Gerüchte in Diktaturen
"Hast du gehört", "Weißt du schon": Mit diesen Worten beginnen meist überraschende Erzählungen über Menschen oder Ereignisse, die sich wie ein Virus ausbreiten können. Gerüchte stecken an, sie motivieren zum Weitererzählen, weil man scheinbar Unfassbares gehört hat. Es gibt sie seit Menschengedenken.
Gerüchte sind gemeinhin unverbürgte, vereinfachte Nachrichten von zweideutigem Charakter, da nicht klar ist, was an den Erzählungen wahr oder unwahr ist. Sie stoßen gerade deshalb auf allgemeines bzw. öffentliches Interesse und verbreiten sich in der Regel unkontrolliert. Häufig bleiben die Urheber von Gerüchten im Dunkeln. Für die Betroffenen sind die Gerüchte nicht immer folgenlos. Sie können soziale Beziehungen zerstören, das Ansehen schädigen, Selbstwertgefühle schwächen, aber auch negative gesundheitliche Reaktionen hervorrufen. Gerüchte begegnen uns überall auf der Welt, ob in Demokratien oder Diktaturen.
In Diktaturen stoßen die plausibel erscheinenden Behauptungen oder überraschenden Erzählungen jedoch auf einen besonders fruchtbaren Boden, weil die Informationsfreiheit massiv eingeschränkt ist, die Gerüchte nicht überprüft werden können, man sich nicht gegen sie zur Wehr setzen kann und das Misstrauen gegenüber jedem und allem ohnehin groß ist. Unter solchen Bedingungen werden Gerüchte häufig als Tatsachen empfunden: mit erheblichen Folgen für die Gesellschaft und für die in ihr lebenden Menschen.
Die politischen Geheimpolizeien in den sozialistischen Diktaturen haben sich des Wesens der Gerüchte bedient und damit strategisch operiert, sei es um politische Prozesse zu steuern und zu manipulieren oder bestimmte Menschen als Feinde zu stigmatisieren.
Das Gerücht als Zersetzungsstrategie
Als "Schild und Schwert" der SED hatte das MfS die Aufgabe, "Aktivitäten bzw. Bestrebungen äußerer Feinde und feindlich-negativer Kräfte im Inneren der DDR zur Schaffung einer wirksamen ideologischen und personellen Basis für politische Untergrundtätigkeit" zu verhindern, aufzudecken und zu verfolgen.
Eine wichtige Repressionsmethode wurde die "Zersetzung",
In der von Staatssicherheitsminister Erich Mielke als Geheime Verschlusssache erlassenen "Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV)" wurde für die Mitarbeiter des MfS erstmals die Anwendung von Gerüchten im Rahmen von Zersetzungsmaßnahmen normiert. Die Richtlinie trat am 1. Januar 1976 in Kraft und war als dienstliche Bestimmung verbindlich für die MfS-Mitarbeiter. Nach dieser Richtlinie gehörte unter anderem zu den "bewährten Formen der Zersetzung": die "systematische Diskreditierung des öffentliches Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben."
An dieser Stelle soll vor allem die geheimpolizeiliche Inszenierung von Gerüchten gegen jene beleuchtet werden, die in Operativen Personenkontrollen und Operativen Vorgängen vom MfS verfolgt wurden, weil sie sich in der Frauen-, Friedens-, Menschenrechts- und Umweltbewegung der 80er-Jahre organisierten. Sie waren jedoch nicht die einzigen Betroffenen. Die Akten belegen, dass etwa auch Antragsteller auf Ausreise, kirchliche Mitarbeiter, kritische Künstler, als "dekadent" eingestufte Jugendliche sowie DDR-Flüchtlinge oder Fluchthelfer aus der Bundesrepublik mit Gerüchten konfrontiert wurden, um sie zu "zersetzen".
Die Zahl der Betroffenen ist nach wie vor schwer abzuschätzen. Die Angaben schwanken zwischen einer "vier- bis fünfstelligen Personenzahl"
Zum Ziel der Zersetzung mittels Gerüchten wurden auffallend häufig jene Oppositionelle, die aufgrund von "politischen Interessen" nicht inhaftiert werden konnten. In einer 800 Seiten umfassenden Studie führten MfS-Offiziere Gründe für den Einsatz verdeckter Sanktionen an: "Durch die Anwendung von Zersetzungsmaßnahmen, unter weitgehendem Verzicht auf strafrechtliche und strafprozessuale Maßnahmen, die durch das Vorliegen offizieller Beweise durchaus möglich wären – genau wie Zersetzungsmaßnahmen diese voraussetzen –, wird von vornherein [...] eine Eskalierung der Hetze vermieden. Der Feind wird vorwiegend mit sich selbst beschäftigt, die Ursachen für seine Misserfolge oder für die Notwendigkeit, auf die Begehung feindlicher Handlungen zu verzichten, liegen damit in Bedingungen, die er nicht dem sozialistischen Staat in seiner Gesamtheit oder den Sicherheitsorganen anlasten kann."
In den Oppositionsgruppen der 80er-Jahre kursierten seinerzeit viele Gerüchte, von denen einige erfolgreich wirkten, andere aber aufgrund konsequenter Gegenstrategien ins Leere liefen. Der bekannte Systemkritiker Rainer Eppelmann sagte zu dieser Zersetzungsstrategie des MfS: Sie sei "teuflisch" gewesen, da "wir nicht ausschließen konnten, dass ein Gerücht wahr sein konnte."
Das MfS ließ die Gerüchte vor allem über die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) und die sogenannten Partner des "politisch-operativen Zusammenwirkens" verbreiten, zu denen Mitarbeiter aus den staatlichen und gesellschaftlichen Organen und Institutionen in der DDR zählten, wie Polizisten, Rechtsanwälte, Lehrer, Journalisten, Betriebsdirektoren und nicht zuletzt auch Hausnachbarn. Nur aufgrund deren Kooperationsbereitschaft wurde es den Opfern oft unmöglich, das MfS als Schöpfer der böswilligen Unterstellungen zu erkennen.
Welche Gerüchte zum Einsatz kamen, richtete sich wesentlich nach der Individualität des Opfers. "Je persönlichkeitsbezogener die Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung zur Anwendung gebracht werden", so hieß es in einer Arbeit der Juristischen Hochschule des MfS, "umso größere Erfolge im Sinne vorbeugender Wirksamkeit sind zu verzeichnen."
Die Verleumdung von politischen Gegnern mittels Gerüchten wurde mit dem Inkrafttreten der Richtlinie 1/76 professioneller und ausgefeilter, die Manipulation Einzelner wurde zugespitzt. Was in den Jahren zuvor an Zersetzungsaktivitäten durch das Streuen von Gerüchten gegen politische Gegner in der DDR organisiert worden war, war vom Staatssicherheitsdienst bei Weitem nicht so aufwendig betrieben worden, wie das für die späten 70er- und 80er-Jahre zu rekonstruieren ist.
Am Anfang stand meist eine gezielte Desinformation über ein Ereignis oder eine Person, die das MfS mittels seiner inoffiziellen und offiziellen Erfüllungsgehilfen in Umlauf brachte, um sie dann als Gerücht wirken zu lassen. Unter einer Desinformation verstand das MfS "die bewusste Verbreitung von den Tatsachen grundsätzlich oder teilweise widersprechenden Informationen durch Wort, Schrift, Bild oder Handlungen. [...] Desinformationen müssen so lange wirken und den Überprüfungen standhalten, wie es für die konkret zu lösende Aufgabe erforderlich ist. Deshalb hat sich der Informationsgehalt von Desinformationen scheinbar logisch aus objektiven Bedingungen bzw. Tatsachen zu ergeben."
Im Verlauf der Verbreitung von Gerüchten konnte jedoch vieles geschehen, was das MfS nicht mehr in der Hand hatte. Es nahm jedoch in Kauf, dann gegensteuern zu müssen. So konnten sich etwa die Inhalte von Gerüchte verändern oder es konnte zu ungewollten Solidarisierungseffekten mit Betroffenen kommen.
"Sie haben mich zum Verräter gemacht ..."
"Sie waren es, die mich zum Verräter gemacht haben", resümiert Raimund Wegner nach seiner Akteneinsicht. Auch wenn die Übeltäter nun beim Namen genannt werden können, bittere Enttäuschung schwingt dennoch in seinen Worten mit. Sie, das waren Stasi-Offiziere aus der Bezirksverwaltung des MfS in Schwerin, die 1983 gegen den jungen Mann einen Operativen Vorgang (OV) unter dem Decknamen "Pfleger" eröffneten und als eine der ersten Maßnahmen gegen Wegner das Streuen eines Gerüchtes umsetzten.
Raimund Wegner war nach seiner Ausbildung als Krankenpfleger in Lobetal 1983 nach Schwerin zurückgekehrt. Wie dort wollte er auch hier in der Friedensarbeit mitarbeiten. Aber es gelang ihm nicht. Auf einer Veranstaltung während der Friedensdekade im November 1983 in Güstrow wurde ihm der Grund bekannt. Die Teilnehmer warfen ihm vor, dass er für die Staatssicherheit als Spitzel arbeiten würde. Das Gerücht, das über inoffizielle Mitarbeiter in kirchliche Kreise getragen worden war, verbreitete sich schnell und erzielte im Ergebnis genau das, was das MfS erwartet hatte. Eine IM mit dem Decknamen "Christine" berichtete ihrem Führungsoffizier nach einem Zusammentreffen mit Wegner: "Diese Meinung wurde [...] auch in Schwerin bekannt. Daraus resultiert eine allgemeine Ablehnung seiner Person. Er würde jetzt völlig aus der Friedensarbeit aussteigen. Dabei spielt er den Märtyrer – von allen verachtet, abgelehnt und missverstanden. Für sich sieht er keine Chance, dort in der bisherigen Arbeit weiterzuarbeiten. Bei seinem Besuch eröffnete ich ihm, dass er bei mir, wenn die Sache so liege, auch keine andere Haltung erwarten kann. Aus Sicherheitsgründen müsse ich ihm misstrauen."
Heute weiß er, warum. Die Verleumdungen, von denen er erst erfuhr, als sie sich schon längst in den Köpfen seiner Freunde und politischen Mitstreiter verfestigt hatten, trafen Wegner persönlich schwer: "Ich konnte ja nicht das Gegenteil beweisen. Ich war völlig ohnmächtig. Ich habe Freunde verloren und mich nicht mehr auf die Straße getraut."
Im Oppositionsmilieu operierten die MfS-Offiziere auffallend häufig mit dem Gerücht, dass Personen für den Staatssicherheitsdienst arbeiten würden. Dass es dort eingesetzt wurde, lag nahe. Zum einen lebte man in der DDR-Diktatur in einer Atmosphäre des Misstrauens, der sich kaum jemand entziehen konnte; erst recht nicht, wenn man sich gegen den Staat engagierte und der Gegenwart des Staatssicherheitsdienstes gewärtig sein musste. Zum anderen war das Streuen eines solchen Gerüchtes im Oppositionsmilieu besonders niederträchtig, weil es ausgerechnet gegen die Menschen eingesetzt wurde, die sich in ihrem Engagement auch gegen die Arbeit des Staatssicherheitsdienstes auflehnten und dafür hohe persönliche Risiken in Kauf nahmen: Sie wurden zum Spitzel gemacht und des Verrats bezichtigt, obwohl dies ihren innersten Überzeugungen und Moralvorstellungen zutiefst widersprach.
Im Fall des bekannten thüringischen Jugendpfarrers Walter Schilling sicherte sich der Staatssicherheitsdienst gleich in mehrfacher Hinsicht ab, um ihn in Verruf zu bringen. Am 15. September 1976 schlug Hauptmann Rohrbach von der Kreisdienststelle des MfS in Rudolstadt vor, Walter Schilling zu einem Gespräch in die Dienststelle des MfS vorzuladen und ihn beim Betreten des Gebäudes zu fotografieren, "um bei späteren, eventuell negativen Ausfällen des Pfarrers kompromittierendes Material in den Händen zu haben". "Andererseits", so Rohrbach, "ist die Möglichkeit zu prüfen, auch einen Besuch des MfS bei Schilling in seiner Pfarrgemeinde fotografisch zu dokumentieren, da er bei allen bisherigen Gesprächen den Mitarbeiter an seinen PKW begleitete und so durchaus die Möglichkeit der fotografischen Dokumentation gegeben ist. Weiterhin ist zu prüfen, ihn an seinem Geburtstag mit einem entsprechenden Besuch zu beehren und nach Abstimmung mit der Abteilung XX/4 [im MfS zuständig für die "Bearbeitung" der Kirchen] zu gewährleisten, dass zu diesem Zeitpunkt ein Pfarrer den Besuch des MfS bei Schilling feststellt und entsprechend in der Öffentlichkeit auswertet."
Überwachungsfotos von Walter Schilling beim Betreten der MfS-Dienststelle in Rudolstadt am 23.11.1976 (© BStU, MfS, BV Gera AKG 3003, Bd. 17)
Überwachungsfotos von Walter Schilling beim Betreten der MfS-Dienststelle in Rudolstadt am 23.11.1976 (© BStU, MfS, BV Gera AKG 3003, Bd. 17)
All diese Maßnahmen wurden umgesetzt. In Schillings Akte fanden sich verschiedene Fotos, die ihn beim Betreten der MfS-Dienststelle und der Begrüßung durch einen MfS-Offizier zeigten. Über diese Fotos wurde er als Spitzel des MfS diskreditiert. Auch zu seinem 50. Geburtstag suchten MfS-Mitarbeiter Schilling auf. Sie übergaben ihm einen Blumenstrauß und ein Präsent, während eine Reihe von Gästen an der Kaffeetafel saß. Wie beabsichtigt, erhärtete sich der Spitzelverdacht gegen Walter Schilling durch den persönlichen Aufenthalt der MfS-Mitarbeiter Rohrbach und Schrodetzki im Pfarrhaus. Das MfS wertete die Aktion als Erfolg, weil das Gerücht bei einigen Zweifel an der Integrität des Pfarrers hervorrufen konnten. Allerdings nahmen die Menschen, von denen Schilling eng umgeben war, dies nicht ernst und erkannten die Absichten des MfS.
Überwachungsfotos von Walter Schilling beim Verlassen der MfS-Dienststelle in Rudolstadt am 23.11.1976 (© BStU, MfS, BV Gera AKG 3003, Bd. 17)
Überwachungsfotos von Walter Schilling beim Verlassen der MfS-Dienststelle in Rudolstadt am 23.11.1976 (© BStU, MfS, BV Gera AKG 3003, Bd. 17)
Überwachungsfotos von Walter Schilling beim Verlassen der MfS-Dienststelle in Rudolstadt am 23.11.1976. (© BStU, MfS, BV Gera AKG 3003, Bd. 17)
Überwachungsfotos von Walter Schilling beim Verlassen der MfS-Dienststelle in Rudolstadt am 23.11.1976. (© BStU, MfS, BV Gera AKG 3003, Bd. 17)
Ein ähnliches Vorgehen des Staatssicherheitsdienstes zeigte sich im Vorgang "Pegasus", der sich unter anderem gegen Siegfried Reiprich richtete. Im Mai 1976 entwarfen die Mitarbeiter der Kreisdienststelle Jena, Major Mittenzwei und Oberstleutnant Horn, eine Konzeption "zur schrittweisen Realisierung des OV 'Pegasus' durch politisch-operative Zurückdrängungs-/Zersetzungsmaßnahmen gegen die im OV bearbeitete Personengruppierung". Konkret ging es um die Verbreitung der Falschinformation, dass Reiprich ein Spitzel sei.
Als im November 1976 mehrere Personen aus dem OV "Pegasus" verhaftet wurden, ließ die Kreisdienststelle des MfS in Jena Reiprich bewusst außen vor. Die Offiziere inhaftierten ihn nicht und holten ihn auch zu keinem Verhör, obwohl er dieser Gruppierung angehörte. Da Reiprichs Freunden das differenzierte Vorgehen der Organe suspekt war, verdächtigten sie ihn bald als Spitzel. Der Plan der Staatssicherheit ging auf. Den Inhaftierten indessen erzählten die Vernehmungsoffiziere in der Untersuchungshaftanstalt, dass Reiprich sie verraten habe.
Die Verbreitung des Gerüchtes, dass Personen für den Staatssicherheitsdienst arbeiten würden, erfolgte in der personenbezogenen Arbeit unterschiedlich, wie die drei Beispiele zeigen. So bildeten etwa auch die gegenüber politischen Gegnern kurz nacheinander initiierten Vorladungen zum MfS, die mit vorgetäuschten Werbungsversuchen verbunden waren, einen geeigneten Nährboden für Verdächtigungen. Die Isolierung und Verunsicherung von politischen Gegnern über das dosiert gestreute Gerücht einer Spitzeltätigkeit war im Rahmen von Maßnahmen der Zersetzung typisch. Zwar konnte das MfS nicht immer Erfolge hinsichtlich ihrer sozialen Wirkung verzeichnen, die Gerüchte bremsten aber zumindest die Aktivitäten der Betroffenen, weil diese sich mit der Abwehr der Unterstellungen zu beschäftigen hatten.
"Diesen Konflikt konnte ich nicht bewältigen ..."
Gerüchte, die sogenannte "unmoralische" Lebensweisen zum Inhalt hatten, kamen unter anderem gegen Pfarrer zum Einsatz, die sich in der Friedens-, Menschenrechts- oder Umweltarbeit der 80er-Jahre engagierten. Dies hatte vor allem einen Grund: Bei Pfarrern konnten diese Gerüchte sowohl persönlich als auch dienstlich wirken. Dadurch erhöhte sich ihre Zerstörungskraft.
Von Pfarrern wurden besonders hohe ethische Wertvorstellungen und ein entsprechender Lebenswandel erwartet. Diese Erwartungshaltung versuchte das MfS über entsprechende Gerüchte zu konterkarieren. So wurden IM beauftragt, "moralische Einstellungen sowie Handlungen" zu erarbeiten, "die im Widerspruch zu den Normauffassungen" des Umfeldes der verfolgten Person standen.
Im OV "Verführer" planten MfS-Offiziere der Bezirksverwaltung Neubrandenburg das Gerücht in Umlauf zu bringen, dass ein Pastor pornografische Interessen habe, um die Kirchenleitung gegen ihn aufzubringen. Die MfS-Offiziere hatten auch schon genau vor Augen, wie die Maßnahme enden sollte: mit der Einleitung eines Dienstrechtverfahrens gegen den Pfarrer. Auf einer von Detlef Borchardt veranstalteten Rüste, einer Jugendfreizeit sollte ein IM mit dem Decknamen "Salow" "pornographische Abbildungen in den Wohnraum" des Heimleiters und seiner Frau legen.
Es kamen aber nicht wie geplant die pornografischen Abbildungen zum Einsatz, sondern das MfS nutzte vorher ein nächtliches Zusammensein der Jugendlichen, um das Gerücht zu verbreiten, dass die Rüste ein "reines Saufgelage" sei. Es ist nicht ganz klar, welchen Part der IM "Salow" in dieser Nacht übernahm, in der die Situation im Heim eskalierte. "Diesen Konflikt", so Detlef Borchardt im Interview, "merkte ich, konnte ich nicht bewältigen." Der Druck auf Borchardt von Seiten der Kirchenleitung nahm nach dieser Aktion zu, und das, was über ihn in seiner Stadt und in den kirchlichen Gremien erzählt wurde, berührte ihn peinlich. Er hatte auch keine Ahnung, wer alles davon wusste, wer wie wem was erzählte. Als Zielobjekt des Gerüchtes fühlte er sich hilflos. Aber es kam in seinem Fall zu keinen beruflichen Konsequenzen.
Gerüchte, das macht dieses Beispiel deutlich, waren in der Konsequenz nicht so durchschlagend, wie vom MfS erhofft, wenn der Betroffene zum einen offensiv mit den Anfeindungen umging und andere schnell einweihte, falls er hörte, was über ihn erzählte wurde. Zum anderen wurde die Wirkung von Gerüchten abgeschwächt, wenn an der Seite des Betroffenen Menschen standen, die sich trotz massiver Verleumdungen weiter für ihn einsetzten.
In einem anderen Vorgang diskreditierte der Staatssicherheitsdienst eine Pastorin vor ihrer Kirchengemeinde in Berlin, indem er eine entwürdigende Fotomontage in Umlauf brachte. Ursprünglich war geplant, dass ein IM des MfS als vermeintlicher Zeuge Jehovas hauptsächlich ältere Gemeindemitglieder aufsuchen sollte, um das Gerücht zu streuen, dass die Mitglieder des Friedenskreises der Gemeinde ein "'Lotterleben'" führen würden.
Zwar brachte der Staatssicherheitsdienst in Berlin Fotomontagen innerhalb der Gemeinde und im Friedenskreis in Umlauf, aber sie diskreditierten primär die Pastorin und ihren Mann. Auf den Fotos war der Partner als gehörnter Ehemann dargestellt. Der Staatssicherheitsdienst wollte damit das Gerücht verbreiten, dass die Pastorin außereheliche Beziehungen hätte. Die Gemeinde war nach dieser Aktion sehr verunsichert, da sie nicht wusste, ob sie dies glauben sollte oder nicht. Einige Wochen gab es viel Klatsch, der an den Kräften der Pastorin zehrte. Auch der Gemeindekirchenrat schaltete sich ein und stellte die Pastorin zur Rede. Die Situation war der Pastorin zutiefst unangenehm und eskalierte teilweise. Im Interview sagte sie: "Ohne die Unterstützung des Superintendenten hätte ich nicht weitermachen können."
Die Pastorin war nicht nur schockiert über diese Aktion, sondern auch so wütend, dass sie vier Wochen nach Erhalt der Fotos eine Anzeige gegen Unbekannt bei der Polizei erstattete. Darauf hatte das MfS aber nur gewartet, denn so bestand die Möglichkeit, das Gerücht weiter auszudehnen. Die Polizei lud im Auftrag des Staatssicherheitsdienstes permanent Bekannte, Verwandte, aber auch Fremde zu Verhören und konfrontierte dabei weitere Personen mit dem vermeintlichen Liebesleben der Pastorin. Die Polizei begründete ihr dies damit, dass der Täter angesichts der intimen Details nur aus dem Bekanntenkreis kommen könne. Die Pastorin versuchte daraufhin, die Anzeige zurückzuziehen. Dies wurde aber mit der Begründung abgelehnt, dass sie eine öffentliche Person sei und der Staatsanwalt bereits die Ermittlungen übernommen habe. Die Polizisten drohten ihr bei einer Verweigerung der Mitarbeit sogar strafrechtliche Konsequenzen an. Erst nach Monaten wurden die Ermittlungen eingestellt. Täter konnten natürlich nicht gefunden werden. Der Pastorin wurde lediglich mitgeteilt, dass die Gefahr einer Wiederholung bestehe und sie damit rechnen müsse, weitere Fotos und Briefe zu erhalten: "Da war ich darauf gefasst, dass mir dies immer wieder passieren kann."
Auch im OV "Wanderer" verfolgte das MfS die Strategie, einen Pastor über Gerüchte zu "zersetzen". Der Staatssicherheitsdienst in Neubrandenburg schätzte Markus Meckel als einen der "Exponenten der sogenannten staatlichen unabhängigen Friedensbewegung im Bereich der mecklenburgischen Landeskirche" ein.
Dem MfS gelang es, heimlich Fotos von Pastor Meckel zu machen, die ihn beim Nacktbaden in einem See zeigten. Diese retuschierte die Bildstelle der Bezirksverwaltung entsprechend, um daraus Fotos mit neuem Inhalt zu entwickeln. So zeigten einige der Fotomontagen Markus Meckel nackt zusammen mit einer Frau. Eine Fotomontage enthielt den Text: "Watt sägt jieh da tau", eine andere: "Datt is uns Pastors Fründin – Er hat noch mehr". Insgesamt fertigte die Bildstelle fünf verschiedene Fotomotive an, um Markus Meckel "nachhaltig zu kompromittieren."
Markus Meckel im Januar 1990. (© Bundesarchiv Bild 183-1990-0119-314, Foto: Rainer Mittelstädt)
Markus Meckel im Januar 1990. (© Bundesarchiv Bild 183-1990-0119-314, Foto: Rainer Mittelstädt)
Markus Meckel erzählte, dass die Fotoaktion ihn und seine Familie in Unruhe versetzt habe. Seine Frau habe tagelang nicht das Haus verlassen, weil sie sich vor dem Gerede der Bewohner gefürchtet habe. Aber der Pastor hatte mit einer Gegenstrategie Erfolg. Meckel ging in die Offensive und versuchte, die Gerüchte aufzuhalten und richtig zu stellen. Er sprach gleich nach der Verteilung der ersten Fotos die Bewohner des Dorfes und die Mitglieder der Kirchengremien auf die gegen ihn gerichteten Diffamierungen an. Das half ihm letztlich, aufkommendes Misstrauen geringer zu halten, wie er selbst einschätzt.
Dass die politische Geheimpolizei der DDR mit Gerüchten, die intime Bereiche betrafen, operieren würde, um politische Gegner auszugrenzen und zu bestrafen, war damals kaum zu erahnen gewesen. Darin lag auch die Macht dieser Art von Gerüchten, denn es war für die Betroffenen und deren Umfeld zu abwegig, einen Bezug zum MfS herzustellen. Stattdessen gerieten andere in Verdacht, nicht selten Freunde und politische Mitstreiter. Insofern entwickelten die Gerüchte auch immer eine negative Wirkung über den Betroffenen hinaus. Zudem bediente der Staatssicherheitsdienst mit diesen Gerüchten Sensationslüste in der Bevölkerung und konnte sich sicher sein, dass sie auf fruchtbaren Boden fielen.
Wirkung der Gerüchte bis in die Gegenwart
In Diktaturen, in denen den Menschen der Zugang zu freien Informationen verwehrt ist, heizt nahezu alles die Gerüchteküche an. Auf der einen Seite produziert dadurch das Volk selbst zahlreiche Gerüchte. In der DDR provozierten etwa die Umweltsituation, der Staatssicherheitsdienst, der Lebenswandel der politischen Prominenz, die Versorgungslage oder das Grenzregime zahlreiche Spekulationen, konnten aber auch durch bestimmte Vorkommnisse oder Erfahrungen schnell als wahr bestätigt werden. Für die Machthaber waren die im Volk entstandenen Gerüchte gefährlich, "da sie miesmachende und bösartige Nachrichten transportierten und auf diese Weise die Erfolgspropaganda der SED unterliefen."
Auf der anderen Seite hat das MfS selbst Desinformationen und Gerüchte in die Welt gesetzt und für eigene Zwecke instrumentalisiert. Viele Beispiele dafür gibt es schon aus der frühen Geschichte der DDR. So haben etwa Lars Broder-Keil und Sven Felix Kellerhoff anhand zweier Gerüchte, die in den 50er-Jahren in der DDR kursierten, das damals Geschehene rekonstruiert. Unter dem Titel "Amikäfer" wiesen die beiden Journalisten nach, dass die Kartoffelkäferplage, die sich um 1950 in der DDR massiv verbreitete, zum Anlass genommen wurde, das Gerücht zu verbreiten, dass die Invasion der Insekten vom Westen organisiert worden sei, um den Aufbau der DDR und der sozialistischen Landwirtschaft zu schädigen. In der Konsequenz ging es jedoch darum, die Bauern zu mobilisieren und von den eigenen Versäumnissen in der Ungezieferbekämpfung abzulenken.
Auch in Reaktion auf den 17. Juni 1953 gab es zahlreich kursierende Gerüchte, von denen einige staatlich inszeniert waren, um diesen ersten und bis 1989 einzigen Volksaufstand in der DDR als "faschistischen Putschversuch" zu diffamieren. So diente die Befreiung einer geistig verwirrten Frau aus einem Gefängnis in Halle den Machthabern dazu, aufwendig das Gerücht in Umlauf zu setzen, dass mit dieser Frau eine ehemalige Wärterin des Konzentrationslagers Ravensbrück zu einer Rädelsführerin der Proteste geworden sei: "Erna Dorn – oder wie sie auch immer hieß – wurde zum zentralen Beweismittel für die Propagandathese der SED, dass der 17. Juni ein Putschversuch gewesen sei, angezettelt und geleitet von Faschisten und Agenten aus dem Westen."
Gerüchte dienten in der DDR-Diktatur somit auch der Vertuschung von Ereignissen, der Stigmatisierung von Opfern, aber auch der Mobilisierung von Anhängern und der Legitimierung von Gewalt. Gerüchte wurden stets als Rechtfertigung für das eigene Handeln gegenüber bestimmten Personen genutzt. Es war ein ganzes Bündel an positiven Elementen, die das MfS mit Desinformationen und Gerüchten in seinem Sinne erwirken konnte. Der Staatssicherheitsdienst hat sich deshalb auch im Rahmen seiner Repressionsmethode der "Zersetzung" das Wesen von Gerüchten zunutze gemacht: Gerüchte wurden in der DDR-Diktatur auch zum Herrschaftsmittel, zu einer Waffe im Kampf gegen politische Gegner.
Gerade mit ihren Schmuddelgerüchten verpassten die MfS-Offiziere den Betroffenen darüber hinaus das Stigma, nicht den Anforderungen einer sozialistischen Persönlichkeit zu entsprechen. Schon allein dies rechtfertigte eine öffentliche Distanzierung von ihnen. Dass viele der gestreuten Gerüchte nicht im Geringsten der Wahrheit entsprachen, interessierte damals, aber auch heute nur wenige. Es gibt genügend Beispiele dafür, dass Menschen, die vom Staatssicherheitsdienst im Rahmen von Zersetzungsplänen willkürlich und zu Unrecht zum "Alkoholiker", "Stasi-Spitzel", "Fremdgänger" oder "Kriminellen" abgestempelt wurden, bis heute dieses Stigma nicht loswerden – und das, obwohl es einst staatlich inszeniert wurde.
Gegen die Gerüchte konnten sich die Betroffenen bis zur Öffnung der MfS-Akten kaum wehren. Zum einen blieben die Urheber der böswilligen Unterstellungen oft im Dunkeln. Zum anderen eröffnete ihnen die DDR-Diktatur keine Möglichkeit, rechtlich oder öffentlich dagegen erfolgreich vorzugehen. Es gab keine unabhängige Justiz, und die Kommunikationsstrukturen wurden engmaschig kontrolliert. Erst mit der persönlichen Einsichtnahme in die eigene MfS-Akte, was seit 20 Jahren möglich ist, lösten eine Reihe Betroffener Strafverfahren gegen ehemalige MfS-Mitarbeiter wegen übler Nachrede oder vorsätzlicher Verleumdung aus, weil die Quellen für die Gerüchte nun eindeutig identifiziert werden konnten. Allerdings ist dies nur ein Tropfen auf dem heißen Stein angesichts dessen, was an Schicksalen zu rekonstruieren ist. Wichtiger ist, öffentlich darüber aufzuklären, auf welch subtile Weise das MfS Gerüchte zu seinem Herrschaftsinstrument machte. Hierin besteht auch eine Chance, dass die Opfer ihr häufig anhaltend wirkendes Stigma wieder los werden.