Opfer zu sprechen, während es als korrekt galt, den Verlust der Ostgebiete als gerechte Strafe für die NS-Verbrechen zu akzeptieren. Viele sahen bereits im Erinnern an Vertreibung einen potentiell revanchistischen Akt, der einer Aussöhnung mit den Nachbarn entgegenstehe.
Um das politische Eis gegenüber den kommunistischen Staaten zu brechen, waren die Anhänger von Brandts Ostpolitik zu vielen Zugeständnissen bereit. So übernahmen sie in der nach dem Warschauer Vertrag 1970 gegründeten deutsch-polnischen Schulbuchkommission in Bezug auf die Vertreibung die polnische Sicht, empfahlen für deutsche Schulbücher die Benutzung des Begriffs "Bevölkerungstransfer" und ließen die wilden Vertreibungen ebenso unerwähnt wie die inhumane Praxis bei den organisierten Zwangsaussiedlungen.
Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Wiedervereinigung Deutschlands befinden wir uns nun offensichtlich in einer dritten Phase kollektiven Erinnerns. Intensiver als zuvor stellt sich die Frage, was nationale Identität konstituiert, die Ost- und Westdeutsche "ein Volk" sein lässt. Dabei stellt sich heraus, dass neben der gemeinsamen Sprache und kulturellen Tradition auch die Erfahrungen von Krieg und Vertreibung zu den wichtigen gesamtdeutschen Klammern zählen. Seit 1989 ist das Land nicht nur wiedervereint. Es hat sich auch nach Osten verlagert. Die neue gesamtdeutsche Ostgrenze an Oder und Neiße ist nicht mehr undurchlässig. Dadurch, so der frühere Staatsminister für Kultur und Medien Julian Nida-Rümelin, werde es leichter, "das kulturelle Erbe im mittleren und östlichen Europa wieder selbstverständlicher zu sehen und es als Teil auch der deutschen Kulturgeschichte zu begreifen"
Angesichts dieser äußeren Umstände beschleunigt sich auf beiden Seiten der Grenzen ein Prozess des Umdenkens: So wie in Deutschland die einseitige Selbstwahrnehmung als Täternation einem differenzierteren Selbstbildnis wich, erhalten auch in Osteuropa die gestanzten, mythologisierten Bilder von den Opfervölkern Risse. Tschechische Historiker stellen die Frage, ob es sich bei der tschechischen Macht unter Staatspräsident Emil Hacha im "Protektorat Böhmen und Mähren" um Kollaboration gehandelt habe. Polen debattiert angesichts der Ermordung der Juden 1941 im ostpolnischen Jedwabne durch ihre polnischen Mitbürger die Mitschuld am Holocaust. Beide Länder befassen sich nun schon seit Jahren mit ihrer Rolle bei derVertreibung von Deutschen, Ukrainern und Ungarn bei Kriegsende.
In all diesen Fällen geht es nicht nur um die Aufdeckung bisher unbekannter oder tabuisierter historischer Fakten. Was diese Debatten so schmerzhaft, emotionsbeladen und mühselig macht, sind die damit einhergehenden Veränderungen im kollektiven Gedächtnis, die ganz subjektiven Erinnerungen Rechnung tragen und nicht selten von den Aussagen der großen Geschichte abweichen. Bleiben diese Einzelerfahrungen mit ihren Orten und Namen aber unberücksichtigt oder werden sie zu schnell in allgemeinere Erfahrungen übergeleitet, drohen wichtige Chancen für den gesellschaftlichen Integrationsprozess ungenutzt zu bleiben: Dann kann weder die Bitterkeit von Bürgern gemildert werden, die sich in ihrem Leid übergangen fühlen, noch können Erzählungen durch die Rekonstruktion des ganz Konkreten korrigiert werden.
Da es sich bei der augenblicklichen Debatte über Vertreibung zweifellos in erster Linie um einen Dialog der Deutschen mit sich selbst handelt, müsste das geplante Zentrum gegen Vertreibungen in erster Linie auch den Bedürfnissen der Deutschen Rechnung tragen: den Erzählungen über deutsches Leid (wieder) Raum schaffen, die Geschichte des deutschen Ostens (wieder) in Erinnerung rufen, der ganz spezifischen Verflechtungvon Täter-Opfer-Konstellationen nachgehen. Zweifellos wäre der geeignetste Ort dafür Berlin. Die Stadt ist nicht nur ein Symbol für Hitlers Rassenwahn; Berlin war auch Schauplatz des Widerstands und ein Ort, an dem Zehntausende von Flüchtlingen nach dem Krieg Unterschlupf fanden. Gerade weil ein Zentrum in Berlin dem Leid der deutschen Vertriebenen endlich die entsprechende Anerkennung zukommen ließe, würde es keineswegs die Relativierung von fremdem - polnischem, jüdischem, russischem - Leid nach sich ziehen. Denn entgegen einer weit verbreiteten Annahme müssen Opfergruppen nicht notwendigerweise in Konkurrenz zueinander stehen. Wirkliche Empathie schließt die Anerkennung fremden Leids ein. Und so, wie die Bilder aus Jugoslawien Anfang der neunziger Jahre viele sensibler werden ließen für die Vertreibungsschicksale in den eigenen Familien, kann die Beschäftigung mit dem deutschen Leid auch ihre Einfühlung in die Nachbarn fördern.
Zwar war schon vor 1989 ein Anstieg der Reisen von Betroffenen in die früheren Heimatorte zu verzeichnen; doch nach Öffnung der Grenzen hat sich diese Tendenz verstärkt. Fuhren früher fast ausschließlich Busse mit Angehörigen der Erlebnisgeneration, machen sich inzwischen ganze Familien auf den Weg: Söhne, Töchter und Enkel, welche die Geburtsorte der Eltern und Großeltern und die Wurzeln der Familien kennen lernen wollen - in Ostpreußen, Schlesien, im Sudetenland, im Baltikum, in Bessarabien, Wolhynien, Rumänien, Ungarn, Russland, in Serbien oder in der Slowakei. Auch das ist ein Teil der Veränderung des kollektiven Erinnerns: Mit den Familiengeschichten kehren die Orte des verlorenen Ostens in das Gedächtnis zurück. Der Blick richtet sich nicht mehr nur nach Westen und Süden, sondern auch - wieder - nach Osten und Südosten: nicht als Räume einer neuen Begierde, sondern als Räume der Erinnerung.
In den Zeugnissen, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, zeigt sich noch manche Bitterkeit: von inzwischen sehr alten Menschen, die nicht nur die Heimat, sondern auch Ehepartner und Kinder verloren haben und die sich in der neuen Umgebung und in neuen Ehen nie mehr vollständig einrichteten. Dominierend sind jedoch andere Sichtweisen. Zum Teil versuchen sich Menschen endlich durch das Niederschreiben von traumatischen Erinnerungen zu entlasten. Zum Teil geben sie ihrer Trauer Ausdruck, wenn sie sich bei Reisen in die Geburtsorte den unwiederbringlichen Verlust noch einmal vor Augen führen: eine tiefe Kränkung, die in der Regel jedoch nicht mehr mit Wut und Hader gegenüber dem Schicksal verbunden, sondern zu einer zukunftslosen Erinnerung geworden ist. Bei Angehörigen der zweiten und dritten Generation schließlich, die zwischen 30 und 60 Jahre alt sind, steht in Ost- wie in Westdeutschland die Entdeckung von bisher tabuisierten und ausgeklammerten Familiengeschichten im Vordergrund, die Suche nach Wurzeln, nach geheimnisvollen, nicht erklärbaren Familienlegenden, die Suche nach Identität.
Und plötzlich stellt sich heraus, dass die Interessen der Kinder und Enkel von Vertriebenen auf frappierende Weise mit den Interessen gleichaltriger Polen, Tschechen, Ungarn oder Juden übereinstimmen: Die einen wie die anderen forschen nach Tiefenschichten von Orten und Landschaften und Geschichten, die ihnen aus unterschiedlichen Gründen vorenthalten worden sind.
Text aus: Externer Link: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 40-41, 2003)