Verkörpert oder ausgelagert
Durch die Möglichkeit, etwas aufschreiben zu können, erweitern Menschen und Kulturen die Reichweite ihres Merkvermögens. Der externe Speicher der Aufzeichnung erweitert und entlastet das Gedächtnis; damit entsteht zugleich eine wachsende Diskrepanz zwischen dem verkörperten Gedächtnis und dem extern Gespeicherten. Bibliotheken und Archive sind gigantische Datenspeicher, an die man sich anschließen und aus denen man schöpfen kann, aber sie garantieren nicht den Fortbestand lebendig verkörperten oder memorierten Wissens, dessen Umfang in einer Schriftkultur und erst recht in einer elektronischen Medienkultur immer geringer wird. Heute verlassen wir uns auf unser Google-Gedächtnis; der schnelle Zugriff auf Wissen ist uns wichtiger als der Besitz von Wissen.
Das kulturelle Gedächtnis gliedert sich in zwei Bereiche, die sich wie Vorder- und Hintergrund zueiander verhalten: ein Speichergedächtnis und ein Funktionsgedächtnis. Das Speichergedächtnis sammelt und bewahrt Quellen, Objekte und Daten, unabhängig davon, ob sie von der Gegenwart gebraucht werden; wir können hier noch einmal von einem passivem Gedächtnis sprechen. Das Funktionsgedächtnis ist demgegenüber ein aktives Gedächtnis; es enthält die jeweilige kleine Auswahl dessen, was eine Gesellschaft jeweils von der Vergangenheit auswählt und aus dem Bestand ihrer kulturellen Überlieferung aktualisiert.
Der Prozess der Auslagerung von Wissen in Schrift ist also keine Einbahnstraße, sondern wird durch Rückkoppelungen an Gedächtnisse und persönliche Wiederaneignungen beantwortet. Diesen verkörperten Schatz kulturellen Wissens nennen wir Bildung. Kanonisierte Klassiker werden auswendig gelernt oder sind zumindest in Zitaten präsent, Museen kanonisieren Bilder und Skulpturen in ihren Dauerausstellungen, Monumente halten die Vergangenheit physisch präsent, Jahrestage holen historische Ereignisse in regelmäßigem Turnus zurück in die Gegenwart.
individuell versus kollektiv
Während niemand je angezweifelt hat, dass es ein individuelles Gedächtnis gibt, gibt es viele, die den Begriff 'kollektives Gedächtnis' für eine reine Mystifikation halten. Bereits Maurice Halbwachs, der diesen Begriff in den 1920er Jahren einführte, stieß auf Kritik und Misstrauen. Kritiker, die unter dem Begriff so etwas wie einen kollektiven Volksgeist verstanden, meldeten berechtigte Skepsis an. Die Forschungen von Halbwachs gingen jedoch in eine ganz andere Richtung. Er untersuchte Formen eines sozialen Gruppengedächtnisses, an dem jene partizipieren, die einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund haben wie eine Familie, eine Schulklasse, ein Soldatenregiment oder eine Reisegruppe.
Er hat gezeigt, dass Erinnerungen von Haus aus sozial sind und den kommunikativen und emotionalen Kitt einer Gruppe bilden. Seine radikale These war, dass Menschen überhaupt kein im strikten Sinne individuelles Gedächtnis ausbilden, sondern immer schon in Gedächtnisgemeinschaften eingeschlossen sind. Das Gedächtnis bildet sich – ähnlich wie die Sprache – in kommunikativen Prozessen aus, d. h. im Erzählen, Aufnehmen und Aneignen von Erinnerungen in Näheverhältnissen. Wer ganz allein ist, kann nach Halbwachs überhaupt kein Gedächtnis ausbilden.
Wer den Begriff 'kollektives Gedächtnis' nicht nur auf sozialen Kleingruppen in face to face Situation, sondern auch auf Großgruppen wie Ethnien, Nationen und Staaten anwendet, muss sich der Tatsache bewusst sein, dass solche Einheiten kein kollektives Gedächtnis haben, sondern sich eines machen mithilfe unterschiedlicher memorialer Medien wie Texten, Bildern, Denkmälern, Jahrestagen und Kommemorationsriten. Mithilfe gemeinsamer Bezugspunkte in der Vergangenheit und der kulturellen Überlieferung machen sich solche Kollektive zugleich eine Wir-Identität, die nicht Sache der Herkunft und Abstammung ist, sondern der Teilhabe in Form von Lernen, Identifikation und anderen Formen praktizierter Zugehörigkeit.
Bis vor kurzem folgten die Regeln der Auswahl von Bezugspunkten der Vergangenheit dem, was Nietzsche als 'monumentalische Geschichtsschreibung' definiert hat; es ging darum, ein heroisches Selbstbild der Gruppe zu konstruieren und es mithilfe von Feindbildern mythisch zu überhöhen. Eine entscheidende Wende vollzog sich in der Vergangenheitspolitik seit den 1990er Jahren, als verschiedene Staaten damit begannen, ihre historische Schuld zu reflektieren und in Formen öffentlicher Bekenntnisse in ihr Selbstbild aufzunehmen.
Trauma
Trauma bezieht sich auf ein Erlebnis, das so schmerzhaft ist, dass sich die Pforten der Wahrnehmung vor dieser Wucht schließen. Als etwas, das im Rahmen der Identitätskonstruktion einer Person nicht erzählbar und nicht erinnerbar ist, wird es vom Bewusstsein abgespalten und eingekapselt. Was in der Kapsel oder Krypta verschlossen ist, wird nicht etwa vergessen, sondern im Abseits konserviert und macht sich nach einem gewissen zeitlichen Intervall durch eine bestimmte Symptomatik bemerkbar. Die Therapie zielt darauf, das Trauma in bewusste Erinnerung zu transformieren und mit der Identität der Person zu vermitteln. Dadurch kann es zwar nicht geheilt, aber in seiner destruktiven Kraft entschärft werden.
Das Spezifische am Trauma sind die Langzeitfolgen bei Opfern von sexuellem Missbrauch oder Folter, weshalb für solche Vergehen die Verjährungsfrist aufgehoben wurde. Beim kollektiven Geschichts-Trauma des Holocaust ist die Nachträglichkeit ebenso evident; es hat bis in die 1980er Jahre gedauert, bis die schmerzhaften und entwürdigenden Erfahrungen der Opfer erzählbar wurden und ihnen Gehör geschenkt wurde. Der Begriff des moralischen Zeugen, der den Toten unter den Opfern eine Stimme gibt, gehört in diesen Zusammenhang. Inzwischen sind neben dem Holocaust andere Genozide ins Weltbewusstsein getreten, die symbolische Anerkennung und materielle Restitution einfordern. Dazu gehört u.a. der Genozid an den Armeniern, die so genannte Middle Passage der aus Afrika deportierten Sklaven, die Ureinwohner der Vereinigten Staaten Amerikas, Kanadas und Australiens.
Zur Nachträglichkeit historischer Traumata gehört auch, dass sie von einer Generation zur anderen gewissermaßen vererbt werden. Die Nachgeborenen, die sich mit diesen Familien-Schicksalen identifizieren, werden auf diese Weise zu Mitgliedern einer 'Leidgenossenschaft'. In diesem Zusammenhang ist es zu einem neuen geschichtspolitischen Problem gekommen: politische Gruppen stützen ihre Identität auf ein 'auserwähltes Trauma' (Vamik Volkan) und treten mit anderen in eine Opfer-Konkurrenz.
Das Gedächtnis entwickelt sich nicht in Isolation, sondern ist immer schon sozial auf andere Individuen und, auf politischer Ebene, auf andere Gruppen bezogen, wo es auf andere Gedächtnisse reagiert und Bezug nimmt. Die Nachträglichkeit der Erinnerung, die beim Trauma so auffällig ist, gilt für das Gedächtnis überhaupt. Deshalb richtet sich das, was wir erinnern, nicht nach dem, was eigentlich gewesen ist, sondern danach, wovon wir später eine Geschichte erzählen können. Was aus der Vergangenheit erinnert wird und was nicht, hängt letztlich davon ab, von wem und wozu die Geschichte gebraucht wird.