I. Einleitung
Als im Zuge der friedlichen Revolution in Berlin der Zentrale Runde Tisch zusammentrat, beschloss dieses Gremium auch die Erarbeitung einer neuen Verfassung für die DDR. Ziel der
Arbeitsgruppe "Neue Verfassung der DDR" des Zentralen Runden Tisches (im Folgenden AG Verfassung und Runder Tisch) war es, "Grundlinien einer neuen Verfassung" unter Berücksichtigung der deutschen Verfassungsgeschichte zu erarbeiten und dabei "die Erfahrungen und Anregungen der Bürger im Demokratisierungs-prozeß" einzubeziehen.
Zur Tradition der Petition in Deutschland wie auch zum Eingabenwesen in der DDR sind einige Untersuchungen erschienen. Der Wandel von der Supplikation zur politischen Petition steht dabei ebenso im Vordergrund wie die besondere Ausprägung der Petition als Eingabe in der DDR.
Erste Tendenzen eines ansteigenden Selbstbewusstseins der Petenten stellten beispielsweise Ina Merkel und Felix Mühlberg für die 1980er-Jahre fest. Bereits im letzten Jahrzehnt der DDR empfanden Politiker den "Ton der Eingaben" als unduldsam und fordernd. Sie berichteten, dass die Bürger zum Beispiel "Begründungen für die Ablehnung von Reiseanträgen" forderten, "sich nicht mehr so einfach abspeisen" ließen.
Die Rolle der Eingaben in der DDR
Das Petitions- bzw. Eingabenwesen hat auf deutschem Gebiet eine lange Tradition. Bereits im 18. Jahrhundert wurde hier das Petitionsrecht als politisches Teilhaberecht wahrgenommen, bevor es in der DDR eine ganz eigene Tradition in Form des Eingabenschreibens ausbildete. Die Eingabe stellte im SED-Staat die einzige Möglichkeit dar, individuell mit den Herrschenden in Kontakt zu treten, und zeigte sich in der Praxis in Form von Bitten und Beschwerden zu alltagsrelevanten Themen. Zugleich wurden elementare Wesenszüge der politischen Petition, wie etwa die Möglichkeit zur Äußerung politischer Kritik und zur Herstellung von Öffentlichkeit, unterbunden. Jonathan Zatlin verglich das System der Eingaben in der DDR mit der Untertanenbitte der vordemokratischen Zeit. Der Bürger wandte sich persönlich an den Herrscher und hoffte darauf, das eigene Anliegen eindrücklich vorgebracht zu haben, sodass diesem auch entsprochen wurde. Dieses "persönliche Gespräch" zwischen Regierenden und Bürgern bewirkte, wie Thomas Lindenberger treffend formulierte, eine Individualisierung der Kommunikation, womit gleichzeitig die autonome Artikulation gesellschaftlicher Interessen und Bedürfnisse verhindert wurde.
Dennoch bot die Eingabe dem Bürger der DDR eine unbürokratische Möglichkeit zur Bewältigung von Konflikten mit Verwaltung, Staat und Partei.
Das Eingabenwesen der DDR ist folglich als vielseitiges, aber auch problematisches Instrument zu sehen. Einerseits diente die Eingabe dem Bürger als Kommunikationsmittel, um sich mit Anliegen an den Staat zu wenden. Sie konnte "individuell erfolgreich"
II. Eingaben an die AG Verfassung
In der Umbruchsituation 1989/90 wandelte sich nicht nur das Verhältnis der DDR-Bürger zum Staat, sondern auch ihre Haltung zu den Partizipationsmöglichkeiten, wie der Praxis des Petitionierens. Während ein Großteil der DDR-Bürger einen schnellen Beitritt zum rechtsstaatlich elaborierten und ausgeformten System der Bundesrepublik anstrebte, nutzten einige Interessengruppen bereits 1989/90 das bewährte Mittel der Petition, um ihre Vorstellungen, wie bestimmte Haltungen und Wertorientierungen über den Zusammenbruch des SED-Regimes hinaus in einer sich neu formierenden Gesellschaft verankert werden könnten, zu formulieren. Sie sprachen hier bereits Themen an, die nach der ersten Einheitseuphorie auch breitere Bevölkerungsschichten in Ostdeutschland wieder entdecken sollten. Im Unterschied zur einstigen spezifischen Ausformung der Petition als Eingabe änderten sich jedoch Form und Themen. Politische Positionen zur Gestaltung des Gemeinwesens wurden mit dem Partizipationsanspruch aktiver Bürger vorgetragen.
Jenseits der Mitglieder des Runden Tisches, deren Rolle als politische Akteure die Forschung bereits umfangreich aufgegriffen hat, ist der Aspekt der Bürgerbeteiligung in dieser spezifischen Situation bisher kaum beleuchtet. Einen Zugang zu dieser Frage eröffnen die 32 überlieferten "Briefe der Bevölkerung"
Deckblatt einer Eingabe zu Bildungsfragen mit Verfassungsrang an den Zentralen Runden Tisch, 19. Dezember 1989. (© BArch DA 3/38, Bl. 48)
Deckblatt einer Eingabe zu Bildungsfragen mit Verfassungsrang an den Zentralen Runden Tisch, 19. Dezember 1989. (© BArch DA 3/38, Bl. 48)
durch ein bewährtes Instrument der Artikulation bieten. Die Dokumente dienten der Autorin als Grundlage für eine Analyse von Eingaben innerhalb des Verfassungsgebungsprozesses am Runden Tisch, bei der die Methodik der historischen Diskursanalyse
Innerhalb dieses Verfassungsdiskurses ließen sich vier Schwerpunktthemen ausmachen, die für die Petenten schon zu diesem Zeitpunkt präsent waren und während des Transformationsprozesses auch Teil der öffentlichen Debatte werden sollten. Diese betrafen die Diskussion um die Rechte der Sorben, das Gewerkschaftsgesetz, pädagogische Fragen und das sozialistische Eigentum und umfassen ein Set von zwölf Eingaben. Als die friedliche Revolution ihren Höhepunkt erreichte, hatten sich auch Interessenvertretungen, wie die Domowina und die neu gegründete Gewerkschaft der Zöllner (GdZ), von der SED emanzipiert. Sie wollten nun ebenso wie die Angehörigen der pädagogischen Bewegung oder die Nutzer genossenschaftlichen Eigentums aktiv in den Willensbildungsprozess eingreifen und ihre Vorstellungen zur Gestaltung des Gemeinwesens einbringen. Um die jeweiligen Argumentationsmuster und sprachlichen Mittel innerhalb der Petitionen zu vergleichen, wurden daraus fünf Beispiele zur Durchführung einer exemplarischen Feinanalyse ausgewählt.
Schwerpunktthemen
Die herausgearbeiteten Schwerpunktthemen betrafen zum einen die mit drei Eingaben in Erscheinung getretene Volksgruppe der Sorben, vertreten durch die Domowina. Sie waren kontinuierlich bestrebt, ihre bisher in der DDR verbrieften Rechte, zum Beispiel die
Jan Mahling (l.), Vertreter des Sorbischen Runden Tisches, im Gespräch mit Uwe Thaysen, Chefredakteur der westdeutschen "Zeitschrift für Parlamentsfragen" und Dokumentar des Zentralen Runden Tisches, während des 16. Runden Tisches am 12. März 1990. (© Bundesarchiv Bild 183-1990-0312-014, Foto: Rainer Mittelstädt)
Jan Mahling (l.), Vertreter des Sorbischen Runden Tisches, im Gespräch mit Uwe Thaysen, Chefredakteur der westdeutschen "Zeitschrift für Parlamentsfragen" und Dokumentar des Zentralen Runden Tisches, während des 16. Runden Tisches am 12. März 1990. (© Bundesarchiv Bild 183-1990-0312-014, Foto: Rainer Mittelstädt)
Förderung der "Pflege ihrer Muttersprache und Kultur"
Im Rahmen der Diskussion um das Gewerkschaftsgesetz wurden hingegen zwei konträre Dokumente analysiert. Der Zuschrift eines Bürgers steht die Resolution der Gewerkschaft der Zöllner gegenüber. Während der Versuch des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), "mit der Drohung eines Generalstreikes der Volkskammer eine Entscheidung" hinsichtlich des Gewerkschaftsgesetzes "abzupressen", dem einzelnen Bürger "in der gegenwärtigen Situation verantwortungslos" erschien
Einen weiteren Schwerpunkt bildeten vier Eingaben zu verfassungsrechtlichen Garantien hinsichtlich des Bildungssystems. Für die Feinanalyse wurde die im Flugblattstil verfasste Zuschrift der Bürgerinitiative Pädagogik (BP) Karl-Marx-Stadt ausgewählt. Sie gehörte zu den verschiedenen (reform-)pädagogischen Bewegungen, die in der Umbruchphase entstanden.
Die Sicherung des sozialistischen Eigentums durch die genossenschaftlichen Nutzer stellte einen vierten Komplex unter den Eingaben dar. Das Schreiben der Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaft (AWG) "Vorwärts" bildete hier den zentralen Gegenstand der Analyse. Darin forderte die AWG "Sofortmaßnahmen" zur Sicherung des bislang zur Verfügung gestellten Wohnraumes sowie die Gewährung von Vorrechten für die bisherigen Nutzer und untermauerte die Brisanz des Themas mit dem Schlusssatz: "Wir verlangen eine schnelle Entscheidung zum Schutz und Wohle unserer Bürger."
Das Agieren der Petenten innerhalb ihres jeweiligen Interessenfeldes war wesentlich durch ihre unterschiedlichen Ausgangspositionen bedingt. Aufgrund der rechtlichen und kulturellen Sonderstellung der Sorben in der DDR und durch die Einbettung der Domowina in die Nationale Front bestand bereits eine eigene institutionalisierte Vertretung im politischen System. Als sich die Domowina Ende 1989 von der Parteilinie emanzipierte, konnte sie aus ihrer Stellung heraus auf verschiedenen Ebenen in den Willensbildungsprozess eingreifen.
Die Gewerkschaft der Zöllner berief sich zwar ebenso wie die Gruppe der Sorben auf eine bereits institutionalisierte Organisation und agierte im Zusammenhang mit dem Gewerkschaftsgesetz auch in deren Sinne. Die Bürgerzuschrift stellt jedoch vielmehr ein Exempel für den Überdruss der Bevölkerung gegenüber den Gewerkschaften dar. Diese hatten aus ihrer Stellung als Massenorganisation in der DDR heraus aber einen Kontinuitätsvorteil und stellten ebenfalls Vertreter am Runden Tisch und in der AG Verfassung. Darüber hinaus konnten die Gewerkschafter durch ihre gesamtgesellschaftlich relevante Position den politischen Druck, etwa durch die Androhung von Streiks, zusätzlich erhöhen und die Diskussion in das Blickfeld einer breiten Öffentlichkeit lenken. Die Resolution der GdZ ist in diesem Zusammenhang als unterstützendes Element zur Bekräftigung der vom FDGB formulierten Forderungen zu sehen. Sorben und Gewerkschafter handelten folglich unter dem Dach von Organisationen. Diese bestanden institutionell bereits, waren aus dieser Position heraus in der Gesellschaft etabliert und verstanden es, entsprechende Strukturen zu nutzen.
Demgegenüber mussten sich die Initiativen mit pädagogischen Zielen erst konstituieren und agierten parallel zueinander in verschiedenen Zusammenschlüssen. In den Eingaben sind dennoch gleiche Wertvorstellungen und Bestrebungen nach mehr Entfaltungsmöglichkeiten im Bildungssektor festzustellen. Die Petenten handelten somit trotz ihrer organisatorischen Trennung zielkonform. Zudem ist speziell im Vorgehen der Bürgerinitiative Pädagogik Karl-Marx-Stadt ein gewisses Maß an strategischem Handeln zu erkennen. Einerseits erreichten sie durch die Publikation ihrer Vorstellungen in einer Zeitschrift, "Nachrichten der Initiative für Waldorfschulen in der DDR", eine breitere Öffentlichkeit.
In der Auswertung der Eingaben zur genossenschaftlichen Nutzung zeigt sich hingegen ein heterogeneres Bild. Durch die unterschiedlichen Interessenlagen der Akteure, die nicht nur Wohn-, sondern auch landwirtschaftliches Eigentum betrafen, konnte kaum ein gemeinschaftliches Agieren entstehen. Dennoch kann auch hier von einem ausgeprägten Interessenkreis und einem gesellschaftlichen Bewusstsein für diese Problemlagen ausgegangen werden. Denn die Schaffung von absichernden rechtlichen Regelungen sollte sowohl im Bereich der Landwirtschaft als auch in dem der Wohnungspolitik berücksichtigt werden.
Die Petenten versandten ihre jeweiligen Eingaben außerdem kongruent zur öffentlichen Diskussion ihres Interessenschwerpunktes. Die Debatte um das Gewerkschaftsgesetz und seine Annahme durch die alte Volkskammer erreichten beispielsweise im Februar 1990 ihren Höhepunkt, beide Eingaben wurden Anfang des Monats verfasst. Als die Eingaben zu sorbischen Fragen im Februar und März formuliert wurden, traten auch die Domowina-Vertreter zu den angesprochenen Punkten am Runden Tisch und in der AG Verfassung in Erscheinung und beförderten somit die öffentliche Diskussion.
Argumentationsmuster
So unterschiedlich die Ausgangspunkte und Anliegen der Petenten auch waren, zeigen sich doch wiederkehrende Argumentationsmuster. Innerhalb der Eingaben treten einige Strategien hervor, um die Rezipienten von den eigenen Argumenten und den damit verbundenen Forderungen zu überzeugen. So spielten etwa der Bezug auf Autoritäten
Besonders auffällig ist das Zusammentreffen der
Mit diesem Plakat versuchte die SED/PDS für einen Dialog mit Oppositionellen zur "Rettung sozialistischer Strukturen" zu werben. (© Bundesarchiv Plak 102-029-013, Grafik: Alexander Schiel)
Mit diesem Plakat versuchte die SED/PDS für einen Dialog mit Oppositionellen zur "Rettung sozialistischer Strukturen" zu werben. (© Bundesarchiv Plak 102-029-013, Grafik: Alexander Schiel)
Bestrebungen nach Sicherung bereits vorhandener sowie nach Erlangung neuer Rechte. Sowohl Sorben als auch Pädagogen, Gewerkschaftsvertreter und die Nutzer genossenschaftlichen Eigentums verwiesen auf die bisherigen "Errungenschaften" und positiven rechtlichen Bedingungen in der DDR. Sie illustrierten dies unter anderem durch die im sozialistischen Sprachgebrauch übliche Ausdrucksweise.
Darüber hinaus sollten eben auch "die Erfahrungen und Anregungen der Bürger im Demokratisierungsprozeß" einbezogen werden. Die Berücksichtigung von Zuschriften aus der Bevölkerung bleibt im Gedächtnis von Mitgliedern der AG Verfassung zunächst zwar aus, bei gezielter Nachfrage zeigt sich jedoch eine Erinnerung an die stark agierenden Sorben und Gewerkschafter.
III. Wandel der Eingaben
Der Blick in die Dokumente legt offen, dass sich in der Angewohnheit der Bürger, Eingaben zu schreiben, ein Wandel vollzog. War die klassische Eingabe der DDR dominiert von Anliegen, die individualisiert und isoliert von Bürgern gegenüber dem SED-Staat vorgebracht wurden, so waren die 1989/90 angesprochenen Themen im politischen Geschehen präsent. Die Eingaben gingen nun häufig von neuen Zusammenschlüssen der Bürger aus, was auf eine Politisierung der Petition hindeutet. Gerade im Hinblick auf die Interessengruppe der Pädagogen zeigt sich die Entstehung einer gemeinsamen Artikulation der Interessen in Form von Initiativen, die an die Öffentlichkeit traten. Während man in der DDR unter "Bürgerinitiative" offiziell meist von der Partei initiierte Arbeitseinsätze der Bürger zur Verschönerung der Umgebung und von Gebäuden verstand
Die Umbruchzeit 1989/90 war eine Phase des öffentlichen Protestes und der öffentlichen Meinungsäußerung. Die Bürger der DDR konnten sich ohne von Staat und Partei diktierte Tabus zu den für sie relevanten Themen äußern, konnten zunehmend direkt agieren und politische Teilhabe erproben. Dies schlug sich nicht zuletzt im Verfassen von Eingaben nieder. Aus ihrer Sozialisation, die Eingabe als erprobtes Mittel zur Konfliktbewältigung und zur indirekten Mitbestimmung zu verstehen, und aus den neuen politischen und gesellschaftlichen Freiheiten heraus waren die DDR-Bürger nun bestrebt, dieses Mittel zur direkten Partizipation auch im politischen Willensbildungsprozess zu nutzen.
Somit verfestigte sich die Tendenz der 1980er-Jahre, die ein ansteigendes Selbstbewusstsein der DDR-Bürger gegenüber dem Staat signalisierte. 1989/90 entsprachen die Formulierungen in den Eingaben an die AG Verfassung in erster Linie nicht einer Bitte oder Beschwerde. Sie hatten einen deutlich fordernden Charakter, der den Anspruch der Petenten veranschaulicht, aktive Partizipanten bei der Gestaltung des Gemeinwesens zu sein. Sie beinhalteten keine Fragen des Alltags, sondern politische Positionen. Hier traten die Zuschriften nicht nur als probate Methode eines "gelernten DDR-Bürger[s]"
Parallel zum Bedeutungswandel zeichnet sich jedoch auch ein Bedeutungsverlust der Eingaben ab. In dem Moment, da die freie Meinungsäußerung wieder möglich war, da ein Demokratisierungsprozess stattfand, wurde auch der direkte Zugang zu den politischen Entscheidungszentren sowie die Interaktion mit den politischen Akteuren eröffnet. Als sich neue Möglichkeiten der politischen Partizipation und der Herstellung von Öffentlichkeit auftaten, begann die Eingabe an Wirkungsmacht zu verlieren. Zwar wandten sich eingabeerfahrene DDR-Bürger auch 1996 noch "überproportional häufig [...] an den Petitionsausschuss".
IV. Fazit
Die Petitionen bilden nicht allein einen Spiegel einzelner Themen, die die Gesellschaft im politischen Umbruch 1989/90 bewegten. Vielmehr zeigen sie auf einer Mikroebene das Streben nach Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen. Sie wurden zum Teil sehr umfassend in den Verfassungsentwurf der Arbeitsgruppe Verfassung des Runden Tisches einbezogen, wurden aber auch auf anderen Ebenen behandelt. Der Verfassungsentwurf selbst trat nicht in Kraft, er war zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung gewissermaßen bereits abgewählt worden: Am 18. März hatte sich eine große Mehrheit der DDR-Bevölkerung bei der Volkskammerwahl für die "Allianz für Deutschland" und damit für den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23 GG entschieden. Dennoch stellen die hier untersuchten Zuschriften von Bürgern ein Zeugnis ihrer Vorstellungen und ihres Bedürfnisses nach Partizipation dar.
Insgesamt ist festzustellen, dass die von den Bürgern an die AG Verfassung gerichteten Zuschriften, zwar noch aus dem Habitus des "gelernten DDR-Bürgers", sich in Form von Eingaben mit Anliegen an politische Entscheidungsträger zu wenden, heraus geschrieben wurden. Die Eingaben waren aber nicht mehr in der isolierten Kommunikation zwischen Petenten und Entscheidungsträger(n) verankert, sondern gingen einher mit öffentlichen gesellschaftlichen Diskussionen und Aktionen der Interessengemeinschaften. In den hier analysierten Petitionen betrifft dies insbesondere die spezifisch behandelten Kernthemen: die Rechte der Sorben, das Bildungswesen, das Gewerkschaftsgesetz und genossenschaftlich genutztes Eigentum. Die Akteure waren in der Regel in einer entsprechenden Interessenvertretung organisiert, die zum Teil auf einem bereits bestehenden institutionellen Kontext fußte. Die Verfasser der Eingaben waren deshalb auch durch die Erfahrungen ihrer bisherigen gesellschaftlichen Stellung und durch den damit verbundenen Aktionsraum für die Gewährung und Ablehnung von Rechten geprägt. Die Petenten gehörten außerdem neu formierten Zusammenschlüssen an, die sich im Zuge der neuen Möglichkeiten des Demokratisierungsprozesses ihren Aktionsrahmen erst erschließen mussten. Sie gingen nun politisch umfassend vor und über die Praxis der Eingabe hinaus, indem sie auch aktiv vor Ort durch Vertreter in den Willensbildungsprozess eingriffen und die neuen Formen von Öffentlichkeit nutzten.
Ebenso wie sich die AG Verfassung das Ziel setzte, sowohl die eigenen Erfahrungen als auch neue Aspekte in die Arbeit an einer neuen Verfassung einzubeziehen, ist auch die inhaltliche Argumentation der Petenten sowohl hinsichtlich der Werte und Rechte, die gesichert und erhalten werden sollten, als auch bezüglich der Forderungen nach neuen Rechten und Freiheiten geprägt. Die erkennbaren Entlehnungen gerade aus der bundesdeutschen Verfassungswirklichkeit zeichnen ein Bild ähnlicher Überlegungen, wie sie auch in der Arbeitsgruppe selbst angestellt wurden.
Inwieweit die Zuschriften unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung des Verfassungsentwurfs der Arbeitsgruppe hatten, ist aufgrund der verschiedenen Entwicklungslinien dies- und jenseits der AG, der persönlichen Interaktion der politischen Akteure sowie der Petenten über das Eingabenschreiben hinaus schwer feststellbar. Es bleibt zu vermuten, dass die Forderungen der Eingaben ohne diese zusätzlichen Interaktionslinien nicht in einem solchen Maß Eingang in die Diskussionen gefunden hätten. Dennoch zeigen die Eingaben die gesellschaftlichen Diskussionen der Zeit auf und waren somit unterstützendes Element im Willensbildungsprozess. Dieses Partizipationselement hat hier die Wesenszüge eines prekären Konfliktbewältigungsinstrumentes oder gar der demütigen Untertanenbitte, welche Alltagsthemen behandelt und auf einer individuellen Ebene stattfindet, abgelegt. Es wurde durch eine umfassende politische und vor allem öffentliche Teilhabe der Akteure bestimmt, die ihre Forderungen als solche formulierten, sie zum Bestandteil der öffentlichen Debatte machten und auch selbst als Multiplikatoren wirksam wurden. Sie erwarteten als politische Interessengruppen und souveräne Bürger, dass ihre Vorschläge einbezogen würden, und nutzten die gewohnte äußere Form der Eingabe, die sich inhaltlich jedoch zur klassischen Petition wandelte.
Ein auf dieser Mikroebene konstatierter Wandel zur politischen Petition im herkömmlichen Sinne kann hier ohne eine Gesamtuntersuchung der Zuschriften an entsprechende Gremien der Zeit, wie die noch bestehenden Verfassungsorgane oder den Runden Tisch insgesamt, nicht abschließend geklärt werden. Die Untersuchung von Eingaben an die Arbeitsgruppe Verfassung des Zentralen Runden Tisches hat jedoch gezeigt, wie gewinnbringend die Auswertung von Zeugnissen der bürgerlichen Mitbestimmung für die Rekonstruktion der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche dieser Zeit sein kann.