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Institutionen und Erinnerungen

Kai Ambos

/ 7 Minuten zu lesen

Ein Staat muss sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen und Unrecht aufarbeiten. Nur so können Täter und Opfer zusammenleben. Welche Maßnahmen werden ergriffen, um Gerechtigkeit zu schaffen? Wie hat sich die Strafverfolgung durch internationale Strafgerichte in den letzten Jahren verändert?

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag ist das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen. Seine Funktionsweise und Zuständigkeit sind in der UN-Charta geregelt. Der Internationale Gerichtshof wurde 1945 gegründet. Er ging aus dem von 1922 bis 1946 bestehenden Ständigen Internationalen Gerichtshof hervor. (© AP)

Die Aufarbeitung der Unrechtsvergangenheit eines Staates ist Voraussetzung für die Etablierung einer neuen Rechts- und Gesellschaftsordnung und für die Entwicklung von Frieden und Aussöhnung. Im Rahmen dieses Prozesses werden unterschiedliche Maßnahmen ergriffen, um begangenes Unrecht aufzudecken, Gerechtigkeit zu schaffen und ein Zusammenleben der (ehemaligen) Konfliktparteien zu ermöglichen. Insbesondere die Strafverfolgung durch internationale oder gemischte Strafgerichte und die Schaffung von Wahrheitskomissionen haben in den letzten 15 Jahren an Bedeutung gewonnen.

I. Warum erinnern?

Die Auseinandersetzung eines Staates mit seiner Vergangenheit, die Erinnerung und Aufarbeitung schweren Unrechts, wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, ist essentiell für das zukünftige Zusammenleben von Tätern und Opfern. Vergebung und Versöhnung kann nur in einem Klima entstehen, in dem die Opfer ihr Recht auf Wahrheit und juristisch-politische Aufarbeitung der Unrechtstaten, zumindest durch öffentliche Konfrontation mit den Tätern, durchsetzen können. Dabei ist die Aufdeckung des Geschehenen nicht nur ein privates Recht der Opfer und deren Angehöriger, sondern auch ein kollektives Recht, dass der Gesellschaft den Zugang zu Informationen sichert, die zur identitätsstiftenden Grundlage des neu zusammenwachsenden Staates werden. Ohne eine solche individuelle und gesellschaftliche Aufarbeitung des Konflikts ist ein Rückfall in alte Gewaltstrukturen kaum zu verhindern. So gesehen bedeutet Erinnerung also auch Konfliktprävention.

II. Institutionen und Erinnerung

Um den Opfern der genannten internationalen Kernverbrechen (wenigstens) Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müssen (mindestens) die Hauptverantwortlichen der Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.Die strafrechtliche Verfolgung der Führungstäter ist als ein zentraler Mechanismus der Vergangenheitsbewältigung in Prozessen des Übergangs von einer Diktatur zur Demokratie, vom Krieg (bewaffneten Konflikt) zum Frieden (kurz: Transitionsprozessen) anzusehen. Die 1990er Jahre waren geprägt von den, vom UN-Sicherheitsrat eingesetzten, Ad-hoc Straftribunalen für Jugoslawien und Ruanda. Als Folge der zunehmenden Internationalisierung der Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen sind zudem inzwischen in zahlreichen Staaten so genannte gemischte oder hybride Tribunale entstanden.

Diese Tribunale werden als "gemischt" bezeichnet, weil sie eine gemischt national-internationale Rechtsgrundlage haben und aus nationalen und internationalen (ausländischen) Staatsanwälten und Richtern bestehen. Sie wurden entweder als Teil einer UN-Übergangsverwaltung (Kosovo, Ost Timor), auf Grund bilateraler Abkommen mit der UNO (Sierra Leone, Kambodscha, Libanon) oder auf Grund Besatzungsrechts (Irak) geschaffen. Im Jahr 2002 hat zudem der durch völkerrechtlichen Vertrag geschaffene Internationale Strafgerichtshof (IStGH) seine Arbeit in Den Haag aufgenommen. Er ist für die genannten Kernverbrechen (Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen) und –vorbehaltlich einer späteren Definition– das Verbrechen des Angriffskriegs zuständig. Der Gerichtshof hat automatisch Gerichtsbarkeit, wenn der Tatort- oder der Täterstaat Vertragspartei seines Statuts ist . Er wird aufgrund eines Verweises eines Vertragsstaats, des UN-Sicherheitsrats oder von Amts wegen tätig . Für die aktuell 108 Vertragsstaaten des IStGH besteht jedenfalls eine Pflicht zur Strafverfolgung der Kernverbrechen.

Die nationale und/oder internationale Strafverfolgung wird vielfach durch die Einsetzung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen ergänzt. Diese Kommissionen werden in der Regel von der Regierung für einen befristeten Zeitraum zur Ermittlung und Untersuchung der Tatsachen eingesetzt. Sie können deshalb auch als interdisziplinäre Tatsachenfindungsinstanzen bezeichnet werden. Die Strukturen dieser Kommissionen, ihre Kompetenzen und Befugnisse, sind so unterschiedlich wie die Situationen der Staaten, in denen sie eingesetzt werden . Ihr Hauptzweck ist es, den Opfern und ihren Angehörigen die Möglichkeit zu geben, über die an ihnen begangenen Verbrechen zu berichten, Wiedergutmachung einzufordern, die Verbrechen offen zu legen und die Täter öffentlich zur Verantwortung zu ziehen . Ausgehend von Einzelschicksalen werden bei den Ermittlungen auch der Zusammenhang, in dem die Taten begangen wurden, und die kollektiven Erfahrungen berücksichtigt. So dienen die Kommissionen als Katalysator, um eine öffentliche Debatte über die Vergangenheitsbewältigung anzustoßen und zu fördern.

Wahrheits- und Versöhnungskommissionen versuchen die Vergangenheit aufzuarbeiten, indem sie eine Wahrheit herausarbeiten, die weit über die rein juristische, fallbezogene und prozessual begrenzte Wahrheit des Gerichtssaals hinausgeht . Obwohl auch dieser Ansatz einer "allumfassenden" oder "historischen" Wahrheitsfindung angesichts des Ausmaßes und der Dimension der Verbrechen immer unzureichend bleibt, so sind solche Kommissionen doch der Ausdruck eines ganzheitlichen Ansatzes, der zur Bewältigung der vielschichtigen Probleme in Transitionsgesellschaften notwendig ist.

III. Interessenkonflikte und Abwägungsprozesse

In Transitionsprozessen stehen sich grundsätzlich unterschiedliche Interessen gegenüber: Die Opfer des zu verarbeitenden Konflikts verlangen nach Gerechtigkeit und wollen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen sehen . Diese aber nehmen, häufig von der Macht ihrer Gewehre unterstützt, an Friedensverhandlungen teil und legen dabei mit der Forderung nach Straffreiheit ihr persönliches Schicksal in die Waagschale. Einerseits können die Täter in vielen Fällen nicht von den Verhandlungen ausgeschlossen werden, ohne den gesamten Friedensprozess selbst zu gefährden, andererseits verleiht man ihnen mit ihrer Rolle in den Verhandlungen und mit weitgehenden Konzessionen eine unverdiente Legitimation. Das Dilemma ist selten für alle Beteiligten zufriedenstellend zu lösen, immerhin können aus inzwischen vielen Erfahrungen einige Lehren gezogen werden.

Ein Tausch von Straffreiheit gegen Frieden mit dem damit einhergehenden Verlust der Gerechtigkeit kann keinen positiven Frieden und damit keinen stabilen Staat hervorbringen. Der Umgang mit den Verbrechen der Täter, die nun vielleicht Verhandlungspartner sind, darf nicht einseitig zugunsten dieser und zu Lasten der Opfer ausfallen. Die Zulässigkeit eines Verzichts auf Strafverfolgung setzt eine differenzierte Abwägung der entgegenstehenden Interessen – Frieden auf der einen und Gerechtigkeit auf der anderen Seite – voraus.

Wer in diesem Zusammenhang für eine Amnestie plädiert, muss beweisen, dass diese für einen friedlichen Übergang, an dessen Ende ein demokratischer Rechtsstaat stehen soll, geeignet und erforderlich ist. Die Belohnung bestimmter Tätergruppen für ihre frühere Unterstützung durch Strafverzicht, kann nicht die Grundlage für ein zukünftiges friedliches Zusammenleben von Tätern und Opfern sein. Auch ist zu fragen, ob es nicht Maßnahmen gibt, die das Gerechtigkeitsinteresse weniger stark als eine Amnestie einschränken, aber ebenso wirkungsvoll im Hinblick auf das Erreichen eines stabilen Frieden sind. Zu denken ist insoweit etwa an Strafmilderungen oder besondere Formen der Strafvollstreckung. Wenn diese Maßnahmen gleich wirksam sind, muss ihnen der Vorzug gegeben werden. Aber selbst dann, wenn eine Amnestie zur Schaffung des Friedens unentbehrlich erscheint, müssen doch bestimmte abwägungsfeste Prinzipien beachtet werden:

  • Die völkerrechtlichen Verfolgungs- und Bestrafungspflichten bezüglich internationaler Kernverbrechen verbieten es grundsätzlich, eine Amnestie für diese Verbrechen zu gewähren.

  • Während eine Straffreistellung für die sog. – auf der unteren oder mittleren Befehlsebene angesiedelten – Ausführungs- und Organisationstäter unter Umständen zulässig sein kann, ist sie es für die Führungstäter nicht, insbesondere dann nicht, wenn diese die strafbefreienden Maßnahmen selbst beschlossen haben.

  • Es muss irgendeine Form der Zurechnung bzw. Zuschreibung von Verantwortlichkeit (accountability) geben. Sei es, dass die Täter im Rahmen einer Wahrheitskommission mit ihren Taten und den Opfern konfrontiert werden, oder sei es im Rahmen anderer Verfahren. In jedem Fall sollte die potentielle Straffreiheit oder jegliche sonstige Vergünstigung an die Kooperationswilligkeit der Täter geknüpft werden.

  • Schließlich müssen die übergreifenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Effekte einer – wie auch immer gearteten – Vergünstigung bewertet werden. Insbesondere ist zu fragen, ob völlige oder teilweise Straffreiheit zu einem dauerhaften, stabilen Frieden, wahrer Versöhnung und einer Konsolidierung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beitragen kann.

IV. Umfassende vs. bedingte Amnestie

Aus den genannten Gründen verbietet sich eine umfassende und bedingungslose Amnestie für die Kernverbrechen der Führungstäter . Durch eine solche Amnestie werden in der Regel jegliche Ermittlungen ausgeschlossen und damit die Interessen der Opfer vollkommen missachtet. Die Verarbeitung ihres Leids wird ihnen unmöglich gemacht, ihr Anspruch auf Gerechtigkeit und Wahrheit wird zur bloßen Fiktion. Aufarbeitung und Versöhnung können so nicht stattfinden. Ein trauriges Beispiel einer solch weitreichenden Amnestie ist das Lomé Friedensabkommen zwischen der Regierung von Sierra Leone und der Rebellengruppe Revolutionary United Front (RUF) aus dem Jahre 1999. Danach sollte die Regierung einen "absoluten und bedingungslosen Straferlass gewähren und alle Kombattanten und Kollaborateure im Hinblick auf jede Tat, die sie im Streben nach ihren Zielen begangen haben, begnadigen (...) . Zu Recht hat die Berufungskammer des UN-Sondertribunals für Sierra Leone diese Amnestie 1994 für völkerrechtlich unwirksam erklärt .

Eine bedingte Amnestie knüpft hingegen die Gewährung von Straflosigkeit an bestimmte Bedingungen. Als Mindestbedingung müssen die Kampfhandlungen sofort eingestellt werden. Zudem müssen die ehemaligen Täter über ihre Verbrechen aufklären und sie öffentlich bereuen. Dies trägt nicht nur zur Versöhnung mit den Opfern bei, sondern auch zur Rehabilitation und Reintegration der Täter in die neue Gesellschaft. Das wahrscheinlich bekannteste Beispiel einer solchen bedingten Amnestie ist aus Südafrika bekannt. Dort wurde eine Amnestie nur auf Antrag von einem Unterausschuss der Wahrheits- und Versöhnungskommission im Rahmen eines öffentlichen Verfahrens gewährt. Die Antragsteller wurden einer Prüfung unterzogen und mussten alle begangenen Verbrechen öffentlich gestehen. Insgesamt wurden in diesem Verfahren 7116 Amnestieanträge gestellt, von denen 1167 vollkommen und 145 zumindest teilweise stattgegeben wurden .

V. Fazit

Transitionsprozesse verlaufen höchst unterschiedlich. Das beginnt schon damit, dass der friedliche Übergang von einer Diktatur zu einer Demokratie, wie im Fall der Staaten des ehemaligen Ostblocks, nicht mit Postkonfliktsituation wie in Schwarzafrika vergleichbar ist. Deshalb gibt es auch keine Patentlösung für die Bewältigung von Transitionsprozessen. In jeder Situation bedarf es einer konkreten Abwägung der unterschiedlichen Interessen von Opfern und Tätern, von Gerechtigkeit und Frieden. Sicher ist aber, dass die völlige Missachtung von Gerechtigkeitserwägungen auf lange Sicht kein stabiles Fundament für eine entstehende, rechtsstaatliche Demokratie bilden kann.

Links

International Criminal Court Externer Link: www.icc-cpi.int

International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia Externer Link: www.un.org

International Criminal Tribunal for Rwanda Externer Link: http://69.94.11.53/

Special Court for Sierra Leone Externer Link: www.sc-sl.org

Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia Externer Link: www.eccc.gov.kh

Special Tribunal for Lebanon Externer Link: www.un.org

Coalition for the International Criminal Court Externer Link: www.iccnow.org

Abteilung ausländisches und internationals Strafrecht, Institut für Kriminalwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen Externer Link: http://lehrstuhl.jura.uni-goettingen.de

Quellen / Literatur

Ambos, Kai, Internationales Strafrecht, München: C.H.Beck, 2. Auflage 2008.

Ambos, Kai, The legal framework of Transitional Justice, in Ambos/Large/Wierda (eds.), Building a Future on Peace and Justice. Studies on Transitional Justice, Peace and Development, Berlin: Springer 2009 (im Erscheinen).

Ambos, Kai, Die Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs, Aus Politik und Zeitgeschichte 42/2006, S. 10-17.

Hayner, Priscilla B., 'Truth commissions: a schematic overview' (2006) 88 International Committee of the Red Cross International Review, S. 295-310.

Sarkin, Jeremy, 'The Amnesty Hearings in South Africa Revisited' in Werle, (Hrsg.), Justice in Transition – Prosecution and Amnesty in Germany and South Africa, Berlin: BWV 2006, S. 43-53.

Ssenyonjo, Manisuli, 'The International Criminal Court and the Lord´s Resistance Army Leaders: Prosecution or Amnesty ?' (2007) 7 International Criminal Law Review, S. 361-389.

Vinck, Patrick; Pham, Phuong; Baldo, Suliman; Shigekane, Rachel, 'Living with fear. A population- based survey on attitudes about peace, justice, and social reconstruction', August 2008 Externer Link: www.ictj.org

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Dr. jur. Kai Ambos - Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und internationales Strafrecht an der Georg August Universität in Göttingen. Er ist Leiter der Abteilung für ausländisches und internationales Strafrecht.