Thea Dorn, Richard Wagner: Die deutsche Seele, München: Knaus 2011, 560 S., € 26,99, ISBN 9783813504514.
Stefan von Senger und Etterlin: Wundersames Deutschland, Berlin/Leipzig: Patchworld 2010, 192 S., € 18,–, ISBN 9783941021044.
Erwin Seitz: Die Verfeinerung der Deutschen. Eine andere Kulturgeschichte, Berlin: Insel 2011, 824 S., € 28,–, ISBN 9783458175056.
Die deutsche Seele
Wer zwischen den Stichworten "Abendbrot" und "Zerrissenheit" auf über 500 Seiten, eingebettet von Gemälden, Kupfer- und Holzstichen, Plakaten, Vignetten, Illustrationen, Filmstills und Fotografien, einen Spaziergang macht durch das Gefilde der deutschen Seele, dessen Blicke werden sicherlich zuerst auf viele ihm wohlbekannte Bilder treffen, bevor er das Inhaltsverzeichnis überfliegt. In der Regel sind es drei Abbildungen pro Stichwort, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf markante Motive der deutschen Kulturgeschichte vom 12. Jahrhundert bis in die Gegenwart lenken. Und wer gleich zu Beginn seiner schweifenden Betrachtungen auf das Stichwort "Abgrund" stößt, der wird zunächst überrascht sein: die Porträts der Philosophen Friedrich Nietzsche (1899) und Martin Heidegger (1933) leiten den Abstieg in einen deutschen Abgrund ein, dessen Bebilderungen vom Kaiser Barbarossa auf dem Kyffhäuser, Motiven aus Erzbergwerken bis zur Fotografie von Castorbehältern in einem atomaren Endlager reichen. Und wenn die visuell gesättigte Überraschung in die aufmerksame Textlektüre übergeht, entdeckt der Leser ein sich wiederholendes Gestaltungsprinzip in diesem kulturgeschichtlichen Kompendium. Es ist eine lockere, essayistisch gestylte Darstellung, die zwischen philosophischen Sentenzen, sprichwörtlichen Weisheiten, Legenden und Dokumenten, historischen Ereignissen und volkstümlichen Bräuchen pendelt und dabei eine spannende Aufzeichnung hinterlässt, in denen die luftigen Konturen einer Seele zu erkennen sind, deren Wesen so widersprüchlich erscheint.
Vor welchen Aufgaben standen Thea Dorn, die aus dem hessischen Offenbach stammende Schriftstellerin und TV-Journalistin, und Richard Wagner, der renommierte Romancier, aufgewachsen im deutschsprachigen Banat? Ihr gemeinsames Vorwort verrät etwas über die Methoden, mit denen sie die Umrisse und Inhalte der deutschen Seele zu erfassen versuchen: "Wir wollen dieses Land nicht in den Sektionssaal schieben, wir beugen uns nicht im weißen Kittel mit spitzem Werkzeug darüber, um einzig die kranken Stellen herauszuschneiden und unter dem Mikroskop zu betrachten. Wir sind keine Pathologen." (7) Vielmehr seien sie von der Sehnsucht getrieben, ihre Kultur in allen ihren Tiefen und Untiefen, ihren Schrullen und Fragwürdigkeiten zu erkunden. Und woher nehmen sie ihre Motivation, ein so ungewöhnliches kulturhistorisches Kompendium zu einem Zeitpunkt zu veröffentlichen, da Deutschland sich nach ihren Worten herunterwirtschafte und sogar sein Gedächtnis verliere? Es sind hauptsächlich zwei Aspekte, die sie aufgreifen: die Scham über die Verbrechen des Nationalsozialismus zum einen, die Verdrängung von Geschichte in einer von Skrupeln freien Existenzweise zum anderen. Doch von solchen dualistischen Antriebsmomenten lassen sich Dorn und Wagner nicht leiten. Vielmehr verweisen sie auf einen sporadisch auftretenden Patriotismus oder eine Streitkultur, die beispielsweise auch über den Rechtsstatus von Einwanderern heftig diskutiere. Das seien markante Merkmale eines freiheitlich-demokratischen Staates, in dem das "Deutschsein" so oft verleugnet werde. Da verliere man "die Orientierung, die Selbstgewissheit, den Lebensmut." (8) Deshalb auf, liebe Leser, machen wir uns – gemeinsam mit den Autoren – auf die Suche nach der deutschen Seele!
Ein zweiter schweifender Blick auf die rund 70 Stichworte löst meist deutliche, manchmal aber auch verschwommene Assoziationen aus: Arbeitswut, Bierdurst, Doktor Faust, Fußball, Gemütlichkeit, German Angst, Kindergarten, Männerchor, Musik, Mystik, Reinheitsgebot, Schrebergarten, Spießbürger, Vater Rhein, Wanderlust, Vereinsmeier, Weib, Weihnachtsmarkt, Wiedergutmachung, Winnetou – die meisten unter ihnen sind Bestandteile unserer alltäglichen Gedankenwelt. Das Stichwort "Arbeitswut" zum Beispiel, seit wenigen Jahren mit dem angelsächsischen Begriff "workoholic" in Verbindung gebracht, nähert sich in der Zwischenzeit bereits dem Bedeutungsfeld "Burnout". Doch erst der Blick in die Vergangenheit offenbart wesentliche Merkmale der deutschen Arbeitswut. Sie bildete sich aufgrund der Verinnerlichung des protestantischen Arbeitsethos unter der Einwirkung der Lutherschen Reformation heraus, erreichte mit der kapitalistischen Produktionslogik im 19. Jahrhundert und der forcierten Ausbeutung der Arbeitskraft im Spätkapitalismus und im Staatssozialismus am Ende des 20. Jahrhunderts bestimmte Grenzbereiche der physischen und psychischen Auslastung menschlicher Leistungsfähigkeit.
Mit wenigen Ausnahmen (Abendbrot, Buchdruck, Strandkorb, Weihnachtsmarkt) sind die Stichworte mit tief schürfenden und stets transparenten Darstellungen versehen, die oft mit einer Anekdote beginnen und einer ironisierenden Anspielung auf die unerschöpfliche Dimension der eben "erfassten" Erscheinung enden. Der umfangreichste Beitrag mit 33 Druckseiten ist der deutschen Weiblichkeit gewidmet. Aufgeteilt in »Das Weib«, mit philosophischen und linguistischen Überlegungen zur rätselhaften Herkunft des sächlichen Geschlechts des Weibes, und »Kleine Galerie deutscher Frauenbilder«, aufgefädelt nach schönen Seelen, deutschen Mädchen, Lulus und Lolas, Fräuleinwunder, Amazonen wie auch nach wilden Weibern, entfaltet der Beitrag ein Feuerwerk reizvoller Sentenzen und sprühender Reflexionen. Und dies alles mit Abbildungen verschiedenster Frauenkörper.
Natürlich gibt es auch andere Stichworte (zu empfehlen sind "Vater Rhein" und "deutsche Musik" ebenso wie "German Angst"), die den Leser in die schauerlichen und Schauder erregenden Abgründe und in die höchsten Gipfel deutscher Lust jagen. Was bleibt, ist eine lehrreich-amüsante Lektüre und Bilderbetrachtung in einem pompös ausgestatteten Kompendium: "Alles was deutsch ist. Eine Liebeserklärung" – so eindrucksvoll, so bildsam, so aphoristisch, so locker wurde selten für die bewussten und unterbewussten Gefilde unserer Landsleute geworben. Also ein Lese- und Bildungsvergnügen zugleich!
Wundersames Deutschland
Wundersames Deutschland (© Patchworldverlag)
Wundersames Deutschland (© Patchworldverlag)
"Deutschland aus ästhetischem Blickwinkel zu betrachten, also mit unseren fünf Sinnen" – mit diesem Anspruch möchte Stefan von Senger und Etterlin etwas erfassen, was in den meisten Beschreibungen über dieses vielfältige Land seiner Ansicht nach verloren gehe. Er möchte es fühlen, riechen, schmecken, hören und sehen, also alles wahrnehmen, was beim richtigen Lesen der Oberflächen unsere Sinne erweitert: "Wenn wir uns mit der Geschichte der Personen oder Gegenstände, der Technologie oder dem Handwerk, den Künsten und Ressourcen hinter den Erscheinungen beschäftigen." Darunter versteht der Autor "bestimmte Formen des Zusammenlebens, Rituale des Alltags, die Handlungen entspringen und Materielles produzieren."
Mit diesem ethnologisch orientierten Blick auf seine Heimat, die er auf seinen zahlreichen Reisen erkundet hat und die er aufgrund seiner häufigen Auslandsaufenthalte auch einer vergleichenden Betrachtung aussetzt, gelingen ihm differenzierte Aussagen über ein "wundersames Deutschland". Wundersam, weil dessen Erscheinungsbild im Westen und im Osten, vor allem "wenn man nach Deutschland zurückkehrt", so wohlgeordnet sei, so ruhig und vernünftig abzugehen scheine. (11) Wer nun vermutet, der Autor beginne ein Loblied auf den Ordnungssinn und die Vernunft in diesem Lande zu singen, der wird zu einem abwägenden Urteil gelangen. Es sind die klugen Beobachtungen zu den architektonischen Formen der zweiten Moderne, zur stilistischen Sicherheit der Bauordnungsämter, nicht zuletzt aufgrund der "Wunderparagraphen" der deutschen Rechtsordnungen, zu den Bausünden in Ost- und Westdeutschland in den 1960er-Jahren, die die Lektüre anregend machen. Und zur Kritik an dem Erscheinungsbild der deutschen Regionen ermuntern. In keiner unter ihnen zeichne sich eine gelungene Verbindung zwischen Tradition und Moderne ab!
Und wie löst der Autor den Anspruch ein, sein Land mit den übrig gebliebenen vier Sinnen wahrzunehmen? Sprache, Warenwelt, Wald, Klang, Speise und Feier – das sind die thematischen Leitlinien, an deren Erscheinungsformen er nachweisen will, dass die linguistische und stilistische Oberfläche der deutschen Sprache ebenso vielschichtig sei wie jede andere europäische Sprache, was unbenommen ist. In der Warenwelt etwa zeichnen sich die Konturen des wirtschaftlich mächtigen Deutschland (Exportweltmeister bis 2009) ab, dessen Warenqualität sich einer globalen Wertschätzung erfreue, wie von Senger und Etterlin ausführt. Auffällig ist der abschließenden Vergleich mit China (Fabrik der Welt) im Gegensatz zur Maschinenwerkstatt in Deutschland, in der die besten Maschinen der Welt hergestellt würden.
Dass auch der deutsche Wald zu dem Thema gehört, an dem der Autor die Zweckrationalität eines Wirtschaftsfaktors, Jagddisziplin, gezielte Nutzung und Erholung in der Natur nachweisen möchte, mag nicht überraschen. Allerdings erweist sich die Verdrängung seines mythischen Charakters zugunsten des Urteils von der "Schönheit" des deutschen Waldes als oberflächlich und zu kurz gegriffen.
Und die Speisen auf deutschen Küchentischen und in edlen Restaurants? Es ist ein Loblied, gesungen zwischen Gaumen und Zunge, ein Hohelied auf die Entfaltung der deutschen Küche seit den 1970er-Jahren. Mehrere Wellen der internationalen Esskulturen seien in der Zwischenzeit durch Deutschland hindurch geschwappt. Von exotischen asiatischen, ausgefeilten Gerichten europäischer Nachbarn bis zu aufreizenden afrikanischen Speisen sei in der Zwischenzeit alles zu finden. Dennoch sei Deutschland "noch kein Land des allgemeinen guten Essens". Was er aber in seinen folgenden Anmerkungen zu den lukullischen Genüssen aus deutschen Restaurants, heimischen Küchen und Backöfen wieder zurücknimmt. Immer mehr Restaurants gebe es in deutschen Landen, die Michelin-Sterne erhalten. Und dann noch der köstliche Kuchen und schließlich das deutsche Brot, dem der Autor sogar eine Liebesgeschichte aus einem amerikanischen College widmet.
Kann man da noch mehr aus einem wundersamen Land herausholen? Natürlich! Die deutschen Feiern und Feierlichkeiten. In diesem Deutschland würde praktisch unaufhörlich gefeiert. Eine Behauptung, die er mit Lust und Beharrlichkeit beweist und dabei die zahlreichen ethnologischen und soziologischen Abhandlungen zu dieser schier uferlosen Thematik plündert, die da und dort auch mit bibliografischen Hinweisen versehen sind.
Die flüssig geschriebene, publizistisch geschickte Darstellung deutscher Eigenheiten und Werte, mit scharfsinnig aufgeladenen Beobachtungen angereichert, ist Werbung und schweifende Analyse zugleich.
Die Verfeinerung der Deutschen
Die Verfeinerung der Deutschen (© Insel Verlag)
Die Verfeinerung der Deutschen (© Insel Verlag)
Erwin Seitz' Buch ist ein Gegenentwurf zu einer deutschen Kulturgeschichte, in der bislang "die schwer gerüstete Germania mit Helm, Schild und Schwert" und Könige und Fürsten in Kettenhemd und Uniform gezeigt worden seien. In diesen Überblickswerken seien die Deutschen als Untertanen und nicht als Bürger dargestellt worden. Mehr noch: Die kulturgeschichtlichen Sinnverfechter des Tragischen und Heroischen hätten den Begriff der deutschen Misere erfunden, "um für ihre autoritäre Schicksalsgläubigkeit freie Bahn zu haben" (9). Und nach deren Interpretation habe die nationale Vergangenheit der Deutschen in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts geendet.
Gegen solche einseitigen Darstellungen will der Verfasser, Germanist, Kulturhistoriker mit kulinarischen Vorlieben (vgl. Butter, Huhn und Petersilie. Anregungen für eine feine Küche, 2011) und freier Journalist, eine andere Kulturgeschichte schreiben, "die auf das Menschlich-Bürgerliche zielt: die Verfeinerung der Deutschen." Eine merkwürdige Absicht, die Seitz sogar in eine Formel fasst: "Sie fußt auf den Erkenntnissen dieses Buches und versteht sich zugleich als Utopie: als Befund und Wunsch in einem." Sein methodisches Vorgehen ist auf den ersten Blick diffus. "Leitbegriffe, Themen und Probleme der deutschen Geschichte und Verfeinerung (werden) vorgeführt, bevor die Darstellung in eine chronologische Erzählweise übergeht." Seine Darstellung setzt zeitlich am Ende der Eiszeit ein, um 9500 v. Chr. Doch die weiteren chronologischen Schritte erweisen sich als ungenau in der Definition, weil die Darstellung der Landwirtschaft um 5500 v. Chr. immer wieder aus der Vergangenheit in die Gegenwart springt mit der Absicht, auch etwas über das zeitgenössische Deutschland zu sagen. Ausgehend von allgemeinen philosophischen Betrachtungen über die Urbedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen, nämlich Essen und Trinken, Liebe und Liebelei (!), Kunst und Literatur, Kleidung und Wohnen und natürlich Freundschaft und Geselligkeit möchte Seitz "nichts für sich stehen lassen", sondern "das eine ins andere übergehen" lassen, um zur Lebenskunst zu werden.
Nach dieser zugegebenermaßen groben Mischung aus vielen Ingredienzien erhofft sich der Leser mehr Einsichten von der Einleitung in die andere Kulturgeschichte. Auf der Suche nach den Gründen für die Herausbildung der feinen Lebensart der Deutschen bedient Seitz sich ganz unterschiedlicher Quellen. Zunächst wendet er sich gegen die sauertöpfische Selbstanklage der Deutschen, an der Martin Luther mit seiner Kritik am Luxus eine große Schuld trage. Außerdem sei der Einfluss der romanischen Kultur seit dem 16. Jahrhundert in Deutschland zurückgedrängt worden. Dennoch habe man sich von der "vorübergehenden Vorherrschaft bestimmter Weltanschauungen – Pseudo-Germanentum, orthodoxem Luthertum und Preußentum – nicht blenden lassen." (13) In den folgenden Ausführungen springt die Argumentation immer wieder in die Gegenwart, wo der Verfasser sich über die paradoxe Kultur des Kapitalismus ebenso sporadisch äußert wie über den Begriff des Feinen, der sich vom Wort Fee ableite. Damit greift er zwar auf die Volksüberlieferungen im romanischen Epos zurück, nicht aber auf fata, die Schicksalsgöttinnen, die der Semantik des Feinen ihre Etymologie verliehen haben.
Es gehört zu den methodischen Besonderheiten dieser Kulturgeschichte der deutschen Feinheiten, dass sie eine Polemik gegen romfeindliche Darstellungen (wie zum Beispiel Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, 2009) entfaltet oder, wie im Falle von Norbert Elias (Die höfische Gesellschaft, 1969) eine Paraphrasen gleiche Erweiterung des Begriffs vornimmt. Der Soziologe habe die höfisch-aristokratische Gesellschaft der frühen Neuzeit als Labor menschlicher Verfeinerung bewertet, nicht aber auch deren Wahnwitz und Tyrannei berücksichtigt. Seitz vertritt hier die These, dass die wahre menschliche Verfeinerung an der Schnittstellen der Gesellschaft zwischen Aristokraten und Bürgern abgelaufen sei. In der Folge greift er auf soziologische Konstrukte zurück, um die vielschichtige Ausdifferenzierung der "verfeinerten" Lebensart des modernen Bürgers beschreiben zu können. So benutzt Seitz beispielsweise den Begriff des Bourgeois-Bohemien (Bobo) nach David Brooks (Die Bobos. Der Lebensstil der neuen Elite, 2002), um den bürgerlichen Lebenskünstler zu charakterisieren, für den angeblich das Geld nur noch ein Nebenprodukt seiner Tätigkeit zu sein scheint. Mehr noch: Dieser Typus kümmere sich um die drei G: äußere Güter, Gesundheit und Geist.
Wie immer solche spekulativen Erscheinungsformen eines sogenannten sanften Materialismus am Ende des 20. Jahrhunderts zu bewerten sind, in den folgenden voluminösen Ausführungen entwirft Seitz am Beispiel von drei städtischen Kulturen (Bamberg, Trier und Franken) und zwei Prototypen (zivilisierter Krieger und abenteuerlicher Bürger) eine faktenreiche Beschreibung von zivilisatorischen Phänotypen, der es freilich an sozialkritischer Analyse mangelt. Erst mit dem Verweis auf Herrscherfiguren (Maximilan I.) und frühkapitalistische Persönlichkeiten (Jakob Fugger) wie auch klösterliche Ordensgemeinschaften (Jesuiten) im Kapitel IX wird der politökonomische Zusammenhang von extensiver Ausbeutung von Arbeitskraft und Profitbildung deutlich. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die überzeugende Beschreibung einer Esskultur von europäischem Rang ab, an der nicht nur die Aristokratie, sondern auch das städtische Bürgertum partizipierten, die bäuerlichen Schichten ausgenommen. Die genüssliche Darstellung dieser barocken Esskunst läuft zunächst im Kapitel XI mit dem Blick auf fürstliche Residenzen und Kaffeehäuser ab, bevor sich das Ende des Festes im soldatisch-asketischen Preußen abzeichnet. Die abschließende Auseinandersetzung mit der bürgerlichen deutschen Gesellschaft (Kapitel XIV) wagt den riesigen zeitlichen Sprung von der Errichtung der konstitutionellen Monarchie in der Paulskirchenverfassung von 1849 bis in die Berliner Essenkunstszene des späten 20. Jahrhunderts. Erst in diesem Kapitel zeichnet sich eine ausgewogene Analyse von Herrschafts- und Sozialgeschichte unter Einbeziehung von wesentlichen kulturellen Entwicklungssträngen ab. Sie endet, nach einer eingehenden Bewertung des Vernichtungswahnsinns im Zweiten Weltkrieg, mit der Würdigung der gastronomisch-kulinarischen Wende in der Kanzlerzeit von Willy Brandt. In diesen abschließenden Passagen brilliert der kulinarische Kulturhistoriker, indem er am Beispiel der Berliner Gaststättenkultur die Herausbildung von neuen Essensgewohnheiten unter Einbeziehung von Architektur- und Sozialgeschichte beleuchtet.
Summa summarum: ein tief schürfendes, materialaufwendiges Kompendium, in dem der scharfsinnige Blick des Verfassers auf die Interdependenz von materialen und kulturellen Entwicklungssträngen bei der Herausbildung verfeinerter Sitten und Bräuche immer wieder durch den Duft der Speisen aus deutschen aristokratischen und bürgerlichen Küchen verführt wird, solange bis er, ernüchtert von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, eine überzeugende Analyse der feinen Unterschiede vorlegt.