Erinnern Sie sich an die Handlung von Friedrich Dürrenmatts »Der Besuch der alten Dame?« Falls Ihr Gehirn, wie meines, durch den zurückliegenden Wahlkampf matschig geworden sein sollte, hier eine Auffrischung. In ein heruntergewirtschaftetes Städtchen mit intakter Sozialstruktur (hier gibt es immerhin noch Lehrer, Ärzte, Pfarrer, Polizisten und einen Bürgermeister) kehrt eines sonnigen Tages eine Bürgerin zurück, die in die weite Welt gezogen war, um dort ihr Glück zu finden. Sie ist mittlerweile Milliardärin geworden und fordert die Stadtgesellschaft auf, einen Mann zu töten, der sie einst schwängerte und dann verleugnete. Preisgeld für diesen Mord: eine Milliarde (Währung unbekannt). Die Stadtgesellschaft reagiert zunächst empört und weist das Angebot wegen moralischer Bedenken zurück. In den Kneipen und Wohnzimmern bröckelt jedoch der Widerstand. Es kann ja jeder sehen, dass die Stadt marode vor sich hinbröselt, dass ihr Glanz verschwunden ist und mit ihm jede Zukunft.
Nach langem Hin und Her kommt es schließlich zu einer finalen Abstimmung mit Todesfolge. Postwendend wird der Scheck an die Stadt überreicht, die Dame reist wieder ab und nimmt den getöteten Ex-Liebhaber im Sarg gleich mit. Ende der Geschichte. Was in den Fünfzigerjahren, als Dürrenmatt das Stück erdachte, noch wie die düstere Version einer möglichen Zukunft kapitalistischer Gesellschaften wirkte, erscheint heute wie die Vorhersage für unsere Gegenwart.
Vor allem männlichen Schriftstellern wird oft ein hellseherisches Genie angedichtet. Das ist gut für das Marketing. Aber auch ein Dürrenmatt konnte nicht ahnen, dass zwei Entwicklungen der Spätmoderne seine Geschichte aktualisieren: Die Zahl der Milliardäre steigt und die Zahl klammer Kommunen. Ich möchte daher einen Versuch wagen, das Ganze aus der Fiktion zu lösen. Ich lebe und arbeite in Görlitz, der unangefochten schönsten Stadt Deutschlands (Widersprüche lasse ich nicht gelten, trotz der 47 Prozent für die AfD bei der Bundestagswahl).
Die Stadt und der dazugehörige Landkreis sind in den vergangenen Jahren in bedrohliche Finanzierungsschwierigkeiten geraten. Laut einem aktuellen Gutachten dürfte das jährliche Defizit bis 2028 auf über 100 Millionen Euro ansteigen. 2023 half nur ein Kredit des Freistaats Sachsen, die gravierendsten finanziellen Probleme abzuwenden. Selbstverständlich kam dieser mit weiteren Sparauflagen daher. Die mit der Erstellung des Gutachtens beauftragte Managementberatung empfiehlt umfassende Maßnahmen, um den Haushalt zu konsolidieren: Ohne demokratische Legitimation schlagen sie unter anderem Stellenabbau in der Kreisverwaltung vor, Einsparungen im öffentlichen Nahverkehr und das Schließen von Krankenhäusern, Theatern und Jugendklubs.
Während die Sparpläne kursieren, spendet der Unternehmer Winfried Stöcker (Sie konnten viel über ihn und seinen nicht zugelassenen Coronaimpfstoff lesen) für ein Waldbad und die Sportanlagen einer Schule im Landkreis. Er kauft das Görlitzer Jugendstilkaufhaus und viele angrenzende Gebäude, um seine Vision vom KaDeO, dem Kaufhaus des Ostens (kein Scherz) umzusetzen.
Mit seinem Geld verspricht er wirtschaftlichen Aufschwung und versucht, die Lücken kommunaler Unterfinanzierung zu schließen. Mit seinem Geld (1,5 Millionen Euro und damit die größte Einzelspende in der Geschichte der Partei) unterstützt er aber auch die AfD. Er ließ in Görlitz und Lübeck, wo er den Flughafen besitzt, Briefe an Haushalte verteilen, in denen er aktiv und mit kruden Zahlen untermauert, zur Wahl der AfD aufruft. In den Rathäusern und Gemeindevertretungen des Landkreises Görlitz herrscht seitdem Ratlosigkeit über den weiteren Umgang mit diesem Unternehmer.
Man ist schlicht zu abhängig von seinem Geld. Niemand möchte es sich mit einem Investor verscherzen. Das Kaufhaus steht zwar seit Jahren leer, ist eine ewige Baustelle, einen möglichen Rückzug des Investors würde in der Stadt wahrscheinlich zunächst niemand bemerken. Aber es würde sich herumsprechen in den Kneipen und Wohnzimmern. Die Schuldigen wären schnell ausgemacht. Die nächste Wahl steht unmittelbar vor der Tür. In Görlitz wird im kommenden Jahr ein neues Stadtoberhaupt gewählt.
Beispielhaft, wenngleich mit einem anderen Wirkungsgrad, ist Elon Musk. Er beschränkt sich auch nicht auf das Verteilen von Geld, sondern übt, umweht von seiner Aura als genialer Unternehmer (immer diese genialen Männer!), ohne Umwege politischen Einfluss aus. Mit dem Amtsantritt Donald Trumps wurde Musk Leiter einer Kommission, die die staatliche Effizienz erhöhen soll. Er versucht, Behörden zu schließen und Personal zu entlassen. Das traf auch Angestellte, die für die nukleare Sicherheit zuständig waren. Andere kümmerten sich um die Eindämmung der Vogelgrippe in den USA. Auch sie: gefeuert.
Das mag für Empörung sorgen, ist jedoch nur der Höhepunkt einer Entwicklung, die Ende der Siebzigerjahre in den westlichen Demokratien begann. Seither steigt aufgrund zunehmender Komplexität moderner, staatlicher Aufgaben der Einfluss von nicht-majoritären Institutionen auf politische Entscheidungsprozesse. Gemeint sind jene Organisationen, Verbände und Gruppen (und mittlerweile Einzelpersonen), die über keine demokratische Legitimation verfügen, jedoch zunehmend politische Kompetenzen übertragen bekommen. Das klingt wie die Verschwörungsrhetorik der Rechten, ich weiß. Tatsächlich haben Populisten aller Länder diese messbare Schieflage vom steigenden Einfluss außerparlamentarischer Kräfte bei gleichzeitigen Repräsentanzdefiziten der demokratischen Institutionen gut erkannt.
Daher propagieren sie die Selbstbestimmung ihrer Völker gegen fremde Mächte und »Eliten«. Der Brexit, die Wahlsiege Donald Trumps und aller rechten Parteien des Westens lassen sich derart interpretieren. Anders als oft gemutmaßt, handelt es sich nicht um einen Kulturkampf, der diese Parteien erstarken lässt, sondern um das Ausnutzen von Unwuchten der repräsentativen Demokratie. Reiche Männer wie Musk und der in der Oberlausitz geborene Unternehmer nutzen demokratische Strukturen, um Einfluss zu nehmen. Außerdem treffen sie mit einer Art Heilsversprechen der freien Marktwirtschaft auf kommunale Strukturen, die, wie in Dürrenmatts Stück, um ihr Überleben kämpfen. Gerade an dieser Stelle wird es prekär.
Politik wird in den kleinsten Verwaltungsebenen, den Kommunen, umgesetzt und erfahrbar. Sind Schulen, Straßen, Schienen marode, hat das Auswirkungen auf das Ansehen der politischen Entscheidungskompetenz. Gab es in Dürrenmatts Stück noch einen Lehrer, einen Pfarrer, einen Polizisten, einen Arzt und einen Bürgermeister (alles Männer), gibt es heute Landstriche, in denen man nach ihnen suchen muss. Fahre ich durch meinen Landkreis, frage ich mich, ob das 21. Jahrhundert jemals begonnen hat. Die Grünenpolitikerin Katrin Göring-Eckardt sagte in einem Interview einst: »Warum man rechts wählt, wenn der Bus nicht kommt, das erschließt sich mir nicht.« Auf ihre Ratlosigkeit ließe sich leicht entgegnen: Die anderen Parteien wählt man dann erst recht nicht.
Rechte Parteien des Westens sind dort am stärksten, wo sich unsere Gesellschaften demografisch langsam schlafen legen. Einfach gesagt: dort, wo die sozialen Fragen nach Rente, Pflege, Auskommen im Alter am drängendsten sind. Mittlerweile rückt die AfD auch in die Städte vor, wo sich steigende Mieten, Kitagebühren und die Inflation am meisten verdichten.
Sozialistisch interpretiert, ist es stets das Kleinbürgertum, das aufgrund seines fehlenden Klassenbewusstseins lieber nach unten tritt, anstatt den Milliardären den Kampf anzusagen, und damit dem Faschismus den Weg ebnet. Das ist überspitzt und (Achtung, Modewort) ideologisch argumentiert, ich weiß. Aber dass die AfD unter den Arbeitenden mittlerweile erfolgreicher ist als die SPD zeigt die Verschiebung der sozialen Frage, getragen durch die Mittelschicht, nach rechts.
Die selbst ernannten Parteien der Mitte glauben offenbar mit voller Überzeugung, dass sie nur die Symptome der sozialen Frage kurieren müssten (sinkende Zustimmung zum Bürgergeld, steigende Ablehnung zur Migration), um den Geist des rechten Populismus wieder in die Flasche zu bekommen. Friedrich Merz zum Beispiel startete sein Comeback innerhalb der CDU mit dem Versprechen, die AfD halbieren zu wollen. Stattdessen erreichte die AfD auch in seinem Wahlkreis im Sauerland mit 17 Prozent die zweitmeisten Zweitstimmen. Er wird sich in Zukunft auch daran messen lassen müssen.
Als hellseherischer Schriftsteller kann ich Ihnen sagen, dass es nicht reichen wird, »gute Politik« zu machen. Solange die Kommunen, in denen sich die sozialen Fragen und die Zufriedenheit mit der Demokratie kondensieren, reihenweise in Zahlungsschwierigkeiten geraten und Superreiche ihren Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse ausbauen, wird der Rechtspopulismus von Sieg zu Sieg eilen.
Dazu mangelt es nicht an Analysen. Dass Politiker schlaue Dinge nicht befolgen müssen, ist ihr gutes Recht. Beim Thema AfD und ihrer »Bekämpfung« jedoch gezielt immer wieder ins Leere zu greifen, grenzt mittlerweile an ein Kunststück. Offenbar mangelt es nicht an der Analyse-, sondern an der Handlungskompetenz. Deshalb frage ich mich, was ich denkend, arbeitend und wählend bewirken kann. Vielleicht sollte ich meine Energie in den Versuch stecken, durch Heirat oder Erbe Milliardär zu werden. Politischer Einfluss wird durch Geld herbeigeführt. Wenn es gut läuft, schreibt noch jemand ein Theaterstück über mich.
Zitierweise: Lukas Rietzschel, "Dann muss ich eben selbst Milliardär werden", in: Deutschland Archiv vom 17.4.2025. Link: www.bpb.de/561336. Die Erstveröffentlichung des Essays erfolgte im Spiegel Nr. 15/2025 vom 6.4.2025. Alle im Deutschlandarchiv veröffentlichten Beiträge sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Ergänzend:
Matthias Quent, Interner Link: Eine Zäsur für die ostdeutsche Demokratie? DA vom 3.3.2025
Steffen Mau, Interner Link: Disruption. Die Revolution der Erschöpften. DA vom 25.2.2025
Sulin Sardoschau, Interner Link: Staatskapazität statt Sündenböcke, DA vom 21.3.2025
Daniel Kubiak, Interner Link: Zeitenwende 2.0, DA vom 6.3.2025
Raj Kollmorgen, Interner Link: Zerrbilder. Dirk Oschmanns Erfindung des Ostens. Eine Entgegnung, DA vom 1.2.2025