Einleitung
Anfangs, so schien es, musste die ostdeutsche Revolution um ihre wissenschaftliche und öffentliche Anerkennung kämpfen. Sie erwies sich auch in dieser Hinsicht als erfolgreich.
Von "Wende" war die Rede, ein scheinbar alles erklärender Begriff, der 1982 dazu dienen sollte, beim Amtsantritt Helmut Kohls eine "geistig moralische Wende" im Westen zu verkünden, und der sich dann 1989 im Westen wie im Osten, wo ihn Egon Krenz im November erstmals verwandte, zeitweilig vor die Wahrnehmung einer Revolution schob. Im nachfolgenden Dezember erklang im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt Beethovens Neunte mit revidiertem Text "Freiheit, schöner Götterfunken" und damit schon das Motiv für das "Fest der Freiheit" zum 20. Jahrestag des Mauerfalls. Wer dies so inszenierte, wer die "Friedliche Revolution 1989/90" etwa ein Jahr lang im Zentrum der Hauptstadt der Weltöffentlichkeit präsentierte, der reflektierte kaum noch Begriffe. Dabei handelte und handelt es sich um keine Klischees oder rhetorische Floskeln, sondern um Topoi, also literarische Formeln, die als solche sowohl in ihrer Tradition wie in ihren Bindungen an die geistige Umgebung der Zeit zu untersuchen sind.
Politische Rhetorik
Die alte Bundesrepublik verfügte über ein festes, aber durchaus begrenztes Arsenal an Topoi. Sie begegnen uns zum Teil in der Gegenwart wieder und bilden so eine Brücke, die von Ost und West aus zugänglich ist, was aber nicht bedeutet, dass die Topoi gleichen Ursprungs und im Zusammenhang analoger politischer Bestrebungen zu sehen sind. Zwischen 1953 und 1963, also zu Zeiten Konrad Adenauers, beherrschte eine Freiheits-Rhetorik, unterstützt vom Gedanken des Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen, die Ansprachen zum Tag der Deutschen Einheit.
In seiner Rede zum Amtsantritt bekannte der Nachfolger Heinrich Lübkes: "Wir stehen erst am Anfang der ersten wirklich freiheitlichen Periode unserer Geschichte. Freiheitliche Demokratie muss endlich das Lebenselement unserer Gesellschaft werden." Er verband dies mit einer Zukunftsperspektive: "Überall müssen sich Autorität und Tradition die Frage nach der Rechtfertigung gefallen lassen." "Nicht weniger, sondern mehr Demokratie – das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben."
Gustav Heinemann bei seiner Rede zur Einweihung der "Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte" in der Außenstelle des Bundesarchivs in Rastatt, 26. Juni 1974. (© Bundesarchiv, Bild 146-1974-177-03, Fotograf: o.A.)
Gustav Heinemann bei seiner Rede zur Einweihung der "Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte" in der Außenstelle des Bundesarchivs in Rastatt, 26. Juni 1974. (© Bundesarchiv, Bild 146-1974-177-03, Fotograf: o.A.)
die Heinemann aus der Geschichte der deutschen Freiheitsbewegungen ableitete – hauptsächlich, aber nicht ausschließlich aus der Revolution von 1848/49.
Zwischen 1969 und 1977 wurde die Freiheitsthematik zunehmend von einem anderen Topos begleitet und zuweilen sogar überragt: nämlich der Friedensidee der Ära Brandt, die bis in die Anfangsjahre der Regierung Schmidt ausstrahlte. In diesem Zeitraum schwanden gesamtdeutsche Hoffnungen; ein stabiler Frieden zwischen den Systemen wurde zum politischen Leitmotiv, was zugleich das Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten einschloss, die nebeneinander auf internationalen Konferenzen auftraten. 1983 bis 1986 erschien dann als eine Periode nicht nur rhetorischer Rückbesinnung – es sind die Jahre der Kohlschen "Wende". Die eigene Nation und ihre freiheitlichen Werte, diese im Bezug auf die Menschenrechte gegen totalitäre Regime propagiert, gehörten zu den Leitthemen, die bewusst eine Tradition aus der Adenauer-Zeit aufnahmen. Dabei waren sowohl der Kanzler selbst als auch die ihm nahestehenden Redner erkennbar bemüht, die noch vorhandenen Friedens-Topoi der Freiheits-Rhetorik nachzuordnen, um "möglichst defensiv mit der Sprache der Friedensbewegung umzugehen. Damit trafen in den frühen 1980er Jahren sämtliche Schlüsseltopoi aus der Geschichte der Deutschlandpolitik gemeinsam in der Sprache der Bundesregierung zusammen."
Die inneren Zusammenhänge zwischen bürgerlicher Freiheit und demokratischer Revolution traten zeitweilig in den Hintergrund, gewannen aber in der Folge der Ereignisse von 1989 erneut Sinn stiftende Bedeutung, die einen Vergleich zwischen 1848/49 und 1989/90 aus der Perspektive der Revolutionsforschung nahelegt.
Umstrittene Theorien
Im Prinzip gibt es zwei unterschiedliche Sichtweisen: Eine Richtung – sie ist vor allem in der vergleichenden Politikwissenschaft beheimatet – erkennt in den letzten Jahrzehnten international eine zwangsläufige Entwicklung in Richtung Demokratie, die vor allem dort unvermeidlich war, wo bestehende Staaten durchaus funktionierten, das heißt über ausgebaute Institutionen verfügten, wie dies im Sowjetsystem gegeben war. Diese gerieten – in der DDR wie in anderen Ostblockstaaten – in eine Krise. Was folgt, ist der Wechsel zu einem attraktiveren, als besser wahrgenommenen und letztlich auch überlegenen System, wofür die baltischen Staaten, die der Anziehungskraft der Europäischen Union überaus rasch folgten, ein deutliches Beispiel abgeben. Hélène Carrère d'Encausse, Theda Skocpol und Samuel Huntington
Eine andere Forschungsrichtung begegnet der Verwendung des Revolutionsbegriffes mit Skepsis. Dieser sei gar, so bemerkten Stephen Chan und Andrew Williams mit Blick auf die "abtrünnigen Staaten" des Sowjetimperiums, durch Übernutzung nahezu bedeutungslos geworden sei.
Ralf Dahrendorf setzte diese gedankliche Linie fort, indem er den "Konflikt" – so sein Schlüsselbegriff – als schöpferische Kraft begreift.
Für die Periode vor 1848/49 stehen sogar Begriffe zur Verfügung, die diese Entwicklung anzeigen: "Vormärz" und "Junges Deutschland". Was die Zeit vor 1989 angeht, so bedarf es noch eines genaueren Hinsehens. Und doch lässt sich bereits an dieser Stelle bemerken, dass all jene, die sich nicht völlig mit dem von der SED geführten und den Blockparteien mitgetragenen Staat identifizierten, die mit dem System der DDR mehr oder weniger kräftig im "Streit" lagen bzw. einen Konflikt austrugen, dass all jene nach Rechten und Freiheiten strebten, auf die sie subjektive Ansprüche anmeldeten und deren objektiver Mangel spürbar war.
Der den Revolutionsbegriff eher marginalisierende soziologische Forschungsansatz hat ebenso in der politikwissenschaftlichen Nachbarschaft große Bedeutung erlangt. Er misst nicht nur dem Konflikt, sondern auch dem Widerstand (resistance) große Bedeutung bei. Beide werden als eigene soziale Form mit eigenen Wirkungszusammenhängen wahrgenommen, die einen neuen Strukturaufbau bewirken. Eine Vorhersagbarkeit von Revolutionen und Systemzusammenbrüchen wird faktisch ausgeschlossen. Einige Vertreter erkennen im Untergang des Sowjetsystems lediglich die Wiederherstellung eines "normalen" Zustands, wie er einer weitgehend unipolaren stabilen Welt entspricht. In einem solchen Verständniszusammenhang ist der Revolutionsbegriff, wenn er überhaupt gebraucht wird, weder gut noch schlecht konnotiert.
Beide hier vorgestellten Sichtweisen gehen darin überein, dass Revolutionen wie Konflikte sich nur in internationalen Perspektiven hinreichend und zuverlässig analysieren lassen. Zugleich betonen sie die Macht der Ideen, vornehmlich den Drang nach Freiheit, wobei die zuletzt genannte Konzeption, insbesondere in der Version von Chan, Williams und anderen, die Zusammenhänge von Freiheit und Kultur hervorhebt, was auf eine anthropologische Betrachtungsweise hinausläuft, die nationalstaatliche Dimensionen überwindet.
Damit sind genügend theoretische Instrumente zur Hand, um 1848/49 und 1989/90 in ihren internationalen Zusammenhängen zu vergleichen.
Internationale Beziehungen
Die Revolution von 1848/49 brach alles andere als überraschend aus.
Ebenso notwendig ist die Sicht auf die internationalen personalen Verflechtungen der Demokraten, Republikaner und Revolutionäre, lässt sie doch auch Unterschiede zu dem erkennen, was sich 1989 und davor zutrug. Wichtig ist, nicht zu vergessen, welche Begeisterung und Solidarität der Polnische Novemberaufstand von 1830 in Deutschland, aber nicht nur hier auslöste. Über 5.000 polnische Emigranten ließen sich in Frankreich nieder. Zwei Jahre später wurde zum Hambacher Schloss nicht nur die deutsche, sondern auch die polnische Fahne getragen.
Wilhelm Adolf von Trützschler und Ludwik Mierosławski vor der angetretenen Mannheimer Volkswehr vor der Niederschlagung des Badischen Aufstandes 1849. Kolorierte Lithographie, 1849. Reiss-Engelhorn Museum Mannheim. (© AKG)
Wilhelm Adolf von Trützschler und Ludwik Mierosławski vor der angetretenen Mannheimer Volkswehr vor der Niederschlagung des Badischen Aufstandes 1849. Kolorierte Lithographie, 1849. Reiss-Engelhorn Museum Mannheim. (© AKG)
In Rastatt führte 1849 der Pole Ludwik Mierosławski die badische Revolutionsarmee in die aussichtslose Entscheidung gegen die Truppen der Reaktion, um die bürgerliche Freiheit der Deutschen zu behaupten. Schon als 16-Jähriger hatte er 1830 am Polnischen Novemberaufstand, 1846 dann am Aufstand im Großherzogtum Posen teilgenommen. 1847 war er in Berlin zum Tode verurteilt worden, seine Befreiung durch Berliner Revolutionäre nutzte er, um sich in Baden wieder ins Feuer zu stürzen. Mierosławski kämpfte in Polen, Deutschland, Italien und Russland um eine Freiheit, die letztlich nur eine europäische sein konnte.
Am 15. April 1834, auch daran sei erinnert, schlossen sich in Bern unter der Führung Giuseppe Mazzinis ein Häuflein von sieben Italienern, fünf Polen und fünf Deutschen, die sich das Junge Italien, das Junge Polen und das Junge Deutschland nannten, unter dem Motto "Freiheit – Gleichheit – Humanität" zu einem Geheimbund zusammen. Sie strebten ein demokratisches "Europa der Völker" an. Doch so hochfliegend ihre Vorstellungen auch waren: Das war kein mächtiger Zusammenschluss, er sollte sich längst nicht als so weitgreifend revolutionär erweisen wie Mazzinis italienische Carbonari; und doch lohnt der Keim einer Idee wie der "kleine" Widerstand gewiss die Aufmerksamkeit, selbst wenn sich nur Haarrisse in einem System bemerken ließen.
Der Vergleich zwischen den Revolutionen scheint einfach zu sein: Die Auseinandersetzungen wurden in Deutschland 1848/49 durch militärische Gewalt entschieden, jene von 1989/90 nicht. In Rumänien forderte 1989 ein 1848 verfasstes Lied, heute die Nationalhymne, zu blutigen Kämpfen auf, die dann tatsächlich die Revolution prägten. In der DDR setzten am 4. September 1989
Demonstranten am Montag, 4. September 1989, auf dem Leipziger Nikolaikirchhof. (© picture-alliance/AP)
Demonstranten am Montag, 4. September 1989, auf dem Leipziger Nikolaikirchhof. (© picture-alliance/AP)
zwei Frauen, Katrin Hattenhauer und Gesine Oltmanns, mit einem Transparent vor der Leipziger Nikolaikirche "Für ein offenes Land mit freien Menschen" einen öffentlichen Auftakt dafür, woraus sich die Montagsdemonstrationen entwickeln sollten;
Was sich am ehesten mit dem Vormärz vergleichen lässt, sind Anzeichen einer strukturellen Krise im gesamten Ostblock, die den Systemwechsel einleiteten. Doch diesbezüglich lässt sich sofort ein erheblicher Unterschied bemerken. Nach 1849 erfolgte eine Transformation in Richtung Demokratie eben nicht, vielmehr hielt die Restauration und Reaktion eine Entwicklung in dieser Richtung mindestens ein halbes Jahrhundert zurück. 1990 war dies anders. Dies wird sich selbst dann bemerken lassen, wenn man 1989 als eine unvollendete, rückgestaute, als "abgebrochene" oder gar als "abgetriebene" Revolution bezeichnet.
Anders als 1848/49 gab es 1989 keine grenzüberschreitende Solidarisierung. Eine tatkräftige Unterstützung des revolutionären Geschehens unterblieb. Diese fehlte in der alten Bundesrepublik, die lange die Geschehnisse mit Sorge beobachtete, sowohl im Hinblick auf die DDR als auch im Hinblick auf Polen, obwohl es in dieser Richtung durchaus schriftliche Solidaritätsbekundungen von Intellektuellen wie aus der katholischen Kirche gab – mehr jedoch nicht. Sicherlich gab es einen geistigen Austausch über die Grenzen hinweg, doch ein deutscher Mierosławski trat nicht hervor – glücklicherweise, denn die Folgen einer solchen "Einmischung" wären unabsehbar gewesen. Diese Feststellung ändert nichts an der Bedeutung der Solidarność und der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze für Deutschland. Sie zeigt nur, dass die Menschen in den von Unruhen betroffenen Staaten weitgehend auf sich gestellt waren. Nicht zu bestreiten ist dabei allerdings, dass die Massenbewegungen, wie Maier feststellt, ihre "Kraft aus den ferner liegenden weltgeschichtlichen Entwicklungen" bezogen und diese gleichzeitig durch ihr eigenes Auftreten stärkten.
Wichtig ist überdies die Feststellung, dass die europäischen Transformationsprozesse nicht anders als die asiatischen am Rande des sowjetischen Machtbereiches stattfanden, während das Zentrum selbst von einem Systemwechsel erschüttert wurde. 1848/49 lagen diese Dinge anders: Die Revolution brach in der Mitte Europas auf und wurde von den dort herausgeforderten, sie überlagernden Großmächten niedergeschlagen. Was sich bedingt vergleichen lässt, ist die Kettenreaktion nationaler Unabhängigkeitserklärungen, die auf der Grundlage einer formal bestehenden Unabhängigkeit und Souveränität einen Systemwechsel vollzogen, der nach 1990 nicht zuletzt durch NATO-Beitritte eine besondere Profilierung erfuhr.
Die Macht der Ideen
Es ist nun geboten, danach zu suchen, an welcher Stelle im System der Freiheitsgedanke aufgebrochen ist. Nochmals scheint ein kurzer theoretischer Ausflug geboten zu sein: In Fortführung von Niklas Luhmanns Theorie der sozialen Systeme hat Heinz Messmer ein Modell entworfen, das die gesellschaftliche Kommunikation in den Mittelpunkt rückt und dem Konflikt eine spezifische Typik unterlegt.
1. die Konfliktepisode,
2. den Sachkonflikt,
3. den Beziehungskonflikt und
4. den Machtkonflikt.
Konfliktepisoden kommen den einfachen Formen des Streites, von denen Simmel zunächst ausgeht, besonders nahe. Sie lassen sich beilegen und werden dadurch zur Episode. Allerdings können sie auch jene Haarrisse hervorrufen, die weiterreichende Folgen nach sich ziehen. Der Sachkonflikt nähert sich der sprachlichen Großform des Argumentierens an. Sachlich bedingte Unvereinbarkeit schließt jedoch eine soziale Harmonie nicht aus, sie führt in diesem Falle zu einer Achtungskommunikation. Bereits in diesem Zusammenhang bildet der Widerspruch eine soziale Struktur aus. Je mehr und je stärker die laufende Kommunikation Probleme hervorbringt, desto stärker münden diese in einen Beziehungskonflikt, der ebenfalls strukturbildend wirkt. Hier lässt sich ein Schwenk von Verantwortungs- oder Schuldzuweisungen, die in einem Sachkonflikt noch auszutragen gewesen wären, hin zu einem kategorischen Freund-Feind-Schema beobachten. Eine Drohkommunikation wird zur unmittelbaren Vorläuferin des Machtkonfliktes, der durchaus die Formen einer Revolution, verstanden als Herbeiführung eines Systemwechsels, annehmen kann. Hieraus ein gleichsam teleologisches, gar noch formationstheoretisches Modell abzuleiten, ist unangebracht, weil der kommunikationstheoretische Ansatz von hoher Komplexität der Systeme ausgeht, wobei nicht vorhersagbar ist, wann und unter welchen Bedingungen Kommunikationen abbrechen. Das vorgestellte Stufenmodell macht die Betrachtung von Vorlaufzeiten unerlässlich.
Unter diesen Gesichtspunkten lassen sich beide Revolutionen vergleichen:
Was 1848/49 anbelangt, so ist über 1830 bis 1815 zurückzublicken. Bereits sehr früh zeichnete sich ein Sach-, dann ein Beziehungs- und Machtkonflikt ab, denen eine lange Inkubationsphase folgte. Innerhalb von zwei Jahren lässt sich diese Verschärfung beobachten: zwischen dem Wartburgfest 1817 und den Karlsbader Beschlüssen vom August 1819. Höchst eilfertig und in einem durchaus fragwürdigen Verfahren bestätigte der Frankfurter Bundestag am 20. September das im Vormonat Beschlossene. Damit war der Machtkonflikt eröffnet. Die vier zusammenhängenden Gesetze betrafen vor allem die Meinungs- und Pressefreiheit, sorgten für eine Überwachung der Universitäten, kontrollierten und verfolgten die Studentenverbindungen wie auch freiheitlich gesinnte Professoren bis hin zu faktischem Berufsverbot. Die sogenannte Demagogenverfolgung durchzog den gesamten Vormärz.
Wurde so – aus Revolutionsangst der Herrschenden – ein Repressionssystem beständig ausgebaut, so ist auf der anderen Seite zu bemerken, dass just das, was den Untertanen verwehrt wurde, verstärkt zu einem erstrebenswerten politischen Wert und Ziel aufstieg. Der integrierende Repressionsdruck auf die jungen intellektuellen Eliten ist unverkennbar. Diese wuchsen immer wieder nach, während die dem Jugendalter Entwachsenen zunehmend zu einem sich verstärkenden kritisch-journalistischen Potenzial wurden, das unterdrückt auf seine Chance wartete oder – wie etwa Heinrich Heine oder Ludwig Börne – aus dem Ausland agierte.
So blieb der bürgerliche Freiheitsgedanke unentwegt aktuell und erhielt 1830 nochmals einen kräftigen Auftrieb, der einer verschärften Unterdrückung begegnete, was ihn aber nicht schwächte. Franz August Gathy schrieb am 27. Juli 1830 nachts aus Paris: "Ich fühle es an meinem bewegten Innern, an den Tränen, womit unwillkürlich sich mein Auge füllt, wenn diese alten welthistorischen Revolutionslieder ertönen, mein sehnlichster Wunsch ist, daß die gute Sache siegen möge, die Sache der Wahrheit, der Freiheit, der Unabhängigkeit [...]."
Sucht man nach Vergleichsparametern zwischen 1848/49 und 1989, so lässt sich für die ältere der beiden Revolutionen Folgendes festhalten:
1. Sie brachte frühzeitig eine intellektuelle Gegenelite hervor, die das Freiheitsthema beizeiten, sehr direkt und in wachsender inhaltlicher Ausdifferenzierung zu ihrem Thema machte. Nach der militärischen Niederlage blieb die Thematik vor allem in Exilkreisen erhalten, während sie in Deutschland selbst wie in Österreich im Bürgertum an Boden verlor, jedoch in der Arbeiterbewegung und später auch in der Frauenbewegung bewahrt blieb.
2. Die Gegenelite ist zeitweilig aufs engste mit einer Jugendkultur
3. Der Machtkonflikt tritt sehr früh auf – längst vor der Revolution.
4. Die Freiheitsbewegung besitzt kaum institutionelle Unterstützung. Soweit Universitäten und Gymnasien hierfür Keimzellen waren, werden entsprechende Ansätze rasch unterbunden. Die Kirchen als Institution bieten zu keinem Zeitpunkt eine entsprechende Basis.
5. Die soziale Frage ist von erheblicher Bedeutung, jedoch vor der Revolution nur in einem sehr kurzen Zeitsegment.
Sicherlich könnten die Ausführungen über die Vorgeschichte und die Ereignisse der Jahre 1848/49 noch manche Differenzierung vertragen. Gewiss ist die dort entdeckte Freiheitslinie kräftig gezeichnet und vernachlässigt jene bereits vor 1848/49 angelegten Entwicklungen, die über einen weniger demokratisch oder gar republikanisch angelegten Konstitutionalismus leichter in den Bismarck-Staat zu integrieren waren. Dieser Einwand hat ein umso größeres Gewicht, wenn behauptet wird, dass Gleiches – nämlich eine permanente, direkte und explizite Thematisierung des Freiheitsbegriffes durch eine intellektuelle Gegenelite von langer Dauer – in der DDR nicht zu beobachten war. Die Geschichte der Opposition in der DDR, die eine Reihe von Forschenden inzwischen sehr detailreich nachgezeichnet haben,
Was die Begriffe Opposition und Widerstand anbelangt, so hat man ohnehin nicht den Vergleich zu 1848/49 gesucht, sondern eher jenen zum "Dritten Reich". Nachdrücklich hat Rainer Eckert betont, "dass die Kategorisierungsversuche widerständigen Verhaltens in der zweiten deutschen Diktatur auf den Ergebnissen der Erforschung des Nationalsozialismus fußen sollten."
Zwei prominente Autoren haben neben manch anderen Publizisten die Ereignisse von 1989 mit jenen von 1848/49 unmittelbar verglichen: Ralf Dahrendorf und Timothy Garton Ash. Dahrendorf bemerkt den großen "Aufschwung liberalen und demokratischen Empfindens", der "die Völker Europas ergriff, Parlamente geschaffen, alte Annahmen herausgefordert und neue Horizonte erkundet" hat.
Vergleichspunkte
Stellt man die Revolution von 1848/49 jener von 1989/90 gegenüber, so lassen sich in Bezug auf die letztere eine Reihe von herausragenden Vergleichspunkten festhalten:
1. Dazu gehört in der Tat ihr friedlicher Charakter, der sie von den Ereignissen von 1848/49 deutlich unterscheidet – was vor allem die Massenbewegung auf der einen Seite anbelangt; die Unterdrückungsgewalt auf der anderen Seite scheute offenkundig vor letzten Konsequenzen, wie sie 1848/49 zu beobachten waren, zurück.
2. Ebenfalls offensichtlich verschieden ist ein Institutionenbezug. Die Rekrutierung von Gegeneliten wurde vornehmlich von der evangelischen, kaum aber von der katholischen Kirche vorangebracht. Dies bedeutet nicht, dass die evangelischen Kirchen und schon gar nicht die "Kirche im Sozialismus" ein einheitlicher Widerstands- oder Oppositionsblock gewesen seien. Doch ohne die Räume, Gesprächs- und Publikationsmöglichkeiten, ohne die Gottesdienste, ohne die Möglichkeiten der Zuflucht, Hilfe und Unterstützung, ohne die Solidarisierungsmöglichkeiten, ohne die spezifische Konzertkultur, ohne ihre Friedens- und Umweltarbeit hätte die notwendige Gegenkultur schwerlich entstehen und wachsen können.
3. In der Jugendkultur während des Vormärz und in der Jugendkultur der DDR
4. An der Revolution von 1848/49 beteiligten sich auch Frauen, sogar in revolutionären Truppen wie zum Beispiel Mathilde Franziska Anneke und Amalie Struve. Angesichts der in der DDR stark vorangeschrittenen Gleichstellung der Frauen war es nicht verwunderlich, dass sie entscheidend in den Bürgerrechtsgruppen vertreten waren und sich massiv an den Demonstrationen beteiligten. Dies belegt keinen grundsätzlich anderen Charakter der Revolutionen, sondern den Fortschritt in der Emanzipation.
5. Die Freiheitsthematik selbst zeigt zwischen 1848/49 und 1989 merkliche programmatische Unterschiede, was aber nicht bedeutet, dass sich nicht ein Bogen spannen ließe: 1848/49 mussten die Grund- und Menschenrechte, mussten rechts- und sozialstaatliche Gedanken unter dem Drang der Ereignisse erst formuliert werden. In der Bundesrepublik wie in der DDR waren sie gleichermaßen bekannt, wenn auch nicht gleichermaßen praktiziert. Wenn also in der DDR eine Friedensbewegung einerseits und eine Ökologiebewegung andererseits die oppositionellen Leitthemen setzten, dann bedeutet dies nicht, dass sie dies anstatt oder anstelle einer zielgerichteten Freiheitsorientierung, sondern implizit – bewusst wie unbewusst – in der praktischen Nutzung von Freiheitsrechten taten. Daraus erhellt eine erkennbare Verschiedenheit zwischen den beiden zu vergleichenden Ereignissen, aber auch ein Spannungsbogen, der sie beide verbindet, mehr noch ein sich ausdifferenzierender Entwicklungsstrang, wobei einer Minderheit der Akteure möglicherweise bewusst war, wohin das führen konnte: in eine Systemveränderung zumindest, in einen Systemwechsel womöglich.
6. Insofern hat das Freiheitsstreben von 1989 denn doch eine andere Qualität als jenes von 1848/49; es ist komplexer und um zwei Motive erweitert worden: um die Freiheit, im Einklang mit der Natur zu leben, und um die Freiheit, im Frieden zu leben. Dies war in der weitgehend noch vorindustriellen, vormodernen und kampfeserfüllten Zeit um 1848/49 weder ein konkretes Ziel noch eine politische Utopie.
7. Der Wunsch
Demonstranten fordern die deutsche Einheit, Leipzig 11. Dezember 1989. (© picture-alliance/AP)
Demonstranten fordern die deutsche Einheit, Leipzig 11. Dezember 1989. (© picture-alliance/AP)
nach Einheit war vor 1953 stark; welche Stärke dieser Wunsch danach noch hatte, ob er als eine konkrete Utopie verstanden wurde, bedürfte noch gründlicher Erforschung. Für die Mitglieder der verschiedenen Bürgerbewegungen stand er nicht im Mittelpunkt ihrer Überlegungen, die lange auf eine Reform der DDR ausgerichtet blieben. Bei den Demonstrationen spielte er in der eigentlich revolutionären Phase vor dem Mauerfall keine irgendwie bemerkenswerte Rolle, erst am 13. November, mithin vier Tage danach, erscholl erstmals "Deutschland einig Vaterland" aus der seit langem nicht mehr gesungenen Becher-Hymne. Die Parole "Wir sind ein Volk!" war kaum zu vernehmen und fand erst in der Wahlkampfplakatierung der CDU während des Winters größere Verbreitung.
8. Soziale wie ökonomische Interessen, zwischen 1846 und 1849 durchaus vorhanden
9. Der Vergleich zwischen 1848/49 und 1989/90 kehrt einen Unterschied deutlich hervor: Die demokratisch-republikanisch gesinnten "48er" erreichten weder die Freiheit noch die Einheit der Nation, sondern wurden – soweit sie nicht auswanderten und sich nicht völlig anpassten – etwa eine Generation später mit einer Einheit überzogen, die während der Zeit der Restauration und des Kaiserreiches breiten Bevölkerungsteilen eine auf gleicher Freiheit gegründete demokratische Mitwirkung verwehrte. Die "89er" sind diesbezüglich – trotz Mängel im Vereinigungsprozess – erheblich besser gestellt.
Nehmen wir nochmals unser Modell der vier Konflikttypen zur Hand, so zeigt sich hinsichtlich der DDR eine sehr viel ausgedehntere und differenziertere Entwicklung und zwar auf jeder Stufe. Möglicherweise lassen sich noch zahlreiche Konfliktepisoden bemerken, die vor wie nach dem Mauerbau beigelegt wurden, die aber denn doch zu Haarrissen im System beitrugen. Dass Sachkonflikte ausgetragen wurden, diese Tatsache konnte sogar das Zentralkomitee der SED für sich in Anspruch nehmen. Die immer mächtiger werdenden Ökologie- und Friedensbewegungen, die in Bürgerbewegungen mündeten, institutionalisierten den Beziehungskonflikt und bestanden schließlich den Machtkonflikt gegen einen Staat, der sich schließlich als weitaus schwächer erweisen sollte als die Mächte der Reaktion im 19. Jahrhundert. Dies ist ein bemerkenswerter Umstand, unterstreicht doch die Studie von Máté Szabó, dass in Gegenüberstellung zu Ungarn und Polen die DDR das bei weitem intransigenteste System aller Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes herausgebildet hatte.
10. Angesichts der Tatsache, dass es zu einem Systemwechsel innerhalb der DDR kam, der auf einen weitreichenden Machtkonflikt zurückzuführen ist, erscheint die Anwendung des Revolutionsbegriffes durchaus als angemessen. Benennt man die Ereignisse von 1848/49 als Revolution, so bietet sich eine Analogiebezeichnung durchaus an, unabhängig davon, welchen Erfolg man dem Geschehen von 1989/90 wie übrigens auch jenem von 1848/49 beimisst. Die beschriebene Gewaltfreiheit lässt überdies eine Charakterisierung als "friedliche Revolution" zu.
Die Revolution in der DDR –
eine Frage der "Geschichtspolitik"?
Geschichtliche Vergleiche dienen nicht selten einem Erkenntnisgewinn in politischer Absicht. Damit berühren sie das Thema der "Geschichtspolitik".
Wenn der vorliegende Beitrag den Eindruck erwecken sollte, dass die freiheitlichen Traditionslinien des deutschen Volkes über 1848/49 hinaus bis 1989/90 reichen, dass sie mithin den freiheitlichen Fundus des deutschen Staates bereichern, so lässt sich dies durchaus geschichtspolitisch verstehen, zumal dann, wenn damit die Konzeptionslinie, wie sie von Gustav Heinemann nicht nur für die Gedenkstätte Rastatt im Besonderen, sondern für eine demokratische Bürgergesellschaft im Allgemeinen konturiert wurde, weiterzuführen ist.
Nun ist der Begriff der "Geschichtspolitik" alles andere als hinreichend verbindlich definiert. Edgar Wolfrum hat ihn schon 1999 in den Zusammenhang mit einer Instrumentalisierung der Vergangenheit gebracht, um erstens spezifische politische Interessen durchsetzen zu können, zweitens eigene Anhänger zu mobilisieren, drittens Gegner zu delegitimieren und um viertens Gruppenidentitäten zu stiften. Zu begrüßen ist das Bestreben, die Ereignisse des Jahres 1989 in eine internationale Zusammenschau zu bringen, sodass eine allzu nationale "Geschichtspolitik" auf diese Weise durchbrochen wird.
Es sind drei Felder, auf denen "Geschichtspolitik" vornehmlich agiert:
1. geht es um die Bewertung, wem der Erfolg der Revolution zuzuschreiben sei;
2. geht es um den Begriff der Friedlichen Revolution;
3. geht es um die Bewertung der DDR als Diktatur.
Zum Ersten: Was den Erfolg der Jahre 1989/90, die Einheit anbelangt, so gab und gibt es zwei Perspektiven: Die eine richtet sich vornehmlich auf die beiden Volksbewegungen, nämlich die Masse jener, die "hier blieben" und ihren Protest auf die Straßen trugen, und die Scharen jener, die den Bestand des Staates durch massive Auswanderung erschütterten. Die andere Sichtweise fokussiert eine mächtige politische Führung, welche die Vereinigung der beiden Staaten in internationalen Verhandlungen durchsetzte und sicherte. Es ist dies eine Betrachtung, die vor allem die Verdienste von Michail Gorbatschow, George Bush sen. und Helmut Kohl, dem "Kanzler der Einheit", hervorkehrt.
Zum Zweiten: Seit 2009 scheint sich der Begriff der Friedlichen Revolution weithin durchzusetzen. Die "Wende" tritt in den Hintergrund; der frühen Bezeichnung als "deutsche Revolution 1989/1990"
Zum Dritten liegt es nahe, den Totalitarismus-Vergleich nicht ausschließlich oder vornehmlich auf den Nationalsozialismus zu beziehen, sondern den Blick auf internationale Zusammenhänge zu lenken, in denen sich beide deutsche Staaten und Gesellschaften tatsächlich entwickelten.
Doch warum sollten die Kategorien für Opposition und Widerstand just aus der Zeit des Nationalsozialismus heraus entwickelt werden und nicht ihre besondere Schärfe durch einen Vergleich mit den Gegebenheiten in anderen Staaten des Warschauer Paktes gewinnen? Mehr noch: Die Frage der Menschenrechte, der Menschenrechtsverstöße und deren Ahndung ist längst ein internationales Thema,