"Weg des Friedens" – "Wege zum Frieden"
Es gab und gibt – vor allem in christlichen Kreisen – eine Metapher für das Friedensengagement: der vielzitierte und biblisch aufgetragene "Weg des Friedens". Zuweilen wird auch von den "Wegen zum Frieden" gesprochen. Der Fokus liegt dann mehr auf zu erreichenden Endzuständen, und im Plural ist mitgedacht, dass dessen Verwirklichung so mühsam wie kompliziert ist.
Die Friedensbewegung in der DDR nannte sich unabhängig, weil sie im Widerspruch zur staatlichen Friedensrhetorik stand und die Militarisierung der Gesellschaft kritisierte. Die ersten Gruppen entstanden unter dem Dach der evangelischen Kirche, aber immer wieder gab es Konflikte zwischen den politisch drängelnden Aktivisten und insgesamt eher vorsichtigen Kirchenleitungen. Das inhaltliche Spektrum war breit und konfliktreich, die Themen reichten von Fragen der Wehrdienstverweigerung (in den späten 1960er-Jahren) über die Militarisierung der Gesellschaft (Ende der 1970er) bis hin zur Durchsetzung demokratischer Grundrechte als Voraussetzung für Friedensarbeit (in den späten 1980er-Jahren). In dieser Entwicklung der Friedensbewegung von den Anfängen bis in die Zeit nach 1989 möchte ich unterschiedliche Strömungen und Phasen, sowie die Bedeutung von Schlüsselfiguren aufzeigen.
Die These wäre, dass sich an dieser historischen Bewegung idealtypisch einige grundlegende und letztlich verallgemeinerbare Probleme sozialer Bewegungen verdeutlichen lassen: Der steinige und ungewisse, der vielleicht recht einsame Beginn. Die Berufung, also die Fragen: "Was ist mein Auftrag?" und "Warum tue ich das überhaupt?" Die Suche nach Mitstreitern, das Ringen um Orientierung, der Streit um die richtige Richtung und die damit möglicherweise einhergehenden zwischenmenschlichen Enttäuschungen und Verletzungen. Die Krisen, die Zeiten der Erschöpfung. Der lange Atem, weiter zu gehen, obwohl ein Ende nicht immer absehbar ist. Schließlich die – wie im Fall der DDR – unerwartete "Ankunft" und die krisenbehaftete Frage: "Was nun und wie eigentlich weiter?" Schließlich die Rückschau auf den zurückgelegten Weg und die Unterschiedlichkeit und den Widerstreit der Erinnerungen – je nachdem, woher und wohin man gekommen ist.
Bezogen auf diese Herausforderungen und Probleme möchte ich vier Fragen nachgehen: Welche Merkmale waren charakteristisch für die DDR-Friedensbewegung (1)? Warum waren und warum sind vor diesem Hintergrund bekannte wie unbekannte Schlüsselfiguren von Bedeutung (2)? Was wurde aus den Gruppen und Aktivisten nach 1989 (3)? Und abschließend: Was ist der Ertrag dieses Ansatzes für die erinnerungskulturelle Rückschau wie für den Ausblick auf die aktuellen Herausforderungen von Protestbewegungen (4)?
1. "Unberechenbar wie ein Gebirgsbach" –
die Entstehung und Stabilisierung
der Friedensbewegung
Beginnen wir zunächst allgemein.
Was wird aus einer sozialen Bewegung, wenn der Erfolg und die Bedeutung von einst verblasst sind? Wenn die politischen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sie entstand, sich wandeln? Wenn der Kalte Krieg beendet und die Mauer gefallen, wenn die unmittelbare Kriegsbedrohung gewichen ist? Wenn die Wut und die Angst von damals verpufft sind und die Empörung glattgeschliffen ist? Wenn der Idealismus der immer noch Aktiven abgekämpft klingt, zuweilen melancholisch und nicht selten verbittert?
Diese Ausgangsfrage stellte sich auch der Journalist Christof Siemes. In der Wochenzeitung "Die Zeit" veröffentlichte er 2002 ein Portrait der gesamtdeutschen Friedensbewegung am Vorabend der Irak-Invasion. Er besuchte verschiedene Friedensgruppen und Initiativen in Ost und West. Siemes' These: Die Friedensbewegung schmilzt ab auf einen Kern von wenigen Gruppen und Langzeitaktivisten. Sie hält Winterschlaf. Siemes' Text hat zwar mit der DDR-Friedensbewegung auf den ersten Blick nichts zu tun. Auf den zweiten ist er aber eine sehr plastische und dichte Annäherung an ein flüchtiges und instabiles soziales Gebilde, wie es soziale Bewegungen sind. Die öffentlichkeitswirksamen Proteste gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in den 1980er-Jahren in der Bundesrepublik vor Augen schreibt Siemes: "Die letzten Mutlanger Pershings verschwanden 1990 und mit ihnen die German angst vor dem atomaren Schlachtfeld Deutschland. 'Besuchen Sie Europa, solange es Europa noch gibt' – das Flugblatt aus dieser bewegten Zeit mutet heute an wie eine hethitische Keilschrifttafel. Wo einst die Abschussrampen standen, wird jetzt an einer Einfamilienhaussiedlung geheimwerkelt [...] Was bleibt von der Friedensbewegung außer Brennholz und ein paar Devotionalien? 'Wir waren nicht erfolgreich', sagt einer aus der Tiefe eines ausrangierten Sofas in der Pressehütte. 'Keine Raketen nach Mutlangen', war die einfache Losung. Und heute? Lagern sie halt woanders, in Büchel in der Eifel zum Beispiel, 36 Sprengköpfe. Aufregen tut das niemanden mehr. Jetzt ist der Krieg woanders und alles nicht mehr so einfach. [...] 'Man muss aber auch mal nix tun dürfen', wirft eine alte Kämpin zaghaft ein. Der Job, die Kinder, das Haus, der Garten – irgendwann ist alle Kraft aufgezehrt, nichts bleibt für das Ehrenamt des Pazifismus. Und nichts ist leichter, als bei der Friedensbewegung nicht mehr mitzumachen: Man geht einfach nicht mehr hin. Es gibt keine Mitgliedschaft, die man kündigen müsste. Sie ist nur eine soziale Bewegung, an der man teilhat, weil man an die Bergpredigt glaubt oder an Mahatma Ghandi [sic]. Andere können die Bombennächte des letzten großen Krieges nicht vergessen, und viele wollen bloß, dass man um Ressourcen nicht kämpft, sondern sie gerecht verteilt. Unberechenbar wie ein Gebirgsbach ist die Bewegung mal mitreißend, mal fast versickert."
Generell mag also gelten, dass die Gestalt einer Bewegung flüchtig, die Erfolge relativ und die gesellschaftliche Resonanz geprägt ist von achtloser Wechselhaftigkeit. Für die DDR kann man diese Merkmale jeweils noch weiter zuspitzen. Zwei möchte ich dabei hervorheben:
Erstens das Problem der instabilen Entstehung und des nichtabsehbaren Fortgangs. Die ersten Schritte durch eine kleine Schar von Bewegungspionieren war zunächst geprägt von Ungewissheit. Anfang der 1970er-Jahre entstanden in der DDR erste Friedensgruppen. Gegründet wurden sie in der Regel von Wehrdienstverweigerern. Dementsprechend kreisten die Themen zunächst vor allem um Fragen der Wehrdienstverweigerung, um die Beratung junger Wehrpflichtiger und um den Erfahrungsaustausch. Zu dieser Zeit war weder abzusehen noch war es geplant, dass aus diesen ersten Gruppen in den 1980er-Jahren eine unabhängige Friedensbewegung entstehen sollte. Zudem war das gesellschaftliche Klima für die ersten Friedensaktivisten ausgesprochen "unfreundlich". Die Wehrdienstverweigerung führte zu vielfältigen staatlichen Repressionen, insbesondere beruflichen Benachteiligungen, in vielen konservativ geprägten Kirchgemeinden stießen die jungen Männer zusätzlich auf Unverständnis.
Friedensseminar in Königswalde, o.J. (© Martin-Luther-King-Zentrum Werdau)
Friedensseminar in Königswalde, o.J. (© Martin-Luther-King-Zentrum Werdau)
Das zweite Merkmal ist die mühsam auszubalancierende Unterschiedlichkeit der einzelnen Strömungen. Die Stabilisierung und die Vernetzung des losen Nebeneinanders von Gruppen waren prekär und verliefen konflikthaft. In den späten 1970er- und mehr noch in den 80er-Jahren bildeten sich landesweit erste Netzwerke zwischen einzelnen Gruppen und Aktivisten. Unter dem Eindruck des Wettrüstens und der zunehmenden Militarisierung der DDR-Gesellschaft formierte sich die Friedensbewegung aus verschiedenen teilweise unverbunden nebeneinander existierenden Gruppen und Kreisen. Das waren neben den Wehrdienstverweigerern die Gruppen der Bausoldaten sowie die in den 1970er-Jahren entstehenden Friedensseminare und Friedenskreise der Studentengemeinden. Es gehörten ferner die Jugendlichen und Gruppen der Offenen Arbeit dazu, die vor allem im Süden der DDR entstanden. Eine weitere Strömung bestand in der kulturellen Dissidenz: kritische Liedermacher, Künstler und Schriftsteller. Und schließlich marxistische Intellektuelle, die aus den kirchenfernen, linksoppositionellen Zirkeln der 1970er-Jahre kommend beispielsweise in Friedenskreisen der Evangelischen Studentengemeinden mitarbeiteten.
Der Blick auf die Biografien
Zur ersten Strömung: In den 1960er-Jahren führten die "Mitmach-Konflikte" – den zweiten Weltkrieg noch drastisch vor Augen – bei den Wehrpflichtigen zu einer "Nie-Wieder-Politisierung". In den von mir geführten biografischen Interviews wird dies deutlich in der Einbettung der Entscheidungsprozesse in eine intensive Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und in eine rigide, teils religiös teils politisch begründete rigorose Kriegsablehnung. Dieses Thema wurde kontinuierlich von Gruppen bearbeitet, da innenpolitische Entwicklungen wie die fortgesetzte Militarisierung und die Spannungsfelder des Kalten Krieges es immer wieder reaktivierten. In diesem Sinne war die unabhängige Friedensbewegung zuallererst und bis zu ihrem Ende eine Kriegsablehnungsbewegung.
Zeitlich parallel und sich bis in das individuelle Selbstverständnis hinein überschneidend entstand die zweite Strömung. Steht das "Nie wieder" für die Rigorosität der Kriegsablehnung, so meint die Ernst Blochs Hoffnungsphilosophie entlehnte Formel des "Noch nicht" die Weite damaliger Anspruchshorizonte, die knisternde Aufbruchstimmung einer auf eine bessere, zukünftige Gesellschaft hin ausgerichteten Anspannung, wie sie prägend für die 1960er-Jahre war. Über das Studium oder über Bekannte gerieten die damals Politisierten in den Sog dieses Erwartungshorizontes, der als schillernde Kontrastfolie die real existierenden Konstruktionsmängel der DDR-Gesellschaft umso schärfer erscheinen ließ. In diesem Sinne war die unabhängige Friedensbewegung eine Reformbewegung mit dem Anspruch auf umfassende Veränderungen in der Gesellschaft wie in der Kirche.
Diese Politisierungskonstellationen ändern sich in den 1980er-Jahren. In der Abgrenzungsformel "Jetzt reicht's" verdichten sich die biografisch teilweise langwierigen Distanzierungsprozesse gegenüber dem DDR-System. Die atomare Vernichtung vor Augen führte diese Mischung zu einer Dramatisierung der Bedrohungswahrnehmung und vor dem Hintergrund von Überdruss und angestauten Ausgrenzungserfahrungen (bis hin zum Arbeitsplatzverlust) zu einer intensiven Politisierung der zu diesem Zeitpunkt noch nicht Aktiven. Es stießen solche zur Friedensbewegung, die zweifellos durch die atomaren Bedrohungen und die dramatische Aktualisierung des "Nie wieder!" politisiert wurden. Häufig waren es aber Personen, die – aus privilegierten Berufen kommend – mit dem DDR-System nunmehr abgeschlossen, mithin nicht mehr viel zu verlieren hatten und entsprechend konfrontationsbereiter agierten. In diesem Sinne war die unabhängige Friedensbewegung eine sich zunehmend energisch artikulierende Protestbewegung, in der sich innenpolitische Konflikte und Veränderungsbegehren bündelten und in der sich die Abkehr vom real existierenden Sozialismus ausdrückte.
Bei vielen in derselben Zeit politisierten Jugendlichen verband sich die Bedrohungswahrnehmung mit der Suche nach kulturellen Freiräumen und alternativen Lebensperspektiven. Diese "Ohne mich"-Politisierung zielte einerseits gegen Militarisierung und Atomkrieg, andererseits als kultureller Aufbruch gegen die Verkrustungen in den Familien, Kirchen und in der Gesellschaft. In diesem Sinne war die unabhängige Friedensbewegung auch eine Emanzipationsbewegung, in deren Basisgruppen und Lebensgemeinschaften ein konsequenter Ausstieg aus einer als kleinbürgerlich empfundenen Gesellschaft verwirklicht werden sollte.
Diese ganz unterschiedlichen, sich hier überschneidenden oder da einander fremd gegenüberstehenden Strömungen verdichteten sich vor Ort zu kleinen Szenen. Diese waren in der Regel auf das Wohlwollen lokaler Kirchenvertreter angewiesen und Konflikte dementsprechend vorprogrammiert. Einerseits zwischen den Gruppen und der Kirche – zu denken wäre etwa an die Gründung der Friedensgemeinschaft Jena 1983, die mit dem Schritt aus dem schützenden Dach der Kirche zugleich das zögerliche und bremsende Verhalten von Kirchenfunktionären kritisierten.
2. Die Bedeutung von Schlüsselfiguren
Die Friedensbewegung existierte somit seit den 1980er-Jahren als spannungsreich auszubalancierendes Nebeneinander von vier Strömungen. Sie formierte sich als loses Netz punktuell miteinander verbundener Gruppen. Ihr Wirken blieb lange Zeit auf kirchliche Nischen begrenzt. An dieser Stelle kommt das Konzept der Schlüsselfiguren ins Spiel.
Bei der Entstehung und Formierung einer Bewegung, auf ihrem Weg durch die Geschichte, gibt es verschiedene Phasen mit je eigenen Herausforderungen. Es braucht – damals wie heute – den Anstoß zum Engagement und zwingend Menschen, die einfach anfangen, losgehen, die Wegbereiter sind – was unter den Bedingungen der DDR ungewöhnlich genug war. Ermutigung ist unentbehrlich: "Mach das", "Lass dich nicht beirren", "Bleib nicht auf der Strecke". Gerade dort, wo der Zugang zur Öffentlichkeit verwehrt wird und Kommunikationsmittel beschränkt sind, ist das Vernetzen, das Knüpfen von Kontakten, das Fädenspinnen und Strippenziehen von zentraler Bedeutung. Es braucht jene, die verständlich und hörbar das Problem an- und aussprechen; die darauf einschwören, warum der Protest nötig und das Engagement sinnvoll ist. Und es sind die geduldigen und anerkannten Vermittler nötig, die zwischen sich ausbildenden Flügeln und Fraktionen einer Bewegung Kontakt und Ausgleich suchen. All diese Handlungsaspekte und Funktionen sind nicht ausschließlich, aber gerade in sozialen Bewegungen und mehr noch in der ohne organisatorischen Kern und ohne anerkannte Repräsentanten agierenden DDR-Friedensbewegung an einzelne Schlüsselfiguren gebunden.
Was meint das Konzept? Es geht mir erstens nicht um einzelne, konkrete Personen. Die einzelnen Schlüsselfiguren sind Idealtypen, in denen sich jeweils eine zentrale Funktion verdichtet. So kann eine konkrete Person mehrere solcher Funktionen erfüllen. Und es muss ihr – im Unterschied zu einer sozialen Rolle – nicht einmal bewusst sein, dass sie dies tut. Es geht zweitens nicht um Prominenz, nicht um den Erfinder, das Gesicht, den Vordenker einer Bewegung – also nicht um deren mythische (Selbst-)Zuschreibungen. Im Gegenteil braucht es solche Schlüsselfiguren in allen Phasen der Entwicklung – zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich wichtig – und auf allen Ebenen.
Die Ursprünge dieses Konzepts liegen in der Kritik an der Forschung zur Geschichte der US-Bürgerrechtsbewegung und an deren zu starker Fixierung auf Führungsfiguren wie Martin Luther King.
a) Die Pioniere und Wegbereiter
Pioniere sind die Wegbereiter. Nicht immer sind es zeitlich gesehen die Ersten. Mögen auch irgendwo längst Gruppen gegründet worden sein, der erste Schritt vor Ort ist deshalb nicht automatisch leichter, die Umwelt nicht per se wohlwollend. Insofern gab und gibt es sie zu allen Zeiten der Bewegung. Wegbereiter gehen los, aber nicht immer geht es voran. So wie jener Bausoldat der ersten Generation, der schon in den 1960er-Jahren versuchte, eine Friedensgruppe zu gründen, dabei aber auf keinerlei Resonanz stieß. Es dauerte viele Jahre intensiver Gemeindearbeit, ehe 1973 das erste Seminar entstand.
b) Die Mentoren
Die Mentoren unterstützen und ermutigen die ersten Aktivitäten. Häufig sind es "signifikante Andere": im konkreten Beispiel hauptamtliche Mitarbeiter der Kirche, meist Jugend- oder Studentenpfarrer, Jugendmitarbeiter oder ältere Bezugspersonen. Daneben waren in den biografischen Interviews mit Friedensaktivisten Prägungen durch "geistige Mentoren" wirksam, die sich beispielsweise in der Orientierung an exemplarischen Lebensläufen prominenter Aktivisten zeigen.
c) Die Märtyrer
Diese Figur hat zwei Bedeutungen: Als Zeugen verkörpern Märtyrer einerseits den Mut und die moralische Rigorosität der eigenen Haltung; in der Gestalt der "unschuldigen Opfer" wird andererseits der Unrechtscharakter des kritisierten Gegenübers skandalisiert. In der DDR traf dies unter anderem auf den Pfarrer Oskar Brüsewitz zu, der sich 1976 aus Protest gegen staatliche Repressionen öffentlich verbrannte, sowie auf Matthias Domaschk, engagiert in Junger Gemeinde und Jenenser Friedensbewegung, der 1981 unter ungeklärten Umständen in der Untersuchungshaft des Ministeriums für Staatssicherheit ums Leben kam.
Auch wenn es nur in wenigen Bewegungen reale Märtyrer gibt, so sind sie doch als abstrakter Bezugspunkt im Hintergrund immer präsent. In ihnen verdichtet sich die Frage: "Welchen Preis bin ich bereit für mein Engagement zu zahlen?" So werden – etwa in biografischen Interviews mit Aktivisten – historische Märtyrer zur Legitimation und Selbstvergewisserung des eigenen Engagements herangezogen – wie von Dorothee König*, die vor und nach 1989 in der Friedensbewegung aktiv war: "obwohl man wenig davon sieht, aber dass das [...,] mein Glauben, das also so wie die Geschwister Scholl total gescheitert sind, wie Jesus total gescheitert ist, [auch] Martin [Luther King] – wo sie hingucken wollen – die Großen [...], und wir wissen [...,] dass sie leben, sie leben in unserem [...] Gedächtnis weiter und sind Vorbild [...,] insofern ist mein kleines Tun nicht sinnlos".
Neben dem Martyrium als Deutungsmuster für den Ernst der eigenen Gesinnung, wurden zudem eigene Haft- und Unrechtserfahrungen und mehr noch die Aussichtslosigkeit des Tuns ("total gescheitert") indirekt als Martyrium gedeutet und religiös als "Kreuz auf sich nehmen" aufgewertet. Das eigene politische Engagement hat einen starken Eigenwert und lässt die Aktivisten handeln ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen.
d) Die Vordenker
Die Funktion von Vordenkern ist zwiespältig. Sie sind wichtig, weil sie die politischen Anliegen in breitere gesellschaftliche Kreise hineintragen, diese übersetzen und somit (begrenzt) Öffentlichkeit herstellen. Sie liefern zudem Orientierung und Denkanstöße. Weil damit zugleich eine gewisse Sichtbarkeit und Prominenz einhergeht und sie als Schreiber von Texten am ehesten historisch greifbare Spuren hinterlassen, wird der Einfluss von Vordenkern zuweilen aber überschätzt. Denn auch hier gilt: Es gibt sie auf allen Ebenen – bekannt wie unbekannt.
In den einzelnen Gruppen sind es jene, die Diskussionspapiere oder Aufrufe erstellen und inhaltliche Diskussionen dominieren. Ich nenne sie die lokale Auslegungselite. Zugleich werden zwischen diesen 'Lautsprechern' die Deutungskämpfe der einzelnen Fraktionen ausgetragen. Konflikte, Konkurrenzen und persönliche Befindlichkeiten zwischen ihnen führen – wie vor allem in der Berliner Szene der 1980er-Jahre – zu Abspaltungen und Neugründungen. Und nicht zuletzt begünstigt ihre Dominanz gruppeninterne Hierarchien, womit also eine Sicht forciert wird, in der praktische Tätigkeiten wie das Drucken und Verteilen der Aufrufe, das Ein- und Ausräumen der Kirche oder die Verköstigung der Aktivisten latent entwertet werden.
Daneben gibt es zweitens Experten, die als Vertreter spezialisierter Berufe einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung einer Bewegung liefern. Man denke an Naturwissenschaftler wie Helmut Dohmke, Michael Beleites oder Sebastian Pflugbeil, die beispielsweise über die Folgen einer atomaren Verseuchung in der DDR informierten. Man denke an Joachim Garstecki, der als hauptamtlicher Friedensreferent des DDR-Kirchenbundes wichtige Studien und praktische Arbeitsmaterialien herstellte.
Zu den Vordenkern gehören schließlich drittens einflussreiche Intellektuelle, die durch eine relative Unabhängigkeit oder durch ihr Ansehen die Anliegen der Gruppen verstärken. Zu nennen wären Vertreter einer kritischen Theologie wie der Erfurter Probst Heino Falcke oder bekannte Dissidenten wie Rudolf Bahro oder Robert Havemann.
e) Die Fürsprecher
Soziale Bewegungen zielen darauf, die Öffentlichkeit mit ihren Anliegen aufzurütteln und die politischen Entscheider auf ihre Forderungen zu verpflichten. Sie sind – und sei es nur punktuell – auf jene angewiesen, die Ziel und Anliegen außerhalb der Bewegung übersetzen.
Unter den Bedingungen der SED-Diktatur war die Ausgangsituation entsprechend schwierig. Zur Besonderheit der DDR-Friedensbewegung gehörte, dass sie stark – dabei aber mehr oder weniger freiwillig – mit kirchlichen Strukturen verwoben war. Die Gruppen agierten meist unter dem schützenden Dach von Kirchgemeinden und waren also notwendig auf die Zusammenarbeit mit der lokalen Kirchenleitung angewiesen. Und gerade im Konflikt mit den Gruppen übte der Staat immer wieder einen Disziplinierungsdruck auf die Kirchenleitungen aus und versuchte, innerreligiöse Debatten um Grenzen und Regeln des Religiösen politisch zu instrumentalisieren: etwa die Frage, was Punks in einer Kirchgemeinde verloren hätten. Das ließ Gruppen dann misstrauisch werden, wenn zuständige Ortspfarrer den "religiösen Charakter" einer Veranstaltung einforderten. Wenn kirchliche Vertreter aber als parteiische Fürsprecher der Gruppen handelten, konnte vor Ort und auf Dauer eine stabile oppositionelle Szene entstehen – was eher die Ausnahme als die Regel war und auf größere Städte und einzelne Regionen beschränkt blieb. Das Gegenbeispiel wären entsprechend jene Orte, wo eine ängstlich angepasste Kirchenleitung verhinderte, dass Friedensgruppen sich überhaupt dauerhaft etablieren konnten.
Fürsprecher übersetzten und integrierten zudem die Anliegen der Gruppen in unterschiedlich folgenreiche kontextuelle Theologien über Auftrag und Gestalt von christlicher Religion und sicherten – gerade in der schwierigen Umbruchzeit von 1984/85 nach dem NATO-Nachrüstungsbeschluss – die Existenz der bedrängten Gruppen und schufen strukturelle Arbeitsbedingungen. Fürsprecher gab es keineswegs nur in Teilen der Kirche. Wichtig waren auch parteiische Journalisten wie Peter Wensierski, die in den Westmedien als Übersetzer immer wieder über die Bewegung berichteten und Dokumentationen herausgaben. Sie gehörten damit zu den besten Kennern der Bewegung und halfen dabei, dass diese sich selbst überhaupt als ein Ganzes erkannte.
f) Die Vernetzer
Auch mit der fortschreitenden Professionalisierung, der Herausbildung von professioneller Arbeitsteilung und Kooperationsstrukturen bleibt für soziale Bewegungen insgesamt charakteristisch, dass sie aus einem Netzwerk von Gruppen und Organisationen, von Gewerkschaften und Parteien bestehen. Diese schließen sich anlassbezogen zu Kampagnen zusammen und sind dabei auf aktive Vernetzungsarbeit angewiesen (sei es durch eine ausgebildete Mobilisierungsinfrastruktur, sei es durch Schlüsselfiguren, die im Hintergrund Kontakte einfädeln und Netzwerke knüpfen).
Gerade in der DDR, in der die Gruppen so zerstreut und ohne voneinander zu wissen entstanden, bestand ein hoher Bedarf an struktureller und personeller Vernetzung. Dies geschah anfänglich über die Bekanntschaft bei gemeinsamen Veranstaltungsbesuchen (wie Friedensseminaren, Friedenswerkstätten oder dem "Mobilen Friedensseminar"), später dann im exklusiven, mit einem Delegierungssystem der Basisgruppen agierenden Koordinationskreis "Frieden konkret". Dort, wo auch vor Ort eine Vernetzung der verschiedenen kirchennahen bzw. unabhängigen Gruppen mit kulturellen und kirchlichen Milieus gelang, konnte sich ein aktionsfähiges Protestfeld ausbilden. In Leipzig war es beispielsweise eine Katechetin, die hier eine Schlüsselfunktion innehatte. Sie war kirchliche Mitarbeiterin und konnte ihre Arbeitszeit für Vernetzungsaufgaben "umwidmen". Weil sie aber selbst Mitglied der ältesten Friedensgruppe der Stadt war, genoss sie ein hohes Ansehen und wurde als Kirchenvertreterin nicht so misstrauisch beäugt.
Das Beispiel der Fürsprecher und Vernetzer zeigt, dass die Folgen ihres Wirkens umso stärker waren, je mehr sie in organisatorische Strukturen eingebunden und deren materiellen wie legitimatorischen Ressourcen nutzen konnten. Dass etwa kirchliche Mitarbeiter in dieser Weise agierten und die Rollenanforderungen weitaus politischer interpretierten, als es dem Staat und Teilen der Kirche lieb sein konnte, hängt wiederum stark mit der eigenen Biografie zusammen, mit einem Selbstverständnis, das sie für die Gruppen Partei ergreifen ließ.
g) Die Aktionisten
In dieser Figur verdichtet sich einerseits das Drängen auf eine stärker konfrontative politische Auseinandersetzung und andererseits die Bereitschaft zur Durchführung hoch riskanter Aktionen. Ein frühes Beispiel ist die Jenaer Friedensgemeinschaft. Sie entstand im Konflikt mit lokalen Kirchenvertretern. Ihre Mitglieder suchten die Öffentlichkeit, führten Demonstrationen durch, drängten zur Konfrontation. Die Gründe für ein Dominantwerden solcher "radikaler Flügel" sind vielschichtig. Diese Fraktionen sind das Ergebnis von Konflikten und Ausdruck eines unterschiedlichen Selbstverständnisses etwa zwischen moderaten oder aktionsorientierten Gruppen. Sie sind schließlich auch das Produkt von Generationenunterschieden. So dominierten ab Mitte der 1980er-Jahre vor allem jüngere Oppositionelle die zunehmend aktionsorientierten Gruppen. Hinzu kamen dann vor allem in Leipzig die Ausreiseantragsteller, die aufgrund ihres Status nichts mehr zu verlieren hatten und deshalb besonders risikobereit auftraten.
h) Die Renegaten
Diese Figur ist insofern existent, als sie so etwas wie eine Beschimpfungsformel innerhalb einer Bewegung ist. Und hier wird noch einmal die Besonderheit der Begriffsbildung deutlich. Die Schlüsselfiguren agierten nur teilweise bewusst, etwa im Sinne von Rollenanforderungen. In diesem idealtypischen Kunstbegriff, der die Wirkungen eines Handelns auf eine abgrenzbare Funktion zuspitzt, ist mitgedacht, dass den Akteuren diese Funktion nicht bewusst oder nicht mehr als eine Zuschreibung von außen ist. Und so, wie "Pionier" eine nachträgliche Bezeichnung ist, so steht das Renegatentum für die Innensicht einer Bewegung auf jene, die sie verließen. Der Austritt aus der Bewegung und der Abbruch des Engagements werden als "Verrat an der guten Sache" kritisiert. Dieser Vorwurf galt innerhalb vieler Gruppen vor allem Ausreiseantragstellern, später in der Umbruchszeit von 1989/90 dann Mitstreitern, die in jeweils missliebige Parteien wechselten oder beruflich Karriere machten – was auch immer das im jeweiligen Kontext dann sein mochte.
Ohne das werten zu wollen: Das starke Misstrauen, das diesen wechselseitigen Beobachtungen heraufbeschwor, führte zu manch ungerechtem Urteil. Für die Aktiven war die Auseinandersetzung mit den angeblich Abtrünnigen ein wichtiger Prozess der Selbstvergewisserung: "Was ist an deren Verhalten falsch, warum mache ich das nicht?"
i) Der Agent Provocateur
Mit Agent Provocateur bzw. dem Informanten sind vom Ministerium für Staatssicherheit eingeschleuste oder angeworbene Aktivisten gemeint, die – an möglichst zentraler Position – Informationen beschafften oder auf das Handeln der Friedensbewegung Einfluss nehmen sollten. Interessant ist (wenngleich wenig verwunderlich), dass dem Handeln des MfS unausgesprochen eine rudimentäre "Theorie" über die Bedeutung und Funktion wichtiger Schlüsselfiguren zugrunde lag. Inoffizielle Mitarbeiter wurden gezielt in ganz bestimmten einflussreichen Positionen eingesetzt (und in anderen gerade nicht): in Ausbildungsstätten oder der kirchlichen Jugendarbeit mit dem Ziel, den kritischen Einfluss von Mentoren zurückzudrängen; an den theologischen Fakultäten, um die Differenzierung zwischen "fortschrittlichen" und "reaktionären" Pfarrern zu forcieren oder durch parteiische Experten theologische Diskussionen im Sinne einer Entpolitisierung von Kirche zu beeinflussen; als Mittler zwischen Kirche und Gruppen, um (gegen den Einfluss der Fürsprecher) massiv Einfluss auf die Ausbildung lokaler Oppositionsszenen zu nehmen und an vielen Orten die Ausbildung von Friedensgruppen zu unterbinden oder zu begrenzen. Und schließlich natürlich in den Gruppen selbst: Dort wurden neben Informanten häufig "Auslegungsexperten" eingesetzt, die zermürbende Grundsatzdebatten provozierten und die Arbeit dergestalt lähmten.
Ab Mitte der 1980er-Jahre setzte eine zunehmende Politisierung der Friedensbewegung ein
In der Übersicht wird aber zugleich deutlich, dass es den Weg hin zur friedlichen Revolution nicht gab und dass die vielen Wege zudem nicht Schritt für Schritt geplant waren. Das Geflecht von Gruppen war fragil, zum Teil stark zerstritten, ein koordiniertes Vorgehen selten und die Ereignisse letztlich ein Zusammenspiel unterschiedlichster Faktoren.
Dementsprechend waren in den oppositionellen Zentren der DDR am Vorabend des revolutionären Herbstes drei markante Akteurskonstellationen entstanden, die einen je unterschiedlichen Beitrag zu den Ereignissen leisteten.
Es folgten zwischen Oktober 1989 und März 1990 turbulente Wochen und Monate, geprägt von Umbrüchen und von vielfältigsten Ansätzen der Selbstorganisation in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern. Es gab runde Tische überall, und die Aufbruchshoffnungen hatten dort kurzzeitig einen festen Platz bekommen. Auf den immensen Bedeutungszuwachs der neuen politischen Vereinigungen folgten dramatische Resonanzverluste, die sich in verheerenden Wahlergebnissen ausdrückten. Die Weggefährten des Vorherbstes wurden von der Geschichte überholt, diese ging über sie hinweg.
3. Die Entwicklungen nach 1989/90
War der Weg der Aktiven mit der deutschen Einheit zu Ende? Wie sollte es weitergehen und in welche Richtung? Über diesen und anderen Fragen zerfiel die Bewegung – auch erinnerungskulturell – mindestens in die vier oben genannten Strömungen. Es verblieben friedensbewegte Reste, die sich durch Vereinsgründungen oder neue Aufgabenschwerpunkte stabilisieren konnten. Es entstanden etwa der Friedenskreis Halle (Saale) oder das Ökumenische Informationszentrum Dresden, es behaupteten sich die "Häuser der Demokratie" als Herbergen für Vereine und Initiativen. Wichtige Themen in diesen Jahren war die erfolgreiche Einführung des "Zivilen Friedensdienstes", aber auch die zermürbende Auseinandersetzung mit den Kriegseinsätzen der Bundeswehr oder um die "Neu"-Regelung der Militärseelsorge in den ostdeutschen Landeskirchen. Diese Debatten stehen exemplarisch für die Erfolge, wie die Rückschläge und Ernüchterungen der Friedensbewegung.
Zugleich trat eine weitere Figur dominant in Erscheinung: die der Veteranen einer Bewegung. In der Schlüsselfigur der Veteranen sind die frühere Bedeutung oder die Erfolge konserviert. Im Unterschied zum Urgestein, das aktiv bleibt, dominiert beim Veteranen die Erinnerung an das frühere Engagement. Am Status der Veteranen einer Bewegung entzünden sich erinnerungskulturelle Deutungskämpfe: Wer wird in Talkshows eingeladen, und woran wird erinnert? An den Unrechtscharakter der DDR (Protestbewegung) oder an die stecken gebliebenen Veränderungsimpulse (Reformbewegung)? Und in der Rückschau entsteht ein klares Gefälle zwischen anerkannten und "vergessenen" Schlüsselfunktionen. Es dominiert die Erinnerung an Wegbereiter und risikobereite Aktionisten, wie es etwa im Streit über den angemessenen Standort für ein Einheitsdenkmal durchschimmert. Es dominiert die Erinnerung an Märtyrer wie Matthias Domaschk und die Mahnung, man möge das Repressionsrepertoire des SED-Regimes nicht vergessen. Tendenziell übersehen werden weniger gut sichtbare Mentoren, Vernetzer und Fürsprecher. Gänzlich umstritten ist häufig die Rolle der kirchlichen Vermittler – die im Rückblick häufig als Bremser der Revolution erscheinen.
Es ist charakteristisch, dass Veteranen nicht selten selbst zu einflussreichen (oder aber vollkommen marginalisierten) Akteuren der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung der DDR-Geschichte geworden sind – als Schreiber und Archivare wortwörtlich "ihrer" Geschichte oder als offizielle Beauftragte für Aufarbeitung und politische Bildung. Der Status als Bürgerrechtler ermöglichte selbst berufliche Anschlüsse. Einige wenige haben diesen Status auch professionalisiert und konserviert. Sie sind ausgebucht als Kommentatoren zeitgeschichtlicher Debatten um Stasi-Aufarbeitung und Ost-West-Befindlichkeiten, als Festredner an Gedenk- und Feiertagen. Sie sind – auf je verschiedene Weise – Zeitzeugen von Berufs wegen.
Neben diesen Werdegängen eines Vollzeitveteranentums stehen die vielfältigen und höchstpersönlichen Lebenswege der weniger bis unbekannten Friedensaktivisten. Es gab den enttäuschten Abbruch des Engagements, schließlich den Rückzug, um sich fortan der Familie, die zu DDR-Zeiten ja tendenziell immer zu kurz kam, oder der beruflichen Weiterentwicklung zu widmen, die einst meist verwehrt blieb. Aber es gab auch die verschiedenen Formen des Weitermachens. Zwei typische Wege möchte ich skizzieren:
Zunächst die Kontinuität des Engagements innerhalb der Friedensbewegung oder in bewegungsnahen Kontexten. Beispiele hierfür wären jenes Friedensseminar, das – 1973 gegründet – bis heute zweimal im Jahr tagt, oder die Biografie einer studierten Mathematikerin. Anfang der 1980er-Jahre verliert sie aus politischen Gründen ihre Stelle in einem Forschungsinstitut und wendet sich ("jetzt reicht's") einer Friedensgruppe zu. Sie wird kurzzeitig zur Wirtschaftsfachfrau des Neuen Forums und engagiert sich heute in einem Arbeitskreis von Attac. Wieder anders gelagert ist der Fall des Pfarrers, der als Theologiestudent in der Friedensbewegung aktiv ist und später eine Pfarrstelle im ländlichen Raum antritt mit zunächst wenigen Anknüpfungspunkten für politisches Engagement. Aber die Gemeinde liegt nahe eines Truppenübungsplatzes. Nach der "Wende" soll hier ein Bombenabwurfplatz der Bundeswehr entstehen, 17 Jahre kämpfen mit ihm die Menschen in der Region gegen das Projekt, bis es 2010 endgültig aufgegeben wird.
Titelblatt der Zeitschrift "Telegraph", die sich als "letzte authentische Zeitschrift der linken DDR-Opposition" versteht. Ausgabe 120-121 zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, 2010. (© Haus der Demokratie und Menschenrechte. )
Titelblatt der Zeitschrift "Telegraph", die sich als "letzte authentische Zeitschrift der linken DDR-Opposition" versteht. Ausgabe 120-121 zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, 2010. (© Haus der Demokratie und Menschenrechte. )
Eine zweite Entwicklung ist die Professionalisierung des Engagements. Im engen Sinne ist hier die ausgesprochen seltene Verberuflichung des Friedensengagements selbst gemeint. Etwa im Fall der Krankenschwester, die Anfang der 1980er-Jahre mit der Einführung des Wehrpasses für Frauen eine Friedensgruppe mitbegründet und immer tiefer in das republikweite Netzwerk von Friedensgruppen hineinrutscht. Nach 1989 holt sie ein Studium nach und wird hauptamtliche Friedensfachkraft. Sie gehört zu den Trainern, die in Nordrhein-Westfalen die ersten Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes ausbilden. Gemeint ist aber auch im weiten Sinne die Professionalisierung dessen, was man schon zu DDR-Zeiten ehrenamtlich, aber mit viel Herzblut in den Nischen oppositioneller Szenen ausprobiert und gemacht hatte. Und weil das nicht immer einen thematischen Bezug zur Friedensproblematik hatte, führte es zum allmählichen Hinausdriften aus der Bewegung und einer erheblichen Bandbreite von biografischen Neupositionierungen. Da wäre auf der einen Seite der Redakteur von zahlreichen Untergrundzeitungen, der weiterhin die einzig verbliebene Zeitschrift der "linken Opposition" aus dieser Zeit herausgibt, der jetzt keine Punkkonzerte mehr organisiert, sondern als Galerist und Kulturjournalist arbeitet. Anders wiederum der studierte Fotograf, der 1989 Infobroschüren des Neuen Forums gestaltet und mit den anderen Herausgebern eine Firma gründet und heute ein mittelständisches Werbeunternehmen leitet.
Es fehlt hier der Raum, um die Vielfalt verwickelter Lebenswege nach 1989 zu skizzieren. Sie reichen von krisenhaften Enttäuschungs-erfahrungen und fortgesetzt prekären Nischenexistenzen über ungekannte Möglichkeiten der beruflichen wie privaten Selbstverwirklichung bis hin zu prestigereichen Aufstiegen in Politik und Gesellschaft. Was dabei auffällt und irritiert: Nicht selten sind die Urteile der Dabeigewesenen über derlei Werdegänge ehemaliger Weggefährten ausgesprochen harsch. Der Lebensverlauf wird dann an den damaligen, geteilten Überzeugungen gemessen und als zu "lau", "korrumpierbar" oder "karriereorientiert" befunden.
4. Was ist das Erbe der Friedensbewegung?
Dabei dominiert zuweilen eine erinnerungskulturelle Zementierung des Rück-Blicks auf das "Erreichte" – die Wiedervereinigung – und in negativer Abgrenzung auf das "Überwundene" – die Selbstbefreiung von Unterdrückung und Überwachung. Geschichte wird dann aber nicht als ungewisses Unterwegssein erzählt, sondern auf eine Ankunftserzählung reduziert, mit der Folge, dass man die weitreichenden Anspruchshorizonte, das schöpferische Potential und die Veränderungshoffungen der Weggefährten samt und sonders mit der DDR untergehen lässt.
Diese Klage ist so neu nicht. Sie prägt nicht zuletzt Konflikte zwischen den geteilten Erinnerungsgemeinschaften der Veteranen, die sich wechselseitig als Fortsetzung alter Grabenkämpfe mit anderen Mitteln unversöhnliche Vorwürfe machen. Wo den Einen "sozialistische Flausen" vorgehalten werden, sind die Anderen verdächtig, sich vor den Karren einer "Sieger"-Geschichtsschreibung spannen zu lassen. Immer geht es dabei aber um "Verirrungen" und Abweichungen vom jeweils als wahr und richtig geltenden Weg.
Neu wäre es, das Konzept der Schlüsselfiguren als beispielhafte Antwort auf die grundlegende Frage zu verstehen, welchen Beitrag Einzelne auf dem Weg gesellschaftlicher Veränderungen leisten. Verschiedene Phasen und Funktionen kommen dann in den Blick, wie überhaupt das Prozesshafte, das unsicher Vorwärtstastende. Eine wichtige Erkenntnis wäre, dass gesellschaftliche Veränderungen nicht plan- oder gezielt herbeiführbar sind, man aber immer mit dem eigenwilligen Zusammenwirken unterschiedlichster Akteure und Faktoren zu rechnen hat. Kein Grund also zu Fatalismus. Denn die Lehre aus der Geschichte lautet auch: Man muss irgendwann und irgendwo damit anfangen. Es braucht die ersten Schritte und den langen Atem der Pioniere, das Zutrauen und das Zureden der Mentoren. Es braucht die tastende Suchbewegung, das "die Zeit verstehen Wollen" der Vordenker. Es braucht die Konsequenz und Zeugnisbereitschaft der Märtyrer, das selbstlose Einfühlungsvermögen der Fürsprecher und Vermittler und die ebenso selbstlose Knüpfkunst der Vernetzer. Es braucht den Mut und die Entschlossenheit der Aktionisten. Und ein bisschen braucht es auch die Renegaten, negative Bezugspersonen, an denen man sich reibt und immer neu selbst vergewissert: "So will ich nicht sein", die vielleicht fragen lassen: "Wer will ich sein in diesen Zeiten?".