Quelle: Robert Havemann Gesellschaft e.V., Berlin
Václav Havel – ein Leben in Wahrheit
Als "eine Ermutigung und eine Quelle der Inspiration" beschrieben ostdeutsche Bürgerrechtler die tschechoslowakische "Charta 77" anlässlich ihres zehnjährigen Bestehens. Diese Worte waren vor allem auch an Václav Havel gerichtet, den Dichter und Dissidenten, der die Charta mit einigen Gleichgesinnten ins Leben gerufen hatte, und dessen Texte innerhalb der DDR Opposition kursierten, so auch sein Essay über die Macht der Machtlosen, über den "Versuch, in der Wahrheit zu leben".
Wir nehmen Abschied und betrauern den Tod Václav Havels. Unsere Gedanken sind bei seiner Familie, den Freunden und dem tschechischem Volk.
Václav Havel lehrte uns, den Ideologien und den von den kommunistischen Machthabern inflationär gebrauchten Begriffen wie "Frieden" oder "Völkerfreundschaft" zu misstrauen, ihre alltäglichen Lügen nicht hinzunehmen, sondern sich ihnen zu widersetzen, die Wahrheit zu suchen und zu verteidigen. Er lehrte uns auch, uns von den Debatten über utopische Gesellschaftsmodelle, die uns Jahrzehnte lang als Heilsversprechen einer fernen Zukunft vorgehalten wurden, zu verabschieden und uns stattdessen gegen den allgegenwärtigen Machtmissbrauch zu wehren und die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen beim Namen zu nennen. Von den oppositionellen Gruppen mussten neue Wege beschritten werden, um die Öffentlichkeit zu erreichen. Vom Denken und den praktischen Erfahrungen der ostmitteleuropäischen Untergrundverleger und Autoren konnten wir viel lernen. Wir sind Václav Havel und seinen Weggefährten dafür dankbar.
Die Wahrheit zu verbreiten, wird in einem auf Lügen aufgebauten System als Straftat verfolgt. So wurde Václav Havel dreimal verurteilt und hat insgesamt fünf Jahre in Gefängnissen zugebracht. Seine Briefe aus dem Gefängnis, die "Briefe an Olga", die wir Mitte der 1980er Jahre lesen konnten, zeigten, dass die Machthaber seine Persönlichkeit nicht brechen konnten. Nach Entlassung aus der Haft hat er sich nicht zurückgezogen, ist keine Kompromisse mit dem Regime eingegangen, hat weiter die Wahrheit verbreitet. Wir konnten uns davon immer wieder überzeugen, wenn wir auf Umwegen die Erklärungen der Charta 77 erhielten.
Václav Havel hat uns gerade mit seinem persönlichen Beispiel ermutigt. Für Menschen, die ihr Leben unter demokratischen Verhältnissen gestalten können, ist es vielleicht nur schwer verständlich, welche Bedeutung die Wahrhaftigkeit eines Einzelnen unter den Bedingungen der Diktatur haben kann. Václav Havel war nicht nur in der Tschechoslowakei ein Vorbild als Wahrheitssucher und Inspirator, ein Mut und Hoffnung verbreitender Mensch, sondern auch für Intellektuelle und Oppositionelle in der DDR. Ohne das Engagement und die Standhaftigkeit solcher Menschen in den ostmitteleuropäischen Oppositionsbewegungen wären die revolutionären Ereignisse des Herbstes 1989 in der DDR nicht denkbar gewesen. Václav Havel und seine Schriften sind hier zuerst zu nennen. Dankbar wollen wir hier auch vermerken, dass einige von uns sich in Prag und an anderen Orten in den 80er Jahren mit tschechischen und slowakischen Dissidenten treffen konnten. Daran konnten auch die Reiseverbote für Oppositionelle aus der DDR letztlich nichts ändern.
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre ist in Polen, Ungarn und der CSSR intensiv über die "Rückkehr nach Europa" diskutiert worden. Die dortigen Oppositionellen fühlten sich Mitteleuropa und nicht dem sowjetischen Block zugehörig. Nicht die Stabilisierung des Status quo wie es sich manche westliche Politiker vorstellten würde zum Frieden führen, sondern im Gegenteil seine Überwindung, das Ende der europäischen Teilung seit Jalta und Potsdam. Unabdingbare Voraussetzung für den äußeren Frieden sei zudem die Durchsetzung der elementaren Menschenrechte im Inneren der Staaten. Václav Havel und seine Mitstreiter und Mitstreiterinnen aus der Charta 77 verfassten 1985 den "Prager Appell", der diese Positionen ausführlich erläuterte, wobei insbesondere dem Ende der Teilung Deutschlands eine Schlüsselrolle zukommen sollte. Dieser zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung ungewöhnliche und mutige Text stellt ein einzigartiges Dokument dar.
Der Weg zur Demokratie konnte in unseren Ländern fast zeitgleich beginnen: mit der friedlichen Revolution in der DDR im Oktober 1989, und wenige Tage, nachdem die Berliner Mauer zum Einsturz gebracht wurde mit dem Sieg der "samtenen" Revolution, bei der Václav Havel eine überragende Rolle spielte und kurz darauf tschechoslowakischer Präsident wurde. Aus dem Dichter, politischen Häftling und Dissidenten wurde nun der bedeutende europäische Politiker Havel. Obwohl ihm sein Amt diplomatische Zurückhaltung auferlegte, was er selbst mitunter beklagte, so blieb er doch der Mahner, dessen Haltung im Falle von schweren Menschenrechtsverletzungen, wo auch immer sie passierten, unmissverständlich und deutlich wahrnehmbar war. Er war nicht durch Macht korrumpierbar und hat sich eine Bescheidenheit bewahrt, die nur wenigen Politikern eigen ist. Oft wird behauptet, dass Politik mit Moral nicht vereinbar sei. Václav Havel hat den Gegenbeweis geliefert und ist sich auch während seiner Amtsausübung treu geblieben mit seinem Versuch, in der Wahrheit zu leben.
Zuletzt widmete er sich wieder der Literatur und wir hätten uns weitere Essays oder Stücke von ihm gewünscht. Aber die Krankheit war stärker und hat ihn aus der Mitte seiner Familie und Freunde gerissen. Viele Menschen in Tschechien trauern um ihn, und wir möchten ihnen sagen, dass wir mit ihnen trauern. Auch wir Deutschen haben einen großen, mutigen und wahrhaftigen Menschen und guten Freund verloren.
Gerd Poppe
Stephan Bickhardt
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