Die in den 1970er Jahren entstandene Oral-History-Forschung hat es sich zur Aufgabe gemacht, Zeitzeugen zu bestimmten historischen Sachverhalten zu befragen und diese Gespräche als geschichtswissenschaftliche Quellen nutzbar zu machen.
Die Anfangsjahre: 1945 bis 1952
Für die 1940er und 1950er Jahre ergibt sich in der Untersuchung der Erinnerung das Bild einer noch durchlässigen Grenze.
"Wir haben uns im Anfang der Jahre sogar noch mit hessischen Jungen getroffen. [...] Hessische Jungs sind herüber gekommen zu den Geismarer Mädchen. Das ging im Anfang noch. Die kamen herüber, da war ja noch so ein Streifen der regelmäßig gepflügt und bewirtschaftet und kultiviert wurde, dass man Spuren sehen konnte. Da haben die hinten eine dicke Hecke abgeschnitten oder einen Holunderstrauch. Und wenn sie wieder herüber gingen, haben sie die Spuren verwischt."
Die bereits vor 1945 bestehenden verwandtschaftlichen Beziehungen und Freundschaften zwischen Familien aus Hessen und Thüringen bestanden in den Anfangsjahren der Grenze noch fort. Zunächst gab es keine systematische Überwachung des Grenzverlaufs. Es wurde zwar ein Schlagbaum an der von West nach Ost verlaufenden Bundesstraße 84 eingerichtet, jedoch blieben Feldwege und Verbindungsstraßen zwischen den Dörfern vorerst offen. Bauern erhielten Sondergenehmigungen, um ihre Felder in der jeweils anderen Besatzungszone bestellen zu können.
Diese Phase der noch wenig präsenten Grenze endet für die Zeitzeugen mit der Einrichtung des Sperrgebiets am 16. Mai 1952 entlang des gesamten Grenzverlaufs zur Bundesrepublik.
"Die Einführung des Sperrgebietes war natürlich in aller Munde. Aber es wurde natürlich immer nur unter vorgehaltener Hand davon gesprochen."
Die damit verbundenen Zwangsumsiedlungen der sog. "Aktion Ungeziefer", sind in der Erinnerung der ehemaligen Bewohner des Grenzgebiets noch stark präsent und wirkten auch in den Folgejahren.
"Durch Zwangsevakuierungen hat man den Leuten den Mund geschlossen."
Bis zum Ende der DDR, so betonen es die Zeitzeugen immer wieder, seien die Zwangsumsiedlungen ein Mittel der Machthaber gewesen, um Unruhen unter der Bevölkerung zu brechen und gleichsam aufwieglerische Personen aus dem Grenzgebiet zu verbannen. In der Analyse der Gespräche zu den 1940er und 1950er Jahren ergibt sich die Erinnerung an eine noch offene Grenze bis 1952, über die weiterhin versucht wurde, freundschaftliche, wirtschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen aufrechtzuerhalten. Damit stimmen die Erinnerungen der Bewohner weitgehend mit der bestehenden Forschung überein.
Die frühe "Grüne Grenze" wird von den Zeitzeugen als ein Provisorium erinnert. Trotz einer bereits in den 1950er Jahren bestehenden Überwachung, wurden Kontakte über die Grenze aufrechterhalten, weil man die bestehenden Traditionen beibehalten wollte und die Grenze selbst auch bagatellisiert wurde. In Episoden werden von den Zeitzeugen "Jungenstreiche" erinnert, die das Bild einer noch offenen Grenze ergeben, die für die Bewohner im Alltag kaum ein Hindernis gewesen zu sein scheint. Dazu passt auch, dass von keinem der Gesprächspartner Fluchten oder Fluchtversuche erinnert wurden. Diese waren nicht notwendig, um den Kontakt nach Hessen aufrechtzuerhalten, da man zwar eingeschränkt, aber noch immer rege den Austausch pflegte. Auch visuell waren die Demarkationslinie und der eingerichtete Grenzverlauf kaum wahrnehmbar. Lediglich der ständig gehegte Zehn–Meter–Streifen und die Schlagbäume an Verbindungsstraßen stellten Anzeichen einer Grenze dar.
Diese Situation änderte sich im Mai 1952 mit der Einführung der "Besonderen Grenzordnung". Sie stellte innerhalb der Bevölkerung ein reges Gesprächsthema dar.
Verfestigung: 1952 bis 1972
In der Erinnerung der Bewohner des DDR-Grenzgebiets sind die 1960er Jahre besonders mit der Verfestigung der Grenzsicherungsanlagen und dem Ausbau des Grenzregimes insgesamt verbunden. Der Berliner Mauerbau im August 1961 war hingegen in der Erinnerung der Bewohner in der Grenzregion Geisa kein besonderes Ereignis. An einen "Mauerschock", wie er in der Forschung für Berlin identifiziert wird, hat sich keiner der Zeitzeugen erinnert.
"Als die Grenze richtig dicht gemacht wurde, ab 61, 62, da hat man ja ständig die Pioniertechnik hier fahren gesehen. Ich glaube es, ging jahrelang. Bis der Zaun zu war."
Mit dem Ausbau der Grenzsicherungen wird nun die Grenze selbst zunehmend sichtbarer als noch in den 1950er Jahren.
"Das war da schon augenscheinlich. Das wusste man schon. Das war ja nicht zu verheimlichen."
"Das hat man ja stellenweise gesehen. Da konnte man ja hingehen. Und wo man es nicht gesehen hat, haben die von der Landwirtschaft gearbeitet. Die haben dann auch erzählt."
Auch die Präsenz der Grenzsoldaten wird in den 1960er Jahren zunehmend ein Thema, an welches sich die Bevölkerung erinnert. Damit einher ging ein sich stetig entwickelnder Kontakt zwischen den Grenzbewachern und den Einwohnern.
"Die Verfestigung des Grenzregimes war ja hier auch sichtbar. Es gab immer mehr Soldaten und Grenzer."
"Im Stern, kann ich mich erinnern und in der Linde [beides Gaststätten in Geisa - Anm. des Verfassers] da saßen die und haben gegessen und getrunken und naja, dann wurde auch gesungen. Da waren dann die einheimischen Jungs dabei und gerade wer so in dem Alter war, wenn man selbst beim Militär war, und kam dann Heim, dann hat man mit denen noch mal gesprochen und hat gefragt: Wo kommst du denn her?"
Gegenwehr oder Demonstrationen gab es gegen die Bauarbeiten oder die Grenzsoldaten nicht. Von keinem der Zeitzeugen wurde ein größeres Interesse an den Bauarbeiten erinnert, oder eine längere Diskussion innerhalb der Bevölkerung.
Die zweite Zwangsumsiedlungswelle der sog. "Aktion Kornblume" im Oktober 1961 ist in der Erinnerung der Zeitzeugen stark präsent. Dabei wurden noch einmal 3.000 Personen aus dem gesamten Grenzgebiet ausgewiesen.
"Es gab damals so ein Sprichwort: Halt dein Maul, du bringst uns von Haus und Hof. Das war drin."
Während der Bauarbeiten entlang der Grenze kam es 1962 in Wiesenfeld, etwa vier Kilometer von Geisa entfernt, zu einem Schusswechsel zwischen Angehörigen der Grenztruppen und Beamten des Bundesgrenzschutzes, bei dem der Grenzhauptmann Rudi Arnstadt zu Tode kam. In der Folge kam es zu einer propagandistischen Ausschlachtung des Vorfalls in der DDR, die Arnstadt als Volkshelden stilisierte.
In der Analyse der Erinnerung fallen insbesondere drei Punkte auf. Da ist zum Beispiel der Befund, dass sich keiner der Zeitzeugen im Gespräch an einen "Mauerschock" in Folge des 13. August 1961 erinnerte. Dies liegt zum einen an der großen Entfernung zwischen Berlin und Geisa. Zum anderen aber begannen die Bauarbeiten entlang der Demarkationslinie in Geisa erst im August 1962, also ein Jahr später als in Berlin.
Erst mit der Befestigung der Grenzanlagen im August 1962 wurde die Grenze auch ein visueller Bestandteil des Alltags. Der einfache Stacheldrahtzaun mit Holzpfosten wich einem zwei Meter hohen Doppelzaun mit Betonpfosten.
Drittens sind die zwei Zwangsaussiedlungswellen der "Aktion Kornblume" ab 1961 und der "Aktion Ungeziefer" 1952 ein großer Erinnerungspunkt. Die Angst vor dem Verlust der Heimat spielte bis zum Ende der DDR eine große Rolle in der Mentalität der im Grenzgebiet lebenden Menschen. Die Zwangsumsiedlung war ein fortwährendes Druckmittel der Machthaber und diente auf vielfältige Art der Unterdrückung und Maßregelung der Bewohner.
Stagnation und Normalisierung: 1972 bis 1988
Die 1970er Jahre werden von den Zeitzeugen als eine Periode relativer Ruhe erinnert. Mit der "Neuen Ostpolitik" unter Willy Brandt und dem Grundlagenvertrag 1972/73 zwischen der DDR und der Bundesrepublik wurden grundlegende Vereinbarungen zum Reiseverkehr und den Transitwegen an der innerdeutschen Grenze getroffen. Jedoch war Geisa von dem Abkommen zum "kleinen Grenzverkehr" ausgenommen, da es im Sperrgebiet lag. Besuche aus dem Westen und dem Landesinneren durften weiterhin nicht im Grenzgebiet stattfinden und mussten ins Hinterland verlagert werden.
Mit der Einrichtung des 3,20 Meter hohen Metallgitterzauns im Frühjahr 1972 ebbten die Fluchten im Grenzabschnitt Geisa von 18 im Jahr 1971 auf eine im Jahr 1977 ab.
Einher mit der wirtschaftlichen Stabilisierung der DDR ging auch eine Phase der relativen Ruhe innerhalb des Grenzgebiets. Durch neue Arbeitsstätten, die fast ausnahmslos außerhalb des Sperrgebiets lagen, wurden die Bewohner, die zuvor häufig in der kleinen heimischen Landwirtschaft tätig waren, in großbetrieblichen Verhältnissen beschäftigt. Durch die gesicherte Arbeitslage und die Einbindung in ein Arbeitskollektiv wurden große Teile des Alltagslebens in der DDR strukturiert. Somit fand eine effektive Ablenkung von der Bedrohungssituation statt.
"In den ersten Jahren, ich meine ich war noch jugendlich, da hat man dort, wenn man vorbeigefahren ist an dem Zaun, da hat man hingeguckt und man hat dann auch wahrgenommen, wenn was verändert wurde. Aber wenn man täglich an dem Zaun vorbeigeht, dass lässt einen mit der Zeit dann kalt. Irgendwie ist das dann normal. Man nimmt das als normal auf, was total unnormal war."
Ähnlich äußerten sich andere:
"Diese Grenze war für uns normal, da haben wir gar nicht mehr hingeschaut."
Durch die eintretende Normalisierung der Situation und die verdeckte Bautätigkeit rückt die Grenze aus der direkten Alltagswahrnehmung. Für die 1960er Jahre wurden die Baumaßnahmen erinnert und auch das Bauwerk Grenze wahrgenommen. In den 1970er Jahren wird diese in den Alltag integriert - und zunehmend wird "nicht mehr hingeschaut". Durch die Kenntnis der Beschaffenheit der Sperranlagen wurde auch das Risiko einer Flucht neu bewertet.
"Wenn mal irgendwas war an der Grenze, dass jemand abgehauen war, oder ein Unfall, wenn jemand auf eine Mine getreten ist, oder es wurde geschossen, da haben viele Leute gesagt: Was laufen die denn auch da hin? Die wissen doch genau, da wird geschossen, da bleib doch weg."
Die Grenze, die noch rund 15 Jahre zuvor zahlreich überschritten wurde und in der Erinnerung der Bewohner des Grenzgebiets verhältnismäßig wenig bewacht war, wird für die Menschen im Sperrgebiet ab den 1970er Jahren allmählich zu einem Kontinuum des Alltags. Nicht zuletzt, weil durch die Einrichtung der neuen Grenzanlagen mit einem Metallgitterzaun und den daran befestigten Selbstschussminen SM-70 Grenzübertritte fast unmöglich gemacht wurden. Mental stellte sich für die Bewohner eine Situation der Normalität ein. Eine unmittelbare Notwendigkeit zur Flucht auf Grund physischer Bedrohung wie bei den Zwangsumsiedlungen in den 1950er und 1960er Jahren bestand nun nicht mehr. Die Menschen waren in gesicherten Arbeitsverhältnissen und fürchteten nicht mehr derart starke Repressionen wie in den Jahrzehnten zuvor. Obwohl es in den 1970er Jahren die größten und aufwändigsten Baumaßnahmen entlang der Grenze gab - etwa die Errichtung eines neuen Zauns und der Bau von neuartigen Beobachtungstürmen - werden diese kaum erinnert und damit die 1970er Jahre insgesamt als wenig dynamische Phase wahrgenommen. Hier überwiegen bei den Zeitzeugen eher Erinnerungen an die Arbeitswelt und die Freizeit, was bedeutet, dass die Grenze in dieser Zeit nicht als bestimmender Faktor des Alltags empfunden wurde. Unterstützend dafür wirkte, dass das Grenzregime gegen Ende der 1970er Jahre und bis in das Jahr 1989 hinein ausgebaut und zunehmend perfektioniert wurde, sodass die lückenlose Überwachung der Grenze gewährleistet wurde und es immer seltener zu Grenzzwischenfällen kam.
In den 1980er Jahren zeigen sich ähnliche Entwicklungen. Es gab in dieser Phase kaum mehr bauliche und organisatorische Veränderungen der Grenzsicherung. Eine Ausnahme bildete das Inkrafttreten des DDR-Grenzgesetzes von 1982. Darin wurde das Grenzgebiet mit einer Tiefe von drei bis fünf Kilometer als ein Raum definiert, in dem besondere Rechtsvorschriften galten.
Mit den neuen Bestimmungen hatten die Grenztruppen weit reichende Befugnisse zur Verhaftung von verdächtigen Personen innerhalb des Grenzgebiets. Eine neu eingeführte Zuzugsregelung hatte auf lange Sicht das Ziel, den Zuzug ins Grenzgebiet derart zu erschweren, dass ein Wohnen im Grenzgebiet zunehmend unattraktiver wurde.
Eine weitere Komponente stellte in den 1980er Jahren der zunehmende wirtschaftliche Niedergang der DDR dar. Bei den Bewohnern wurde die schlechte wirtschaftliche Lage in Lieferengpässen und Versorgungsmängeln bei Gebrauchsgütern augenscheinlich. Einige Güter, wie etwa Zement zum Hausbau, waren noch schwieriger zu besorgen als ohnehin schon. Man hatte mit den Widrigkeiten der Mangelwirtschaft zu kämpfen, während der Staat in hohem Maße in den Ausbau der Grenze investierte. Zunehmend stellten die Bewohner diese Entwicklung verhalten in Frage, wie in folgendem Beispiel: "Da hat man dann gesagt, wir müssen zwei Jahre warten bis wir einen Sack Zement bekommen, und da [an der Grenze (Anm. des Verfassers)] wird alles rausgepulvert."
"Die DDR hat sich selbst heruntergewirtschaftet. Das war im Wesentlichen eine Folge der Rohstoffpolitik."
Zusammenfassend endet in den 1970er Jahren für die Bewohner des Grenzgebiets ein Denkprozess, der in den 1950er Jahren begann: Die dynamische Grenze der 1950er Jahre, mit vielerlei erinnerten Maßnahmen, wie offensichtlicher Bautätigkeit und den gefürchteten Zwangsumsiedlungen, wird über die endgültige Abriegelung von 1961/62 in den 1970er Jahren als eine statische Grenze erinnert, die in den Alltag integriert werden konnte und die zunehmend als normal aufgefasst wurde. Die Erinnerung der Bewohner an die Grenze der 1970er und 1980er Jahre ist blass, denn sie wurde zu einem Teil des Alltags und als solcher kaum wahrgenommen beziehungsweise ausgeblendet. Die Ereignisse des Jahres 1989 überlagern förmlich die Erinnerung an die übrigen neun Jahre und verlangen daher nach einer besonderen Betrachtung.
Die Friedliche Revolution: 1989
Wie kaum ein anderes Jahr war 1989 prägend für die Erinnerung der Zeitzeugen. Nahezu alle Erinnerungen der Gesprächspartner zu den 1980er Jahren stehen im Kontext des Jahres 1989 oder laufen darauf zu. Die Umbruchsprozesse der Friedlichen Revolution beginnen in der Erinnerung der Bewohner des Grenzgebiets mit dem Ausreisestrom im Juni 1989 über Ungarn. Die Ausreisewelle wurde besonders über die Berichterstattung des bundesrepublikanischen Fernsehens wahrgenommen und wurde von fast allen Zeitzeugen erinnert. In der Erinnerung der Bewohner ist der Beginn der Friedlichen Revolution eng mit der Rezeption des "Westfernsehens" verknüpft.
"Ich habe ja jahrelang kein Westfernsehen geschaut, erst die letzten Jahre."
"Die Leute hier, und das behaupte ich, sogar die Genossen, haben sich westlich orientiert. [...] Wir haben ja in der Wendezeit immer geschaut, wo geht das hin mit Ungarn. Das hat man jeden Abend verfolgt. Und auch die Genossen haben heimlich umgeschaltet und haben geschaut."
Die Friedensgebete in Geisa begannen am 23. Oktober 1989 in der katholischen Pfarrkirche, also vergleichsweise spät. Den zu Beginn noch etwa 500 Teilnehmern schlossen sich bis zum 6. November etwa 1.500 weitere Menschen an, die aus den evangelischen Dörfern in die Stadt und die dortige Pfarrkirche strömten.
"Ich hab da gedacht, da sind wir die Stadt herunter gegangen, wenn wir jetzt geradeaus weiterlaufen und den Rasdorfer Berg hoch gehen, da war die Grenze noch zu, die können uns ja gar nicht aufhalten, weil wir waren viele Leute, und dann bricht das zusammen mit unserer DDR."
Trotz der großen Euphorie anlässlich des beginnenden Umbruchs war jedoch eine skeptische Grundstimmung innerhalb der Grenzbevölkerung vorherrschend. Die Angst vor den zahlenmäßig großen Grenztruppen und den vermehrt eingesetzten Volkspolizisten bewirkte eine zurückhaltende Grundhaltung.
"Ich erinnere mich, wo einer der Offiziere zu mir sagte: Wenn die noch einen Schritt gegangen wären, dann hätte ich sie niedergestreckt. Ich war im Recht."
Trotz der offensichtlichen Veränderungen die sich in allen Gesellschaftsbereichen bemerkbar machten, waren vielen Bewohnern das Ziel und das Ergebnis der Demonstrationen in der Rückschau kaum bewusst.
"Dass es mit der DDR vorbei ist, dass habe ich erst gemerkt, wo der Schabowski das am Fernsehen gesagt hat."
Betrachtet man die Erinnerungen der Zeitzeugen an die Umbrüche des Jahres 1989, so lassen sich mehrere Punkte herausstellen: An eine Vorahnung oder absehbare Prozesse im Vorfeld des Novembers 1989 können sich die Zeitzeugen nicht erinnern. Die Umbrüche und die Entwicklung, die zur Friedlichen Revolution führten, waren für die Bewohner der gesamten DDR nicht absehbar.
Die Friedensgebete, ein zweiter Erinnerungspunkt, stellen nicht alle befragten Personen als wichtiges Ereignis heraus. Über die gesamte Aufbruchsphase hinweg wird jedoch bei den Bewohnern des Grenzgebiets eine Zurückhaltung und Skepsis gegenüber den Ereignissen erinnert. Dies ist auf die starke Präsenz des Staatsapparates zurückzuführen, personifiziert durch die zahlreichen vor Ort stationierten Grenzsoldaten. Bis zur Öffnung des ersten Grenzübergangs im Grenzabschnitt Geisa am 29. November 1989 war die Situation innerhalb des Grenzgebiets relativ stabil.
Resümee
Ausgehend von der zu Beginn aufgestellten Arbeitsthese, wonach die Grenze als Bauwerk und die besonderen Widrigkeiten des Grenzgebiets schrittweise in den Alltag der Bevölkerung integriert wurden, lassen sich auf der Grundlage der vorliegenden Analyse folgende Befunde festhalten: Die Frühphase der Erinnerung an das Grenzgebiet in den 1940er und 1950er Jahren ist geprägt von einer Wahrnehmung der Grenze als Provisorium. Die Grenze der 1950er Jahre wird in der Erinnerung bagatellisiert und als überwindbar erinnert. Die regelmäßige Überwindung ist dabei keineswegs ein Anzeichen der Integration in den Alltag, sondern vielmehr ein Festhalten an alten Gewohnheiten, die bereits vor der Teilung bestanden. Die Grenze war auch im alltäglichen Leben kaum wahrnehmbar, denn außer den Schlagbäumen an Verbindungsstraßen und dem Zehn–Meter–Streifen war diese visuell wenig präsent. Die Zwangsumsiedlungswelle von 1952 ist in der Erinnerung der befragten Personen tief verhaftet, denn fortan wurde den Bewohnern deutlich, dass die Situation bedrohlicher war als zunächst angenommen. Die Zwangsumsiedlungen waren fortan ein ständiges Druckmittel und stifteten große Unruhe innerhalb der Bevölkerung.
In den 1960er Jahren wurde mit der Errichtung des Doppelzaunes manifestiert, was mit der Zwangsumsiedlung 1952 begann: die Bewohner nahmen langsam wahr, dass die Grenze keinen provisorischen Charakter mehr besaß. Durch die Befestigung der Grenzanlagen, die Errichtung von Wachtürmen und Kasernen für die zahlreichen Grenzsoldaten wurde die Grenze weithin sichtbar. Die Zwangsumsiedlungswelle 1961 stiftete erneute Unruhe und Unsicherheit in der Bevölkerung, so die Erinnerung der Zeitzeugen. In den 1970er Jahren wurde die Grenze allmählich zu einem Kontinuum des Alltags. Da weitere Zwangsumsiedlungswellen ausblieben, fiel der Hauptgrund für viele Fluchten in den vorangegangenen Jahrzehnten weg. Die Situation normalisierte sich. Die Grenze der 1970er Jahre war in der Erinnerung der Bewohner trotz größter Bautätigkeit eine wenig dynamische. Hier endete für die Bewohner des Grenzgebiets ein Prozess, der in den 1950er Jahren begann: die dynamische Grenze der 1950er Jahre, mit vielerlei erinnerten Maßnahmen, wie offensichtliche Bautätigkeit und den gefürchteten Zwangsumsiedlungen wird über die endgültige Abriegelung von 1961/62 in den 1970er Jahren als eine zunehmend statische Grenze erinnert, die in den Alltag integriert werden konnte und die schrittweise als normal aufgefasst wurde, da sich eine Kontinuität und gewisse Ruhe einstellen konnten. Dies gilt in weiten Teilen auch für die Folgejahre bis 1989. Bis zur Grenzöffnung und dem erfolgreichen Ausgang der Friedlichen Revolution wird das Grenzgebiet als relativ stabil erinnert, da man weiterhin die Repressionen des Staatsapparates fürchtete.
In den 1970er Jahren konnten sowohl die Grenze als limitierendes Bauwerk, als auch die Begleitumstände der besonderen Lebenssituation im Grenzgebiet in das Alltagsleben der Bevölkerung des Sperrgebiets eingebunden werden. Die Grenze wird in der Erinnerung der Zeitzeugen in den 1970er Jahren zu einem Kontinuum, welches bis zum Zusammenbruch des gesamten Staates ein relativ stabiles Alltagsleben erlaubte.
Befragte Zeitzeugen
Helmut Henkel, 31.5.2012.
Alexander Henning, 28.7.2012.
Heinz Kleber, 20.7.2012.
Norbert Mihm, 28.7.2012.
Siegfried und Monika Schilling, 28.7.2012.
Albert Wiegand, 31.5.2012.
Zitierweise: Maximilian Kutzner, Alltagsleben im Grenzgebiet, Ein Oral History Projekt, in: Deutschland Archiv Online, 26.08.2013, Link: http://www.bpb.de/167570