Einleitung
Über "minderjährige IM" zu forschen ist problematisch. Das beginnt schon mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz, das eine Auskunft über Kooperationen mit der Staatssicherheit vor dem 18. Lebensjahr ausschließt. Folglich gibt es einen Erkenntnisgewinn lediglich über entsprechend anonymisierte Unterlagen – oder eben durch einen Zufall. Einen solchen Zufall stellt der im Februar 2011 bekannt gewordene Fall des Lutz Penesch dar, der sich nach Medienberichten als 17-Jähriger 1971 schriftlich an den West-Berliner Sender RIAS gewandt haben soll und auf diese Weise ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) geraten ist. Es gab Gespräche, in deren Folge er weder eine schriftliche Verpflichtung abgegeben, noch als inoffizieller Mitarbeiter (IM) verzeichnet worden sein soll: "Er wolle doch studieren, oder? Penesch hatte damals die Hosen voll", schreibt "Der Tagesspiegel".
Das Bestimmungsproblem
Das MfS tat sich in der internen Bürokratie schwer mit minderjährigen IM. Es gab keine gesonderte Bestimmung, wie sie in der Buchführung – der operativen Registratur – zu verzeichnen waren. Grundsätzlich galt für alle Personen, die sich zur Kooperation mit dem MfS verpflichtet haben, dass diese auf ein Formblatt – eine Karteikarte – einzutragen waren, das in die Kartei der Abteilung XII des MfS in Ost-Berlin einzustellen war. Die Abweichungen in der Herangehensweise sind beachtlich. Manche bezeichneten diese "IM" als "Kontaktpersonen" (KP), andere als "IM-Vorlauf".
Die Bestimmung eines "minderjährigen IM" nach den Regelungen des MfS wird zudem dadurch erschwert, als dass eine Akte für einen IM bzw. einen IM-Vorlauf bestimmte Kriterien zu erfüllen hatte, was für KP so nicht geregelt war. Diese Bestimmungsunschärfe hat zur Folge, in einer vom MfS erstellten Statistik zwingend von Fehlstellen ausgehen zu müssen.
Das verwaltungstechnische Handeln des MfS bildet sich auch in der Definition dessen ab, was unter einem minderjährigen IM zu verstehen ist. Für das MfS war ein IM eine Person, die bereit war, Aufträge des MfS zu erledigen und dabei die vereinbarte Konspiration einzuhalten. Der Gesetzgeber hingegen hat im Stasi-Unterlagen-Gesetz IM als eine Person definiert, die zur Informationslieferung bereit war. Mithin wird heute eine Person als IM angesehen, die das seinerzeit nach den Richtlinien des MfS nicht war. Während das MfS bei IM keine Altersbeschränkung vorsah, beschränkt der Gesetzgeber die Anwendung des IM-Begriffs auf Volljährige.
Eine empirisch begründete Prognose über die Anzahl
Trotz dieser Probleme lassen sich erste begründete Angaben über zumindest verzeichnete, minderjährige IM abgeben. Unter den rund 189.000 IM, mit denen das MfS zuletzt arbeitete, nahm der Anteil Minderjähriger, die explizit auch in den Karteien als IM registriert waren,
Andreas Kuno Richter: "Der Verrat – Wie die Stasi Kinder und Jugendliche als Spitzel missbrauchte" (2010), Filmstill. (© RTL )
Andreas Kuno Richter: "Der Verrat – Wie die Stasi Kinder und Jugendliche als Spitzel missbrauchte" (2010), Filmstill. (© RTL )
sicherlich eine verschwindende Größe ein.
Das schließt nicht aus, dass punktuell deutlich höhere Werte festgestellt werden können. Das hat aber sehr wahrscheinlich keinen relevanten Einfluss auf die Gesamtzahl minderjähriger IM. So ermittelte der Sportwissenschaftler Giselher Spitzer unter den von ihm untersuchten 340 IM des mit besonderem Prestige versehenen Leistungssports, der folglich intensiv beobachtet wurde, neun minderjährige IM, was einem Anteil von 2,6 Prozent entspricht.
Operative Schwerpunkte minderjähriger IM
Das von der Frankfurter Bezirksverwaltung für Staatssicherheit überlieferte Datenmaterial gibt auch Aufschluss über die operativen Schwerpunkte, die den Schülern zugedacht waren. Es handelt sich überwiegend um Fragestellungen der Linie XX, die unter anderem auch mit der inoffiziellen Arbeit unter Jugendlichen befasst war.
In den Bestimmungen des MfS ist die Rede von Jugendlichen, also den 16- und 17-Jährigen, während die Volljährigen regelmäßig als Jungerwachsene gelten. Das bestärkt, was sich wiederholt bei der Sichtung von Akten zeigte: Der überwiegende Anteil minderjähriger IM war 17 Jahre alt (schon deutlich seltener 16 oder jünger), eine Personengruppe, die regelmäßig im Vorfeld des Wehrdienstes vom MfS angesprochen wurde, damit nicht erst Rekruten während ihres Dienstes verpflichtet werden mussten, was innerhalb der Kasernen mitunter dekonspirierend sein konnte.
Es gibt jedoch seltene Ausnahmen. Der jüngste bislang ermittelte IM war zwölf Jahre alt und ihm wurde der Deckname "Jüngling" zugewiesen. "Jüngling" besuchte eine
Annette Baumeister: "Stasi auf dem Schulhof" (2012), Werbeprospekt. (© ARD)
Annette Baumeister: "Stasi auf dem Schulhof" (2012), Werbeprospekt. (© ARD)
Polytechnische Oberschule in Bad Salzungen. Das Scheidungskind sollte "mit negativen Schülern und Jugendlichen an der POS Kontakt halten bzw. mit diesen engen Umfang pflegen." Er wurde im Pionierkabinett seiner Schule mit Handschlag geworben. Anlass dafür gab eine strafbare Handlung. Über ihn heißt es 1980: "Da der IM in seiner Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen ist, kommt es darauf an, in der ersten Etappe der Zusammenarbeit den IM so zu beeinflussen, damit Momente der Spontaneität und der Schwankungen weitgehend abgebaut werden und ihm ein klares Feindbild anerzogen werden kann. Des weitern kommt es darauf an, dass Vertrauensverhältnis systematisch so zu vertiefen, um ihn an unser Organ zu binden." Das scheint nicht recht geklappt zu haben, denn sieben Jahre später heißt es über "Jüngling": "In der Folgezeit der Zusammenarbeit stellte sich heraus, dass der IM vom Intellekt her nicht in der Lage war, die an ihn gestellten Aufgaben zu erfüllen. Er ist ängstlich, unehrlich und nicht bereit, Jugendliche, Freunde und Bekannte zu belasten. Der IM hat für eine Zusammenarbeit mit unserem Organ keine Perspektive."
Die beschriebene Konstellation deutet bereits daraufhin, dass parteilich angepasste Minderjährige entweder in Vorbereitung auf eine hauptamtliche Tätigkeit beim MfS – die Kadersichtung setzte bereits mit dem 14. Lebensjahr ein – oder eben in Vorbereitung auf den Wehrdienst rekrutiert wurden, um für die MfS-Hauptabteilung I in den Kasernen Informationen zu beschaffen. Andererseits zeigt bereits am Befehl 1/66, dass die Massenorganisation der Jugendlichen schlechthin, die Freie Deutsche Jugend (FDJ) oder – mit Abstrichen – die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) nicht ausreichend Jugendliche absorbierte. Eine latente bis latent kritische Distanz gab es zu den Vorgaben des Staates unter Jugendlichen durchaus, auch bei jenen, die sich nicht kirchlich gebunden fühlten. Diese Gruppe operativ zu kontrollieren war genuines Anliegen des MfS, aber nicht allein Aufgabe von minderjährigen IM, sondern von grundsätzlich mit Jugendlichen operativ befassten IM. Aber den besten Zugang hatten freilich eben Gleichaltrige, mithin minderjährige IM. Demnach ist wesentlich von zwei Typen minderjähriger IM auszugehen: Der angepasste – und der unangepasste Minderjährige. Dies soll an zwei Beispielen illustriert werden.
"Schwalbe"
Eine Woche vor seinem 18. Geburtstag verpflichtete sich ein Schüler der Erweiterten Oberschule "Walther Rathenau" in Senftenberg "zum Schutze der Deutschen Demokratischen Republik und des Aufbaus des Sozialismus inoffiziell" zur Kooperation mit dem MfS. Er wählte sich in der von ihm geschriebenen handschriftlichen Verpflichtung den Decknamen "Schwalbe". "Mir ist bewusst", heißt es in seinem letzten Satz vor der Unterschrift, "dass ich, wenn ich die Schweigeverpflichtung breche, strafrechtlich belangt werden kann". Das war am 5. Juni 1970.
Sein Gesprächspartner, Unterleutnant Rüdiger Fach, erwartet von ihm Ausführungen zu den Jugendlichen im Flugclub Schwarzheide und zu den "Grenzern" an seiner Schule. "Schwalbe" bemüht sich redlich. Sein Bericht zu den Grenzkadern an der Schule kommt gut an, bei den Segelfliegern will er ein "umfassendes Bild erarbeiten".
Bis dahin berichtet "Schwalbe" "über Jugendliche, die negativ in Erscheinung treten", in dem sie "hetzten", als ein Funktionär anlässlich des Tages des Bergmannes vom Blatt abliest: "Dass die Funktionäre bei uns nicht von der Sache überzeugt seien, da sie nicht einmal frei sprechen könnten. Anders wäre das bei Goebbels gewesen". Und als die Nationalhymne abgespielt wird, explodiert ein Knaller. Das MfS reagiert und bittet ihren IM um Feststellungen, ob es sich "um eine Gruppierung handelt".
Das MfS ist mit "Schwalbe" zufrieden. Im Dezember 1970 wird seine "große Einsatzbereitschaft" belohnt, auch seine Erledigung von "Sonderaufträgen", weshalb er mit kaum 18 Jahren dem inoffiziellen Netz des Führungs-IM "Scholz" zugewiesen wird.
"Igel"
Feldwebel Katrin Schollmeyer arbeitete als operativ-technische Mitarbeiterin für die Abteilung XX/2 der MfS-Bezirksverwaltung Groß-Berlin und suchte jemanden, der sich in der Fußball begeisterten Skinhead-Szene Ost-Berlins auskennt. Der 17-jährige Kellnerlehrling "Igel" erschien dafür wie geschaffen, weshalb Schollmeyer einen IM-Vorlauf anlegte. Bereits in der 9. Klasse, so erfuhr sie, war "Igel" im "Zusammenhang mit faschistischen Tendenzen" aufgefallen, als im Wehrerziehungslager Mitschüler als Juden "beschimpft und drangsaliert" worden waren. "Igel" galt als Initiator, zumal sein Äußeres dazu passte: Springerstiefel, Jeanshosen, Bomberjacke mit dem Aufnäher "Skinhead Power Deutschland", dazu die "extrem kurzen" Haare. Bei einer Weihnachtsfeier an seiner Polytechnischen Oberschule "urinierte" er in den Saal, warf Gegenstände aus dem Fenster und gehört zu jenen, die gelegentlich mit "erhobenem Arm (Hitlergruß)" gesehen wurden.
Bei der Kontaktaufnahme Schollmeyers mit "Igel" am 23. Oktober 1984 spricht er über "einzelne Personen".
Es gab keine schriftliche Verpflichtung von "Igel", jedoch Gespräche, in denen er bereit war, Informationen zu geben; er verweigerte sich nicht. Im September 1985, nach einem Jahr Kontakt, schließt Schollmeyer die Akte, weil "Igel" "subjektiv nicht geeignet ist, mit dem MfS inoffiziell zusammenzuarbeiten. Es ist keine Bereitschaft vorhanden, konkrete Aufträge zu interessierenden Personen und Personenkreisen zu übernehmen." Fortan wird "Igel" in dem Vorgang "Seife" selbst zur beobachteten Person des MfS, die im Januar 1988 einen Ausreiseantrag aus der DDR stellt, dessen Genehmigung sich am 7. November 1989 abzeichnet, als das MfS die "kurzfristige" Übersiedlung vorsieht.
Fazit
Der Anteil der Minderjährigen unter den inoffiziellen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit ist im Mittel sicherlich um 0,8 Prozent zu veranschlagen, was etwa für das Jahr 1989 rund 1.300 IM bedeutet. Die überwiegende Anzahl dieser minderjährigen IM war nach dem Eindruck bei Aktenauswertungen regelmäßig 17 Jahre alt, der Anteil der 16-Jährigen und Jüngeren ist deutlich geringer. Das MfS wollte mit diesen IM insbesondere jene Bereiche der Gesellschaft, wie jugendliche Gruppen, inoffiziell unter Kontrolle nehmen, die durch andere Instrumente für den Staat nicht ohne Weiteres erreichbar waren. Anders als ihre Anzahl insgesamt, erscheint die Frage mit Hilfe einer Stichprobe lösbar, welchen Anteil die Jahrgänge unter den minderjährigen IM hatten.