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Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung

Christoph Kleßmann

/ 26 Minuten zu lesen

Die öffentliche Resonanz wissenschaftlicher Forschung ist stark von Konjunkturen der gesellschaftlichen und politischen Großwetterlage abhängig. Das heißt auch: Zeithistoriker werden als Wissenschaftler und Zeitzeugen – die sie ja auch noch oft selbst sind – in der Auswahl ihrer Themen von solchen Konjunkturen mitbestimmt.

Teil einer Personenakte, in der ein Schiessbefehl für einen Grenzsoldaten entdeckt wurde, fotografiert am Freitag, 17. August 2007, in der Aussenstelle Chemnitz der Beauftragten der Stasiunterlagen der ehemaligen DDR. (© AP)

I. Schwierigkeiten der Aufklärung

Die berühmteste Definition der europäischen Aufklärung hat 1784 Kant formuliert: Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Dass Geschichtswissenschaft generell, aber insbesondere auch die Disziplin Zeitgeschichte und die politische Bildung, eine wichtige aufklärerische Funktion haben, scheint unstrittig und schon so selbstverständlich, dass sie kaum noch thematisiert wird. Konjunktur haben andere und systematisch erst in den letzten Jahre erschlossene Felder, die zwar keineswegs immer so ganz neu sind, wie sie daherkommen, aber aus der Postmoderne starke Anstöße erhalten haben: Geschichtskultur, Geschichtspolitik, Erinnerung und Gedächtnis. Der naiv erscheinende Glaube des Historismus, herauszufinden, "wie es eigentlich gewesen" (Ranke), ist uns nicht erst angesichts postmoderner Höhenflüge in die neue Innerlichkeit abhanden gekommen. Hier wird jedoch bisweilen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Im Extremfall reduzieren einige Adepten des "linguistic turn" die Geschichte auf Texte, auf sprachliche Formen ihrer Überlieferung und Darstellung; die Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen zerfließen.

In der moderaten Variante hat die Postmoderne ohne Frage auch der Zeitgeschichte wichtige neue Impulse geliefert. Der Erwartung wissenschaftlicher Objektivierbarkeit wird hier bewusst die Vielfalt divergierender Geschichten und Erfahrungen gegenübergestellt. Damit werden neue Dimensionen in die Forschung einbezogen, die früher kaum ins Blickfeld kamen. Das jetzt auch in Deutschland eindrucksvoll dokumentierte Konzept der "Erinnerungsorte" - der Formen diffuser, aber wirksamer kollektiver Erinnerungen an Personen, Sachen und schlagwortartig kondensierte Zusammenhänge - ist ein Beispiel für die Ergiebigkeit neuer Fragestellungen, die freilich weit über die Zeitgeschichte hinausgreifen. Geschichtsbewusstsein ist und bleibt ein wichtiges Feld der historischen Forschung, in der klassisch gewordenen Formulierung von Karl-Ernst Jeismann verstanden als "Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive"

Auch wer große Vorbehalte gegen manche überspannten postmodernen Zugänge zu historischen Themen hat, wird vor allem eine wichtige Errungenschaft nicht leugnen: die prinzipielle Skepsis gegen universale Theorien und ihre umfassenden Erklärungs- und Deutungsansprüche. Der Glaube an die Brüchigkeit der Moderne und des Fortschritts ist nicht mehr nur Teil konservativer Kulturkritik, sondern auch konstitutiv für die Postmoderne. Andererseits erschweren solche berechtigten Zweifel aber die auf den ersten Blick so selbstverständlich erscheinende Unterscheidung von Wahrheit und Lüge. Darauf zielt vermutlich der hintersinnige und von der Kommunismuserfahrung eines ungarischen Autors geprägte erste Satz aus dem hochgelobten Roman von Peter Esterhazy "Harmonia Caelestis": "Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt."

Postmoderne Skepsis erschütterte lange vor dem Epochenbruch von 1989/90 den Glauben an die Möglichkeit der Objektivität der historischen Wissenschaften. Die Forderung nach Objektivität und Aufklärung, die wissenschaftlichen Regularien folgt, ist damit jedoch keineswegs obsolet geworden. Im Gegenteil: Die dramatische Aktualität einer scheinbar einfachen Maximen verpflichteten Aufklärung wird nicht zuletzt beim Blick auf die Geschichte der Diktaturen des 20. Jahrhunderts sichtbar. Der friedlich und in unspektakulärer Hartnäckigkeit verfolgte Kampfruf der osteuropäischen Dissidenten vom "Leben in Wahrheit" ist dafür ebenso ein eindrucksvolles Beispiel wie das verzweifelte und vergebliche Bemühen von Widerstandsgruppen im "Dritten Reich", den Goebbels'schen Lügengespinsten wahre Informationen entgegenzusetzen und so das verblendete Volk von seinem Führer zu trennen oder zumindest der Welt zu signalisieren, dass es noch ein "anderes Deutschland" gab. Eine deutsch-polnische Ausstellung in Kreisau, heute Krzyzowa, trug daher nicht zufällig den Titel "In der Wahrheit leben" und wollte damit den Bogen von einer Widerstandsgruppe des 20. Juli 1944 - dem "Kreisauer Kreis" - zu den osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen schlagen.

In einem essayistischen Rückblick auf Brüche und Zäsuren in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert hat Wolfgang Eichwede die Bürgerrechtler als "Kinder der Aufklärung" charakterisiert, die Europas Freiheitsgeschichte fortgesetzt haben und die Verwirklichung der Zivilgesellschaft, die ihnen vorenthalten wurde, auf ihre Fahnen schrieben. Dies ist in der Tat eines der faszinierendsten Kapitel der von Gewalt und Brutalität in nie gekanntem Ausmaß geprägten Geschichte des 20. Jahrhunderts. "Wenn irgendwo in dem geteilten Europa Keimformen der ,civil society' existiert haben," so Eichwede, "dann waren es die diskutierenden Dissidentenzirkel in Prag oder Leningrad, in Krakau oder Budapest. In ihrem Vertrauen auf die Öffentlichkeit und die Kraft des Beispiels, der Einsicht und des Arguments waren sie ganz und gar Kinder der europäischen Aufklärung. Interessenanalysen und Machtkalküle waren nicht ihre Sache."

Aber auch westliche Demokratien, die sich dem Ideal der Zivilgesellschaft und der ständigen Einmischung in öffentliche Belange verpflichtet fühlen, sind in keiner Weise gegen die Manipulation der Regierenden und die suggestive Verführung selektiver, politisch passfähig gemachter Erinnerungen gefeit. Die erdrückende Konkurrenz einer auf Spektakuläres oder leicht Verdauliches ausgerichteten Informationsstrategie vieler Massenmedien macht daher zeithistorische Aufklärung zu einem mühsamen Unternehmen. Nicht mehr die Freiheit der Information ist das Problem, sondern Gehör für diese in der Öffentlichkeit zu finden, sobald es nicht mehr nur um punktuelle Neuigkeiten oder sensationelle Enthüllungen geht, sondern um komplexere Zusammenhänge und differenzierte Urteile. Wer die emotionalen Stellungnahmen zur Eröffnung des Speziallagermuseums in Sachsenhausen verfolgt hat oder sich die Geschichte der Pfingsttreffen der Sudetendeutschen vor Augen hält, die fast seit Jahrzehnten nach ähnlichem Muster ablaufen und Versuche einer historisch-kritischen Differenzierung mit ablehnender Kritik begleiten, weiß, wie schwer es die historische Vernunft gegenüber emotionsgeladenen Zeitzeugen und ihren Nachkommen hat. Man wird unter solchen Auspizien sehr bescheiden, was die Möglichkeiten einer kritischen Fachwissenschaft und der Verbreitung ihrer Erkenntnisse anbelangt.

Auch in der Geschichte der Zunft selber gibt es noch mancherlei Minenfelder. Die auf dem Historikertag in Frankfurt 1998 vehement geführte Debatte um "Ostforscher" und braune Ursprünge westdeutscher Sozialhistoriker, die jahrzehntelang überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurden, ist ein Beispiel für fatale Formen der prinzipiell unvermeidlichen und auch wünschenswerten Nähe von historischer Wissenschaft und Politik sowie für die enormen Schwierigkeiten ihrer nachträglichen Aufarbeitung in politischen Konstellationen, die für eine solche Aufarbeitung wenig geeignet sind. Dass in diesem Fall die Suche nach unbequemen Wahrheiten zusätzlich durch die Konfrontation zweier Geschichtswissenschaften in Deutschland blockiert wurde, machte die Sache noch komplizierter. Auf die "versäumten Fragen" der Bundesrepublik gab die DDR lautstarke und bereits im Vorfeld feststehende Antworten. Die massiven Proteste gegen die sog. Wehrmachtsausstellung haben auf andere Weise dokumentiert, welche Hürden längst bekannte Forschungsergebnisse bei der Umsetzung für eine breite Öffentlichkeit nehmen müssen, wenn sie gegen lieb gewordene Mythen verstoßen. Das gilt trotz inakzeptabler Schlampereien bei der Bildeinordnung in der ersten Fassung der Ausstellung. Wie dreist Beteiligte an der öffentlichen Rechtfertigung bzw. Bagatellisierung ihrer kriminellen Rolle gegen alle breit dokumentierte wissenschaftliche Einsicht arbeiten, mag schließlich das umfängliche Pamphlet von 20 hochrangigen Stasi-Offizieren belegen, das vor einigen Monaten erschienen ist. Es hat zwar vernichtende Presserezensionen erhalten, wird aber vermutlich auch erhebliche "klammheimliche Freude" beim Heer der Ehemaligen ausgelöst haben.

Diese beliebig zu vermehrenden Beispiele zeigen, wie stark die öffentliche Resonanz wissenschaftlicher Forschung von Konjunkturen der gesellschaftlichen und politischen Großwetterlage abhängig ist, wie sehr Zeithistoriker als Wissenschaftler und Zeitzeugen - die sie ja auch noch oft selbst sind - in der Auswahl ihrer Themen von solchen Konjunkturen mitbestimmt werden und in welchem Ausmaß Publikationen interessengeleitet sein können. Alle Beispiele unterstreichen aber gerade deswegen auch, wie notwendig die scheinbar so selbstverständliche Aufklärung durch professionelle Forschung ist und bleibt. Sie ist auch für andere Epochen bedeutsam, aber doch ungleich mehr für die Zeitgeschichte, die nach der Formulierung von Barbara Tuchman "noch qualmt", sodass die klare Sicht häufig verstellt wird, Folgen und Wirkungen nur mühsam erkennbar werden, weil die Beobachter noch zu nahe an den Ereignissen sind.

II. Zeitgeschichte als Wissenschaftsdisziplin

Als in den frühen fünfziger Jahren die Zeitgeschichte in Deutschland als historische Teildisziplin begründet wurde, war diese persönliche und zugleich politische Konstellation prinzipiell nicht anders. Gegen unverblümte Rechtfertigungsprodukte ehemaliger NS-Funktionäre und hoher Militärs, gegen eine dominante Erinnerung, welche die Deutschen eher zu Opfern denn zu Tätern stilisierte oder alle Verantwortung auf eine kleine Verbrecherclique schob, sowie gegen eine als dramatisch wahrgenommene bolschewistische Bedrohung aus dem Osten mussten elementare historische Einsichten über den Nationalsozialismus, seine Ursprünge, seine gigantischen Verbrechen sowie über Zusammenhänge von Ursachen und Folgen durchgesetzt werden. Das ist - verfolgt man exemplarisch die Geschichte des Instituts für Zeitgeschichte und seiner Zeitschrift - in beachtlichem Ausmaß versucht worden, aber erst mit erheblicher zeitlicher Verspätung gelungen. Dass der Antisemitismus-Streit vor der letzten Bundestagswahl in Formen verlaufen ist, die im Hinblick auf ihre schwache Resonanz in der Weimarer Republik kaum denkbar gewesen wären, die plumpen Versuche politischer Instrumentalisierung spontanen und massiven Widerspruch ausgelöst haben, belegt die tief greifende Veränderung unserer heutigen politischen Kultur.

Das Problem der fehlenden Distanz hat die Zeitgeschichte seit ihren Anfängen begleitet. Hans Rothfels definierte sie in seinem programmatischen Aufsatz von 1953 in einer doppelten Dimension als Zeitphase und spezifischen Inhalt: als Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung sowie als "ein Zeitalter krisenhafter Erschütterung und einer eben darin sehr wesentlich begründeten universalen Konstellation". Gerade angesichts der emotionsgeladenen Nähe und Betroffenheit forderte er nachdrücklich "größtmögliche Objektivität im Erfassen der Tatsachen . . ., aber keineswegs Neutralität gegenüber Traditionen und Prinzipien europäischer Gesittung" .

Die spezifische Zeitgebundenheit dieser Definition ist uns seit langem bewusst, und sie erscheint heute insbesondere hinsichtlich der Eingrenzung auf den Zeitraum nur bis 1945 unhaltbar. Zeitgeschichte als "historia sui temporis" muss per definitionem gleitende zeitliche Zäsuren haben. Das umschließt zwar mehrere Generationen, erlaubt aber nicht dauerhaft einen inhaltlich begründeten Fixpunkt - wie etwa den von 1917 - festzulegen. Eberhard Jäckel, Reinhard Koselleck, Anselm Doering-Manteuffel, Hans Günter Hockerts und viele andere haben diese Feststellung in ihre Überlegungen einbezogen.

Inhaltlich war und blieb deutsche Zeitgeschichte trotz der seit 1990 überschäumenden Konjunktur der DDR-Forschung schwerpunktmäßig und in den großen Kontroversen auf den Nationalsozialismus ausgerichtet. Das hat gute Gründe, denn die zwölf Jahre des "Tausendjährigen Reiches" waren weit mehr als nur deutsche Geschichte, sie waren auch eine der wichtigsten und schlimmsten Phasen der europäischen, ja der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. In dieser Relation erscheint die DDR tatsächlich nur als eine Fußnote, wie Stefan Heym nach der "Wende" ironisch fragend angemerkt hat.

Die unübersehbare Fixierung auf die deutsche Geschichte hat nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aber auch zu berechtigten Einwänden geführt, ob dadurch nicht ganz andere und möglicherweise wichtigere Themen wie die Entkolonialisierung, das Wiederaufleben alter Konfliktlinien des 19. Jahrhunderts oder die Geschichte der westeuropäischen Integration notorisch vernachlässigt worden seien - so Hans Peter Schwarz in seinen "Fragen an die Geschichte des 20. Jahrhunderts" . Diese Warnung ist berechtigt. Dennoch besitzt die Perspektivengebundenheit von Zeithistorikern auch ihre politisch-geographische Legitimation. Zudem bleiben Nationalsozialismus und Stalinismus mit den Leichenbergen, die sie in Europa verursacht haben, besondere Herausforderungen an die Erklärungskraft von Zeitgeschichte.

Die starke Konzentration auf deutsche Geschichte hat noch einen anderen, auch politisch bedeutsamen Aspekt. Für die Erforschung der DDR-Geschichte lag anfangs die vorrangige Beschäftigung mit Tätern und Opfern der Diktatur nahe. Darüber hinaus aber steht heute die ganze deutsche Nachkriegsgeschichte zur Debatte. Ihr westdeutscher Teil gehört dazu. Wir wissen jetzt deutlicher als früher, wie eng beide Teile trotz staatlicher Trennung verflochten waren. Der wechselseitige Bezug war zu allen Zeiten asymmetrisch. Sowohl für die Machtelite wie für die Bevölkerung der DDR bildete die Bundesrepublik stets die Referenzgesellschaft, mit der man sich aggressiv auseinander setzte oder an der man sich insgeheim in seinen materiellen und politischen Wünschen zumindest partiell orientierte. Umgekehrt galt das in dieser Form nie. Trotz evidenter Asymmetrie sind aber auch bestimmte Prägungen der inneren Entwicklung und der politischen Kultur der "alten" Bundesrepublik ohne die Nachbarschaft der kommunistischen Diktatur jenseits der Grenze nicht zu verstehen. Die spezifischen Formen und Blockaden der kritischen Auseinandersetzung mit der gemeinsamen NS-Vergangenheit gehören zu den signifikantesten Beispielen. Zahllose andere ließen sich nennen und bedürfen vielfach noch intensiverer Studien. Was hier für das geteilte Deutschland erkennbar ist, scheint mir für Europas "vergessene Hälfte", nämlich die ostmitteleuropäischen Länder, noch nicht einmal in Ansätzen erforscht zu sein.

Schon einige wenige Überlegungen dieser Art verweisen auf die Notwendigkeit der Selbstreflexion von Zeitgeschichte. Dieses Bedürfnis bildete den Ausgangspunkt für ein Forschungsprojekt und eine Konferenz zum Thema "Zeitgeschichte als Streitgeschichte" am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), Potsdam, die beide auf die Meta-Ebene zeithistorischer Forschung, insbesondere auf das Verhältnis von Öffentlichkeit, politischer Kultur und Fachwissenschaft, zielen. Streit gab und gibt es auch in anderen historischen Teildisziplinen. So lagen sich 1964 die Reformations-Forscher darüber in den Haaren, ob - zugespitzt - Luther seine Thesen nicht an der Schlosskirche angeschlagen, sondern mit der Post verschickt habe. Dahinter standen allerdings grundsätzliche Fragen des überkommenen Lutherbildes, die durchaus das nationale Selbstverständnis berührten. Der Antisemitismus-Streit zwischen Heinrich von Treitschke und Theodor Mommsen 1879 oder die kaum öffentlich in Frage gestellte Ablehnung der sog. "Kriegsschuldlüge" in der Weimarer Republik waren dagegen zeithistorische Kontroversen, die viel über die politische Kultur der Zeit aussagen. Der anhaltende "Kampf um Troja" zwischen den Althistorikern Kolb und Korffmann dürfte dagegen, auch wenn er heftig tobt, kaum existentielle Erschütterungen provozieren wie noch die "Fischer-Kontroverse" von 1961. Ist also Zeitgeschichte besonders prädestiniert für wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Streit?

Dies sicherlich, wenn man nicht in erster Linie die oft erbitterten Fachdebatten im engeren Sinne, sondern diejenigen betrachtet, die in der Öffentlichkeit eine besondere Resonanz fanden und daher Aufschlüsse geben über Geschichtsbewusstsein und politische Kultur. Ferner: Deutet die Zunahme zeitgeschichtlicher Debatten seit den sechziger Jahren auf ein wachsendes Gewicht der Fachdisziplin hin, oder hat diese umgekehrt in den letzten Jahren eher an Bedeutung eingebüßt? Wie viel aufklärerische Wirkung haben Kontroversen? In welchem Ausmaß bestimmen die "Historiker-Journalisten" (Hockerts), also die Profis in den Medien, die öffentliche Arena des Streits und drängen die akademische Zeitgeschichte in den Elfenbeinturm von Quellenfetischismus und Fußnotenseligkeit?

Die Diskussion um die DDR-Geschichtswissenschaft, der politische und historiographische Stellenwert der Chiffre "1968", aber auch die jüngste Kritik an den "versäumten Fragen" der etablierten Sozialhistoriker in der "alten" Bundesrepublik haben die Frage nach den Maßstäben der Fachwissenschaft neu gestellt und bislang keineswegs befriedigend beantwortet. Der Pulverdampf im Streit, wer DDR-Geschichte schreiben darf und soll, hat sich mittlerweile verzogen. Zeitgeschichte hat aber nach 1990 auch in anderen europäischen Ländern neue Aktualität erhalten. Der heftige Streit in Polen um Jedwabne und das polnisch-jüdische Verhältnis, die französischen Debatten um Vichy und den Algerienkrieg sowie schließlich diejenigen um "Gedächtnis, Geld und Gesetz in der Politik mit der Vergangenheit" in der Schweiz sind drei signifikante Beispiele. Auch wenn damit die Frage nach der Möglichkeit einer europäischen Zeitgeschichte nicht explizit aufgeworfen wird, hat der kritische Umgang mit der Vergangenheit überall zunehmend an Gewicht und politischer Brisanz gewonnen. Die Intensität der deutschen Debatten scheint keineswegs mehr singulär.

III. Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung

Lassen wir die Streitgeschichte hinter uns: Was kann und soll zeithistorische Forschung als wissenschaftliche Aufklärung heute bedeuten, welche Schwierigkeiten tun sich auf, und wie kann zeitgeschichtliche Wissenschaft ihnen begegnen, ohne sich in der Konkurrenz mit den Massenmedien zu überheben? Drei thesenartige Überlegungen dazu:

1. Objektivität als intersubjektive Überprüfbarkeit und regulative Idee empirischer Forschung und historiographischer Darstellung ist unverzichtbar, auch wenn der Glaube an die Möglichkeit ihrer Realisierung nachhaltig erschüttert ist.

2. Kritische Historisierung bleibt eine ebenso notwendige wie schwierige Aufgabe, insbesondere bei der Beschäftigung mit Diktaturgeschichte, wobei jede Generation neue Fragen stellt.

3. Individuelle und kollektive Erinnerung sollten, so diffus sie in der Regel sind, nicht bloßes Gegenstück zur sog. "objektiven" Geschichte bleiben, sondern sie müssen integraler Bestandteil fachwissenschaftlicher Analyse sein, weil nur so Aufklärung sich ihrem selbstgesetzten Ziel wenigstens annähern kann.

1. Der britische Sozialhistoriker Richard Evans hat in seinem Buch "Fakten und Fiktionen" eingehend die Grundlagen historischer Erkenntnis erörtert, die produktiven Herausforderungen postmoderner Autoren für die Geschichtswissenschaft konzediert und dennoch ein energisches Plädoyer für historische Wahrheit als regulative Idee und den Versuch angemessener Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit formuliert. Evans war im Jahr 2000 Gutachter in dem Aufsehen erregenden Prozess gegen den Holocaust-Relativierer David Irving in London. Das Urteil gegen Irving fand in der britischen Presse ein enormes Echo und wurde als Sieg der historischen Wissenschaft über die Gemeinde der europäischen Rechtspopulisten mit revisionistischen Geschichtsbildern gefeiert. Ähnlich hat Ernst Hanisch zwar die weiterführenden Anstöße postmoderner Autoren betont, ihren radikalen Vertretern aber nachdrücklich die Leviten gelesen, weil es dort eine Hierarchie des Relevanten und weniger Relevanten nicht mehr geben, weil jede Deutung ihr Recht haben und keine privilegiert sein soll. Auch Georg G. Iggers hat im Streit mit Hayden White, einem der profilierten Vertreter der Postmoderne in der Historiographie, an einige Maximen erinnert, die nicht zur Disposition stehen können. Historische Forschung hat demnach "trotz aller ideologischen Variationen eine Übereinkunft getroffen über bestimmte Standards der Behandlung von Quellen und der Form der Auseinandersetzung. Ungeachtet der Bedeutung der Vorstellungskraft bei der Konstruktion wissenschaftlicher Darstellungen sind solche Darstellungen nicht vollständig oder vorrangig ausgedacht, sondern verlangen eine intensive Forschung, deren Methoden und Schlussfolgerungen innerhalb einer Gemeinschaft von Forschern der Gegenstand einer genauen Prüfung sind" . Dies ist Teil eines rationalen Diskurses von - im Sinne Kants - mündigen Individuen. Gäbe es nicht abstruse Verirrungen, so müsste an derlei Selbstverständlichkeiten nicht erinnert werden.

In der Zeitgeschichte wird für jedermann besonders unmittelbar erfahrbar, wie die Gegenwart die Geschichte immer wieder einholt und konditioniert. So haben die Revolution von 1989 und das Ende des Kommunismus in Europa die Determinanten unserer Interpretationen und historischen Urteile gravierend verschoben, alte Themen obsolet gemacht und neue in den Vordergrund gerückt. Lexikalische Großunternehmen wie das seit 1966 erschienene mehrbändige "Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft", das sich in Lehre und Forschung immer gut als Diskussionseinstieg eignete, sind über Nacht entwertet worden und nur noch von historiographiegeschichtlichem Interesse. Die zeitgebundenen und nicht nur interessegeleiteten Grenzen historischer Erkenntnis und sozialwissenschaftlicher Prognosefähigkeit sind uns 1989 auf drastische Weise vor Augen geführt worden. Das kann zu heilsamer Bescheidenheit mahnen, führt aber nicht die Suche nach Wahrheit als regulativer Maxime ad absurdum. Diese hat zudem methodische Konsequenzen. Denn ohne diese Maxime würden z.B. alle Bemühungen der Gedenkstätten um Dokumentation originaler Ausstellungsstücke statt Inszenierung imaginierter Vergangenheit belanglos.

Aber auch eine andere, in meinen Augen besonders wichtige und unverzichtbare Funktion wissenschaftlicher Zeitgeschichte ginge verloren - nämlich die, auf der Sperrigkeit ihres Gegenstandes zu insistieren, Sand im Getriebe zu sein und statt flinker Formeln und spektakulärer Etikettierungen auf der mühsam zu erschließenden Komplexität vergangener Wirklichkeit zu beharren. Der Zweifel gehört zu den Tugenden der Aufklärung. Dieses Beharren auf Komplexität bedeutet auch eine Portion Skepsis gegenüber der immer wieder und keineswegs zu Unrecht erhobenen Forderung nach sprachlicher Gefälligkeit, plastischer Beschreibung und biographischer Konkretion statt "Präparieren von Strukturen" . Solche Alternativen zu konstruieren führt in die Irre. Übergreifende Determinanten und Strukturen einerseits und individuelle menschliche Handlungsweisen, Wahrnehmungen und Erfahrungen andererseits miteinander zu "verrechnen" ist die Aufgabe der historischen Wissenschaft. Das bleibt eine der schwierigsten Operationen in der Rekonstruktion von Vergangenheit. Der oft zitierte Satz aus Marx' "Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" hat von seiner Gültigkeit wenig verloren: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen." Dass das zeitweilig fast vergessene Genre der Biographie gegenüber puren Strukturanalysen große Vorzüge bietet und zur Erklärung komplexer, schwer verstehbarer Zusammenhänge beitragen kann, hat Ulrich Herberts Best-Biographie als ein markantes Beispiel aus der jüngsten Zeitgeschichte gezeigt.

Gerade angesichts solcher Komplexität ist jedes "Lernen aus der Vergangenheit" schwierig und in einem naiven Sinne ohnehin unmöglich. Wer jemals einen Schulbuchtext verfasst oder am Drehbuch für einen Film beratend mitgearbeitet hat, weiß, wie verzweiflungsvoll der Zwang zur Komplexitätsreduktion oder die Abhängigkeit vom filmischen Material alle hoch gespannten Ambitionen zunichte machen. Dennoch sollten hier keine falschen Gegensätze konstruiert werden. Audiovisuelle Medien sind nicht nur unverzichtbare zeitgeschichtliche Quellen, deren Erschließung und Methodenreflexion allmählich auch die Zunft erreicht hat, sie sind auch - richtig platziert - hervorragende Instrumente historisch-politischer Aufklärung, weil sie einen breiten Rezipientenkreis erreichen können und andere Wirkungsmöglichkeiten besitzen. Filmische Bildsequenzen haben eine eigene Dynamik, die auch der Wissenschaft enorme Chancen bietet. In ihren unterschiedlichen Zugangsweisen und Präsentationsformen können sie ohne falsche Pädagogisierung zumindest dazu beitragen, elementare Einsichten gegen quer liegende eigene Erfahrungen zu fördern und die politische Kultur zu verändern.

2. "Historisierung" als methodisches und interpretatorisches Problem ist, wenn ich es richtig sehe, erstmals 1983 von Martin Broszat in seinem Aufsatz über die "Spannung zwischen Bewerten und Verstehen der Hitler-Zeit" in die Debatte eingeführt worden , obwohl dahinter eine viel ältere Grundsatzfrage steht. Historisierung meinte für Broszat vor allem, den zwölf Jahren der NS-Zeit nicht länger eine falsche negative Zentralisierung in der gesamten deutschen Geschichte einzuräumen, von der aus sich die vorangegangenen und nachfolgenden Phasen primär als vor- und nachfaschistisch darstellen. Statt dessen sollte die Geschichte der politischen Diktatur in einen größeren zeitlichen Kontext eingeordnet werden, um damit auch Kontinuitäten und Brüche besser sichtbar zu machen. Das bedeutete zugleich, von der lange Zeit vorherrschenden Pädagogisierung der NS-Zeit unter dem Aspekt politischen Lernens Abschied zu nehmen. "Die lautstarke Distanzierung, die so lange erfolgte und noch geschieht, muss verträglich gemacht werden mit einer recht verstandenen historischen Aneignung dieser Zeit, die kritisches und verstehendes Vermögen verbindet." Ziel war die historische Befreiung mancher ereignis- und personengeschichtlicher Perspektiven aus dem Zwangskorsett der Vorstellung einer alles erfassenden Gewaltherrschaft. Analytische Kritik an langfristigen Fehlentwicklungen und ambivalenten Entwicklungspotenzialen wird im Postulat der Historisierung verbunden mit elementarem Bemühen um Verstehen zutiefst widersprüchlicher Konstellationen, d.h. der Gleichzeitigkeit von Verbrechensdimensionen ungeheuren Ausmaßes und trivialer Normalität des Lebens in der Diktatur. Broszats Verstehens-Begriff beruhte auf einer kritischen, aufklärerischen Position und hob sich damit deutlich ab von dem des Historismus. Es ging ihm darum, "die scharfe Spannung zwischen den beiden Elementen des ,Einsehens', dem Verstehen-Wollen und der kritischen Distanzierung" auszuhalten und weder in eine Pauschal-Distanzierung noch in ein relativierendes, amoralisches Nur-Verstehen zu flüchten.

In anderer Weise ist das seinerzeit vielen Missverständnissen ausgesetzte Konzept einer kritischen Historisierung auch zu einem zentralen Element der seit 1990 intensivierten Aufarbeitung kommunistischer Diktaturen geworden. Ihre lange Dauer und die inneren Wandlungsprozesse haben es sicherlich erschwert, sie analog zu den nur zwölf Jahren Nationalsozialismus als quasi überhistorisch aus der Geschichte der Staaten und Gesellschaften auszuklammern und zu stigmatisieren. Die Grenzen des Diktaturvergleichs sind insbesondere im Hinblick auf die DDR deutlich geworden. Eine Historisierung ist hier bereits viel früher als für den Nationalsozialismus gefordert und praktiziert worden. Eine moralische Relativierung des Diktaturcharakters mag angesichts der nicht wirklich vergleichbaren Verbrechensdimensionen zwar nahe liegen, und Beispiele dafür gibt es genügend. Die eigentliche methodische Herausforderung für die historische Forschung liegt jedoch in der Aufgabe, die DDR - und für andere Länder gilt das ebenso - nicht nur von ihrem Ende und auch nicht von ihren vermeintlich guten Anfängen einer in der Tradition der europäischen Aufklärung stehenden sozialistischen Alternative zu interpretieren, sondern sie gewissermaßen aus der Mitte heraus mit einem für die Zeitgenossen noch scheinbar offenen Entwicklungspotenzial zu rekonstruieren und zu verstehen. Strukturanalyse und Erfahrungsgeschichte erweisen sich hier als zwei notwendige und komplementäre Seiten einer Medaille, um zu verstehen, wie es eigentlich gewesen sein könnte, aber auch, um eine solche komplexere Einsicht zu vermitteln. Andernfalls bleibt es bei der Dichotomie plakativer genereller Anklage oder nostalgischer, selektiver Erinnerung und einem Geschichtsbild, das Zeitgenossen kaum wirksam zu vermitteln ist, da es zentralen eigenen Erfahrungen widerspricht.

3. Mein drittes Feld "Erinnerung und Zeitgeschichte" ist sicher das komplizierteste und gegenwärtig meist diskutierte. Es ist ein Kernproblem, mit dem sich Zeithistoriker sehr viel intensiver als die Fachleute für andere Epochen auseinander zu setzen haben. Denn sie sind permanent mit der Deutungskonkurrenz zwischen persönlicher Erinnerung und wissenschaftlicher Zeitgeschichtsschreibung konfrontiert. Gerade weil das neue Interesse an Gedächtnis, Erinnerung und Memorialisierung bei bestimmten zeithistorischen Themen schon nahezu inflationäre Züge angenommen hat, sollte eine systematische Problematisierung stattfinden. Es geht um den Konflikt zwischen dem oft stark emotional bzw. moralisch - anklagend oder rechtfertigend - geprägten Duktus der persönlichen Erinnerung und dem rationalen Anspruch der Forschung auf Erklärung. Zeitgeschichte begreift sich hier als Antipode zur unreflektierten Erinnerung. Sie hat die Aufgabe der rationalen Kontrolle der Erinnerung und der Disziplinierung des Gedächtnisses. Die Spannung zwischen den objektivierenden Methoden sowie dem Verstehens- und Aufklärungsimpuls der Fachwissenschaft und dem Wunsch nach klarem Verdammungsurteil auf Seiten der Opfer ist letztlich nicht aufhebbar. Sie ist ein Spezifikum der Zeitgeschichte.

Ein besonderes Element kommt hinzu: Zeithistoriker sind auch Zeitgenossen mit eigenen Erfahrungen, die sich nicht einfach eliminieren lassen. Gerade das macht sie als professionelle Fachleute im Vergleich zu Historikern anderer Epochen viel angreifbarer. Der Umgang mit dem im akademischen Milieu emotional stark aufgeladenen Datum "1968" ließe sich hier als markantes Beispiel anführen.

Dieses generelle Problem der Spannung zwischen persönlicher Erinnerung und wissenschaftlicher Zeitgeschichte nur als Alternative zu verstehen führt jedoch, wie Konrad Jarausch betont hat, in eine Sackgasse, gerade wenn es der Wissenschaft um Aufklärung geht. Denn "eine die lebendige Erinnerung ignorierende Geschichtswissenschaft läuft Gefahr, der Öffentlichkeit durch die Autorität der Wissenschaft ihre Sprachregelung aufzuzwingen, ohne die Bevölkerung wirklich überzeugen zu können", solange das zähe Weiterleben von unreflektierten Erinnerungsbeständen nicht aufzubrechen ist. Wie aber lässt sich dieses Dilemma lösen? Zumindest sind selbst diffuse Erinnerungen von der Forschung ernster zu nehmen und selber zu thematisieren. Die Durchsetzung eines kritischen Geschichtsverständnisses in der Gesellschaft kann nur durch eine Hinterfragung populärer Erinnerungen gelingen. Dazu gehört etwa auch Martin Walsers "Geschichtsgefühl" . Trotz aller Defizite hat Deutschland hier im Hinblick auf das "Dritte Reich" einige Erfolge zu verbuchen. Für die DDR scheint mir der Befund noch keineswegs klar.

Hans Günter Hockerts hat für diesen Zusammenhang die begriffliche Trias "Primärerfahrung, Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft" als typologisierenden Zugang zur Zeitgeschichte vorgeschlagen. Dabei meint Primärerfahrung die selbst erlebte Vergangenheit, Erinnerungskultur die Gesamtheit eines nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs von Geschichte in der Öffentlichkeit mit unterschiedlichsten Mitteln und zu verschiedenen Zwecken. Dass "Geschichte als Waffe" eingesetzt wird, ist zwar kein Spezifikum von Zeitgeschichte, aber doch ein besonders häufiges und für die politische Kultur aller Länder interessantes Phänomen. Fachwissenschaftliche Interventionen stoßen hier schnell an Grenzen. Konstitutiv für die Wissenschaft ist, dass sie Standards eines "systematischen, regelhaften und nachprüfbaren Wissenserwerbs" entwickelt hat. Sie ist sich auch der Standortgebundenheit historischer Erkenntnis bewusst und legt Prämissen mehr oder minder explizit offen. Zumindest sollte sie das tun. Strittig werden und bleiben dagegen Verknüpfungen, Einordnungen, Gewichtungen - und sie lassen sich selten nur mit fachwissenschaftlichen Kriterien entscheiden. Hier hat nicht nur die Multiperspektivität ihren legitimen Platz. Hier kann es auch nicht die immer wieder erwartete "Objektivität" geben, weil kein Fixpunkt außerhalb der Zeit existiert. Wohl aber muss intersubjektive Überprüfbarkeit im wissenschaftlichen Diskurs als Kontrolle und Korrektur dienen. "Erinnerungsvielfalt heißt nicht, alles für erlaubt zu erklären. Die Fachkompetenz kann dazu beitragen, dass Pluralität nicht zur Beliebigkeit verkommt" und Legenden entschieden entgegen getreten wird.

Gegen die mittlerweile inflationär gewordene Redeweise vom "kollektiven Gedächtnis" oder "kollektiver Erinnerung" hat Reinhard Koselleck bedenkenswerte Skepsis angemeldet. Denn wer kollektive Erinnerung sucht, setzt ein kollektives Handlungssubjekt voraus, das sich auch kollektiv erinnern kann. Damit tauchen jene hypostasierten Handlungsträger auf (Klasse, Volk, Nation, Partei, Verband usf.), welche "die Vielfalt persönlicher Erinnerungen verschlucken und als kollektive Einheit wieder von sich geben". Er plädiert für das "Vetorecht der je persönlichen Erfahrung, die sich gegen jede Vereinnahmung in ein Erinnerungskollektiv sperrt. Und es gehört zur oft beschworenen und ebenso oft vergeblich beschworenen Würde des Menschen, dass er einen Anspruch auf seine eigene Erinnerung hat" . Sekundäre Erinnerungen reichen demgegenüber weiter zurück, sind nicht mehr unmittelbar erfahrungsgesättigt und in besonderem Maße für Deutungen und Nachbesserungen offen. Kosellecks "Vorschlag zur Behutsamkeit" lautet: "Es gibt keine kollektive Erinnerung, wohl aber kollektive Bedingungen möglicher Erinnerungen. So wie es immer überindividuelle Bedingungen und Voraussetzungen der je eigenen Erfahrungen gibt, so gibt es auch soziale, mentale, religiöse, politische, konfessionelle Bedingungen - nationale natürlich - möglicher Erinnerungen. Sie wirken dann als Schleusen, durch die hindurch die persönlichen Erfahrungen gefiltert werden, sodass sich klar unterscheidbare Erinnerungen festsetzen. Die politischen, sozialen, konfessionellen oder sonstigen Voraussetzungen begrenzen also die Erinnerungen und geben sie zugleich frei."

Vielleicht ist dies ein Ansatz, um dem strukturellen Dilemma zwar nicht zu entkommen, aber angemessen mit ihm umzugehen.

IV. Europäische Zeitgeschichte als Problem

Eine methodisch und inhaltlich verzweifelt schwierige Herausforderung bleibt eine europäische Erweiterung von Zeitgeschichte, die nicht nur ein Etikettenschwindel ist. Mit dem Ende des sowjetkommunistischen Systems in Europa 1989/91 hat sich ein gravierender, wenn auch in seinen Konsequenzen noch kaum voll überschaubarer Wandel vollzogen. Der Ost-West-Konflikt als globale Systemkonfrontation, die zentrale Determinante der äußeren und inneren Entwicklungen in Europa, ist trotz immer noch erheblicher Nachwirkungen beendet. Seine historisch-politische Prägekraft wird aber erst aus der Rückschau in ihrer Reichweite voll erkennbar.

Was seinerzeit in der plakativen Gegenüberstellung von "Abendland und Bolschewismus" oder aus östlicher Sicht von "Imperialismus und Friedenslager" eine hochgradig ideologisierte politische Dichotomie kennzeichnete, wird heute in seinen Konsequenzen als historisches Problem in ganz anderer Weise wieder aktuell. Denn die von den ostmitteleuropäischen Staaten als Ziel formulierte "Rückkehr nach Europa" knüpft dort an, wo das Unheil begann: 1939 und 1945. Die sukzessive Auflockerung der sowjetischen Herrschaft durch die Entspannungspolitik, durch Glasnost und Perestroika sowie schließlich durch die revolutionäre Selbstbefreiung 1989 hat dem Ruf "Rückkehr nach Europa" jenseits ideologischer Wunschvorstellungen erst eine konkrete Basis verliehen. Dabei geht es primär um handfeste politische und ökonomische Ziele wie die Vorbereitung des Beitritts zur EU. Die vor allem von Politologen. Soziologen und Ökonomen betriebene Transformationsforschung geht den strukturellen Faktoren nach, die den Übergang in eine neue Periode ermöglichen sollen oder ihm auch im Wege stehen. Nur am Rande tauchen dabei die vielfältigen historischen Bedingungen und Ausgangskonstellationen auf, ohne deren genaue Kenntnis der unterschiedliche Verlauf und die nationalen Besonderheiten des Transformationsprozesses - und damit auch der künftigen Chancen und Probleme der Integration - unverständlich bleiben müssen.

Im weiteren Sinne gehört dazu die Rückbesinnung auf lange Zeit mehr oder minder unterdrückte nationale Traditionen. Diese Rückbesinnung präsentiert sich gegenwärtig auf unterschiedlichen Ebenen und ebenso in produktiven wie in fatalen Formen. Die krisenhaften ökonomischen und sozialen Begleiterscheinungen der Transformation verleihen nationalistischen Strömungen im Zeitalter der Globalisierung eine gefährliche Resonanz und Bindekraft als Integrationsideologie. Auf der anderen Seite gibt es überall einen unübersehbaren Prozess der selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, ihren "weißen Flecken" und verordneten Interpretationen, mit der vergessenen oder oft geschönten Beziehungsgeschichte zu Nachbarn oder Minderheiten im eigenen Lande. Der Name Jedwabne ist hier symptomatisch. Die beginnende Aufarbeitung des traumatisch belasteten Themas Flucht und Vertreibung in Polen, aber auch der Folgen der sowjetischen Herrschaft in Osteuropa in allen Facetten sind eindrucksvolle Beispiele. Dass die im Kalten Krieg mit formaljuristischen Argumenten zu den Akten gelegte Entschädigung der Zwangsarbeiter in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft nun endlich - wie unbefriedigend auch immer - gelöst ist, ist ebenfalls ein europäisches Thema aus der Nach-Geschichte des NS-Systems.

Eine von engen ideologischen Vorgaben und unreflektierten Prägungen befreite Diskussion zeitgeschichtlicher Themen offenbart die Variationsbreite nationaler Periodisierungen und Zäsurbil- dungen. Sie entsprechen den jeweiligen Erfahrungsgeschichten, müssen aber in der zeithistorischen Reflexion mit generellen, übergeordneten europäischen Determinanten in Beziehung gesetzt werden. Abgesehen von den Problemen einer begrifflichen Bestimmung erweist sich der Periodisierungsrahmen von Zeitgeschichte fast überall extrem unterschiedlich. Die Opfererfahrungen im Zweiten Weltkrieg und die Erinnerung an den Widerstand, also die Formen nachdrücklicher Betroffenheit, sind dagegen am ehesten gemeinsame Bezugspunkte einer europäischen Zeitgeschichte, die auch erklären können, warum die Kritik an Kollaboration und Beteiligung an der Judendeportation sich erst mit großer zeitlicher Verspätung und öffentlicher Resonanz zu Wort melden konnte.

Eine "Rückkehr nach Europa" gibt es in anderer Weise auch für Westdeutschland und Westeuropa. Dabei wird nicht zuletzt eine tief greifende Revision eines Europa-Begriffs nötig sein, der unter dem dominierenden Einfluss des Kalten Krieges und der "Rheinischen Republik" Europa an der Oder, wenn nicht gar an der Elbe enden ließ. Die Bereitschaft, die prekären wirtschaftlichen und politischen Folgen dieser Rückkehr nach Europa zu akzeptieren - auch wenn sie zunächst unbequem sind -, ist bisher nicht sehr ausgeprägt. Die weitgehend abgerissenen historischen Verbindungen lassen sich nicht schnell wiederherstellen, zumal eine offenkundige Renationalisierung dem längst etablierten Trend zum Transnationalen zuwiderläuft. Zeithistoriker sollten hier mit Nachdruck an die eingangs genannten unspektakulären Verdienste der Dissidenten erinnern. Transnationale, vergleichende oder beziehungsgeschichtliche Forschungsprojekte werden oft gefordert. Dieses Postulat einzulösen bleibt ein weites, aber lohnendes Feld.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Gekürzte Fassung eines Vortrags auf der Konferenz des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF): "Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Historische Kontroversen und politische Kultur nach 1945", Potsdam, 20. Juni 2002. Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift, 1784, S. 516.

  2. Vgl. Georg G. Iggers, Zur "linguistischen Wende" im Geschichtsdenken und in der Geschichtsschreibung, in: Geschichte und Gesellschaft, 21 (1995), S. 557-570; Peter Schöttler, Wer hat Angst vor dem "linguistic turn"?, in: ebd., 23 (1997), S. 134-151. Eine differenzierte Kritik bei Richard J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt/M. 1998.

  3. Vgl. Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, 2 Bde., München 2001.

  4. Karl-Ernst Jeismann, Geschichtsbewusstsein, in: Handbuch der Geschichtsdidaktik, hrsg. von Klaus Bergmann u. a., Düsseldorf 1985, S. 40.

  5. Peter Esterhazy, Harmonia Caelestis, Berlin 2001.

  6. Wolfgang Eichwede, Kinder der Aufklärung, in: Kafka. Zeitschrift für Ostmitteleuropa, (2001) 3, S. 8 - 13; ders., Archipel Samizdat, in: Forschungsstelle Osteuropa (Hrsg.), Samizdat. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa. Die 60er bis 80er Jahre, Bremen 2000, S. 15.

  7. Vgl. Opferverbände kritisieren Ausstellung. Presseerklärung der UOKG (Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft). Opfer des SED-Regimes warnen vor Geschichtsfälschung! Zur Eröffnung des Museums für das ehemalige "Speziallager 07" Sachsenhausen am 9. Dezember 2001, in: Oranienburger Generalanzeiger vom 6. 12. 2001.

  8. Z. T. reagiert man hier auch auf Provokationen der tschechischen Seite; vgl. Prag: Vertreibung eine gute Sache, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. 5. 2002

  9. Vgl. Windfried Schulze/Gerhard Oexle (Hrsg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1999.

  10. Vgl. Christoph Klessmann, DDR-Historiker und "imperialistische Ostforschung", in: Deutschland Archiv, 35 (2002), S. 13-31.

  11. Vgl. Bogdan Musial, Kritische Anmerkungen zur Wehrmachtsausstellung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZG), 47 (1999), S. 563 - 591.

  12. Vgl. Reinhard Grimmer u. a. (Hrsg.), Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS, 2 Bde., Berlin 2002; vgl. die kritische Rezension von Karl Wilhelm Fricke in: Deutschland Archiv, 35 (2002), S. 856 ff.

  13. Hans Rothfels, Die Aufgaben der Zeitgeschichte, in: VfZG, 1 (1953), S. 1-13.

  14. Vgl. die Nachweise bei Christoph Klessmann, Zeitgeschichte in Deutschland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Essen 1998, S. 53, Anm.

  15. Hans-Peter Schwarz, Fragen an das 20. Jahrhundert, in: VfZG, 48 (2000), S. 1-36.

  16. Vgl. Christoph Klessmann, Verflechtung und Abgrenzung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/93, S. 30-41.

  17. Vgl. Hartmut Lehmann (Hrsg.), Historikerkontroversen, Göttingen 2000, S. 11 f.

  18. Die Beispiele wurden auf der Konferenz des ZZF in Potsdam "Zeitgeschichte als Streitgeschichte" im Sommer 2002 behandelt. Die Veröffentlichung der Beiträge ist in Vorbereitung. Anmerkung der Redaktion: Vgl. auch den Beitrag von Michael Gehler in diesem Heft.

  19. Vgl. R. J. Evans (Anm. 2).

  20. Vgl. ders., Der Geschichtsfälscher. Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozess, Frankfurt/M. 2001.

  21. Vgl. Ernst Hanisch, Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und Literatur, in: Wolfgang Hartwig/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 212-230.

  22. Georg G. Iggers, Historiographie zwischen Forschung und Dichtung, in: Geschichte und Gesellschaft, 27 (2001), S. 327-340, hier S. 340.

  23. Ein makabres Beispiel war die Ausstellung im Jüdischen Museum "Mirroring Evil" mit Computermontagen und einem Lego-KZ in New York. Vgl. Hallo Jerusalem, ich entschuldige mich, in: Tagesspiegel vom 17. 3. 2002, S. 25.

  24. Joachim Fest, Literatur ohne Heilsplan. Über den Umgang mit der Geschichte, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. 2. 2000 (Beilage).

  25. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW Bd. 8, S. 115.

  26. Vgl. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903 - 1989, Bonn 1996.

  27. Vgl. Jürgen Wilke (Hrsg.), Massenmedien und Zeitgeschichte, Konstanz 1999.

  28. Vgl. Martin Broszat, Eine Insel der Geschichte? Der Historiker in der Spannung zwischen Verstehen und Bewerten der Hitler-Zeit, in: ders., Nach Hitler, München 1988, S. 208-215.

  29. Ebd., S. 215. In seinem einiges Aufsehen erregenden Plädoyer für die Historisierung im "Merkur" 1985 hat Broszat seine Überlegungen weiter ausgeführt und an thematischen Beispielen entwickelt.

  30. Vgl. Martin Broszat/Saul Friedländer, Um die "Historisierung des Nationalsozialismus". Ein Briefwechsel, in: VfZG, 36 (1988), S. 339-372, hier S. 341.

  31. Vgl. Konrad Jarausch, Nachdenken über die DDR, in: Berliner Debatte INITIAL, (1995) 4 - 5, S. 9 - 15, hier S. 11. Anmerkung der Redaktion: vgl. auch den Beitrag von Peter Steinbach in diesem Heft.

  32. Vgl. Konrad Jarausch, Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskonkurrenz oder Interdependenz?, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow, Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt/M.-New York 2002, S. 21.

  33. Vgl. etwa Hermann Lübbes Polemik gegen die "Achtundsechziger": Der Mythos der "kritischen Generation. Ein Rückblick" in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 20/88, S. 17-25; oder Klaus Hildebrands Darstellung und Wertung in seinem Band der Geschichte der Bundesrepublik: Von Erhard zur Großen Koalition 1963 - 1969, Stuttgart 1984.

  34. K. Jarausch (Anm. 32), S. 32.

  35. Vgl. Martin Walser, Über ein Geschichtsgefühl. Vom 8. Mai 1945 zum 9. November 1989. Die Läuterungsstrecke unserer Nation führt nach Europa, in: Der Tagespiegel vom 10. 5. 2002.

  36. Vgl. Hans Günter Hockerts, Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: K. Jarausch/M. Sabrow (Anm. 32), S. 41.

  37. Vgl. Edgar Wolfrum, Geschichte als Waffe, Göttingen 2001.

  38. H. G. Hockerts (Anm. 36), S. 30.

  39. Reinhard Koselleck, Gebrochene Erinnerung? Deutsche und polnische Vergangenheiten, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 2000, S. 19 - 32, hier S. 21.

  40. Ebd., S. 20.

  41. Vgl. Wolfgang Schieder, Gibt es eine europäische Zeitgeschichte? Vortrag im ZZF am 6. 6. 2002. Dazu erscheint im Sommer 2003 ein von W. Schieder herausgegebenes Sonderheft von "Geschichte und Gesellschaft" mit dem Titel: "Zeitgeschichte im europäischen Vergleich".

Weitere Inhalte

Dr. phil., geb. 1938; seit 1996 Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Potsdam.

Anschrift: Zentrum für Zeithistorische Forschung,
Am Neuen Markt 1, 14467 Potsdam.

Veröffentlichungen u.a.: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945 bis 1955, Bonn 19915; Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955 bis 1970, Bonn 1997³.