Unsere Sicherheit ist heute so stark bedroht wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Die größte und direkteste Bedrohung geht dabei von Russland aus, das im vierten Jahr einen brutalen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt und weiter massiv aufrüstet.
Dieser Satz stammt nicht von mir, er steht auf Seite 125 im Kapitel „Verantwortungsvolle Außenpolitik“ des schwarz-roten Koalitionsvertrags vom 9. April 2025. Die darin formulierte Diagnose ist richtig. Aber welche Rezepte können helfen, endlich tatsächlich wieder Frieden in Europa zu schaffen, die der Ukraine ihr Territorium und ihre Freiheit belässt? Eine solche Hoffnung hatte ich lange, zögere aber immer mehr, auch weil Europas Diplomatie bislang viel zu leise und machtlos agierte, und seit Donald Trumps Amtsantritt feststeht, dass er eher Wladimir Putins geomachtpolitische Positionen vertritt, aber kaum noch die der Ukraine.
Vielleicht geschieht das deshalb, weil Trump hofft, dass Russland im politischen Gegengeschäft dann nicht protestiert, sollte er im Laufe seiner Amtszeit konkretere Ansprüche auf Grönland oder den Panama-Kanal erheben. Das wäre fatal, weil sich dann auch China problemlos Taiwan einverleiben könnte. Weil keine der Großmächte mehr widerspricht. Alles Ungute ist leider möglich geworden. Unsere Zeit gerät aus der Fassung.
„Die Ukraine werden wir umfassend unterstützen, so dass sie sich gegen den russischen Aggressor effektiv verteidigen und sich in Verhandlungen behaupten kann“ heißt es weiter im Koalitionsvertrag, aber was genau „sich behaupten kann“ bedeutet, lässt viele Interpretationsspielräume offen.
Wie konnte es soweit kommen?
Am 24. Februar 2025 ging der blutige Krieg Russlands gegen die Ukraine in sein viertes Jahr. Zu jedem dieser Jahre und den damit verbundenen Entwicklungen hatte ich geschrieben und gestritten. Im Herbst 2023 konnte ich zum Schriftsteller und Psychoanalytiker Jurko Prochasko und Freunden in die Westukraine fahren und dort den Schmerz, die Trauer, die Wut und die ungebrochene Widerstandskraft unmittelbar erleben. Wie kann ich angesichts all dessen noch Optimismus entwickeln, wenn es um die Haltung Deutschlands und des Westens geht, jetzt vor allem ohne Trumps USA? Schlägt nun wirklich die Stunde Europas im Sinne notwendiger Konsequenzen und Entscheidungen der Akteure?
Auf den Kyjiver Euromajdan und die Flucht von Viktor Janukowytsch reagierte Moskau im Frühjahr 2014 mit der Besetzung der Krim und dem Sezessionsprojekt „Neurussland“, der versuchten Abspaltung der südlichen und östlichen Provinzen der Ukraine. Damals begann der erbarmungslose, seinerzeit noch unerklärte Krieg Russlands gegen sein auf Souveränität bestehendes Nachbarland, mündend in einen Frontangriff am 24. Februar 2022. Der sollte überfallartig als Überrumpelung und Inbesitznahme der Macht in Kyjiv in wenigen Stunden und Tagen über die Bühne gehen.
Hostomel, der größte Militärflughafen in unmittelbarer Nähe der ukrainischen Hauptstadt, wurde durch Luftlandeeinheiten besetzt, denen schwere Transportflugzeuge mit motorisierten Eingreiftruppen folgen sollten. Geplant war eine blitzartige Übernahme der Hauptstadt, wo Gruppen von Diversanten und Saboteuren bereits tätig waren und Panik erzeugten. Die Ausschaltung und Verhaftung der ukrainischen Führung sollten folgen. Mitglieder einer ukrainischen Marionettenregierung unter dem früheren Machthaber Viktor Janukowytsch standen schon bereit. Zeitgleich sollten Panzerbrigaden und Militärkonvois aus verschiedenen Richtungen über die Grenzen vorrücken.
Geheimdienstinformationen zu diesem geplanten Szenario, welche die USA besaßen und die sie teilweise weitergaben, wurden von verantwortlichen Politiker*innen des Westens und in Kyjiv zunächst für Provokationen gehalten und als Bluff herunter gespielt.
Waldimir Putin setzte mit dem Überraschungsschlag alles auf eine Karte, verließ sich auf die Einschätzung seiner Militärs und seiner Geheimdienste, die damit rechneten, eine einschüchternde Panzer-Invasion wie schon 1968 erfolgreich in Prag würde automatisch dazu führen, dass sich die Ukraine kampflos ergibt. Er hatte seine Rechnung ohne den menschlichen Faktor gemacht.
Die erste Phase des Überfalls auf die Ukraine endete mit einem völligen Desaster für die russischen Angreifer. Im letzten Moment nahm die ukrainische Seite doch noch die konkreten Hinweise vonseiten der USA ernst. Der Flughafen wurde zunächst erfolgreich verteidigt, dann aufgegeben, doch zuvor die Start- und Landebahnen zerstört.
Eilig zusammengezogene Streitkräfte und Freiwillige aus den Dörfern und Städten an der Invasionsstrecke warfen sich den russischen Panzerkolonnen entgegen, die von der belarussischen Grenze nach Süden vorrückten. Sie konnten sie vor den Toren der Hauptstadt stoppen. Ihre Kampfmethoden passten zu keiner Militärdoktrin: Rentnerinnen und Rentner mit allem, was sie zur Hand hatten, Bauern und Bäuerinnen mit ihren Traktoren und Zivilist*innen in Jogginghosen und mit Jagdgewehren waren in den Handbüchern nicht vorgesehen. Die russischen Invasoren wurden Opfer ihrer eigenen Hybris. Sie glaubten so fest an einen blitzschnellen Sieg, dass sie mit einer baldigen Siegesparade in Kyjiv rechneten. In Panzerwracks, deren Besatzung den Tod gefunden hatte, sich ergeben musste oder durch Flucht zu retten suchte, fanden sich mitgeführte Paradeuniformen.
Wolodymyr Selenskyj, dem unter anderem vom damaligen US-Präsidenten Joe Biden zur Flucht und von anderen zur Kapitulation geraten wurde, lehnte all diese Empfehlungen ab. Er wuchs in den Folgemonaten und Jahren zu einem Staatsmann heran, der sich auf den Mut und Kampfeswillen eines ganzen Volkes stützen konnte. Ohne militärische und zivile Unterstützung des Westens, die von den USA und einzelnen Verbündeten bereits vor 2022 geleistet wurde, wäre der Widerstand gegen einen vielfach überlegenen Aggressor allerdings nicht möglich gewesen.
Deutschlands bescheidene Zeitenwende-Rolle
Deutschland nahm bei all dem einen viel bescheideneren Platz ein, als es später von Bundeskanzler Olaf Scholz und anderen Politikern immer wieder suggeriert wurde. Am 27. Februar 2022 hatte der erst kurz zuvor ins Amt gelangte Bundeskanzler einen historischen Moment. Er sprach die entscheidenden Worte aus: „Wir erleben eine Zeitenwende. Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“.
Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr wurde auf den Weg gebracht. Gleichzeitig angekündigte Waffenlieferungen an die Ukraine wurden jedoch verzögert und verschleppt. Eine Zeitenwende, die Deutschland mit zum Guten wenden könnte, blieb eher Wunsch als Wirklichkeit. Der sozialdemokratische Bundeskanzler, und nicht nur er, blieb weiter Gefangener deutscher Russlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte – einer konzilianten Russlandpolitik, die ja nicht nur von der SPD geprägt worden ist. Doch was selbst im dritten Kriegsjahr ausblieb, waren laut vernehmbare Interventionen und nennenswerte diplomatische Offensiven.
Deutschland dürfe keine Alleingänge wagen, so Scholz, er „wolle kein Zocker sein“. Was Teile der deutschen Gesellschaft stattdessen erwarteten, ohne in Kriegsbegeisterung zu verfallen, zeigten die wachsenden und kontinuierlich anhaltenden Beliebtheitswerte von Verteidigungsminister Boris Pistorius. Der hatte sich als loyaler Parteikollege von Scholz nicht in dieses Amt gedrängt, nahm die Herausforderung aber sichtbar ernster. Sein Charakter und die einschneidenden Erfahrungen, die er angesichts der Massaker von Butscha und Irpin in der Ukraine und im Kontakt mit den Menschen vor Ort machte, ließen ihn eine Haltung und Sprache finden, mit der die Menschen umgehen konnten. Er nährte keine Illusionen, dass die Zeitenwende nicht aller Leben einschneidend verändern würde, und sprach das unverblümt aus.
Scholz Schwäche konnte bei der Bundestagswahl der lange Zeit glücklose und aus der Politik zurückgezogene Friedrich Merz nutzen. Mit ihm sehen konservative und rechtskonservative Kreise in der CDU/CSU bis hin zu Vertretern der Werte-Union die Chance zu einer Generalabrechnung mit der aus ihrer Sicht „sozialdemokratischen“ Kanzlerin Angela Merkel, für ein Ende ihrer Ära. Für den Beginn eines neuen konservativen Zeitalters. Merkel selbst hatte ihr Amt im Herbst 2005 in einer großen Koalition mit den Sozialdemokraten angetreten. Im September des gleichen Jahres kam es zur formalen Vereinbarung über den Bau und die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 1. Diese Entscheidung trug sie mit, erklärte aber mehrfach, darauf zu achten, dass notwendige Energielieferungen aus Russland nicht machtpolitisch missbraucht werden. Sich nicht erpressen zu lassen, mag ein guter Vorsatz gewesen sein, den sie in ihrer praktischen Politik jedoch nicht einlösen konnte. Zu viele Lobbyisten und Einflussgruppen machten ihr Gewicht geltend. Romantische Illusionen über das große freundliche Russland, dass dem wirtschaftlich starken Deutschland die Hand reichen würde, spielten für diese Seilschaften nur eine dekorative Rolle.
Das große Geld lockte, und die zahlreichen Vereinbarungen im Energiesektor nahmen die Züge einer strategischen Korruption an. Eine Korruption, bei der Moskau am längeren Hebel saß, aber gern Geschäftspartner wie Altkanzler Gerhard Schröder ins Boot holte. Der ruinierte damit sein bisheriges Lebenswerk, aber schien sich nicht sonderlich daran zu stören Merkel konnte vieles von dem nicht verborgen bleiben, sie versuchte zu lavieren, stellte sich auf die Seite der Ukraine und war der Auffassung, Putin gegenüber Realistin zu sein. Als Ostdeutsche und nüchterne Naturwissenschaftlerin brachte sie einige Voraussetzungen dafür mit. Naivität darf man ihr nicht unterstellen.
Das Festhalten an einer friedlichen Welt des Multilateralismus
Am 10. Februar 2007 kam im Hotel Bayerischer Hof in München die internationale politische Elite zur jährlichen Münchner Sicherheitskonferenz zusammen. Merkel verkündete als Gastgeberin optimistisch ihre Sicht einer weiterhin weitgehend friedlichen Welt des Multilateralismus: „Gemeinsam mit Russland können wir viel bewegen und können wir viel erreichen“, so die Kanzlerin damals. Nach ihr redete Putin und zeigte in seiner knapp dreiviertelstündigen Rede alles andere als Verständnis für Kooperation und Partnerschaft. Sichtlich erregt führte er sich auf wie ein um seine Rechte gebrachter Zar. Die Politik der USA und die Rolle der NATO erhielten vernichtende Noten. Völlig inakzeptabel sei die Kritik der EU und der USA an den inneren Zuständen in Russland und der russischen Energiepolitik. Putin machte auch vor der OSZE nicht halt, die ein „vulgäres Instrument der äußeren Einmischung sei“. Ausgerechnet die OSZE, welche bis zur Selbstaufgabe um Russland als Partner rang.
Putin stand eine multipolare Weltordnung mit einem wiedererstarkten Russland in führender Rolle vor Augen. Den Weg der Kooperation mit dem Westen hatte er schon damals endgültig verlassen. Als hätte er diesen Rundumschlag nicht zur Kenntnis genommen, erklärte der seinerzeitige SPD-Vorsitzende Kurt Beck als einer der nachfolgenden Redner, die Bundesrepublik müsse die „besondere strategische Partnerschaft mit Russland voranbringen“.
Auf andere Konferenzteilnehmer hatte sich eine kurze Schockstarre gelegt. In der FAZ sorgte man sich anschließend über die schwache westliche Reaktion auf die Rede, während Egon Bahr große Genugtuung zeigte. Endlich seien die Fehler der westlichen und vor allem amerikanischen Politik nach dem Epochenwechsel von 1990/91 angesprochen worden. Als Architekt der deutschen Ost- und Entspannungspolitik sah er sich in seiner Lebensleistung bestätigt.
Putins Kampfansage und die folgenden Schritte – der Georgienkrieg, die Besetzung georgischer Territorien und der wachsende Druck auf die Ukraine – fielen in das „Interregnum“ seiner Herrschaft, die zeitweilige Übergabe des Präsidentenamtes an den langjährigen Vertrauten Dmitrij Medwedjew. Nach zweimaliger Amtszeit als Präsident durfte Putin nicht wieder kandidieren, hatte er sich doch noch nicht per Verfassungsänderung die nahezu lebenslange Herrschaft gesichert. Diese „Interregnumszeit“ hielt bis 2012 an, anschließend zeigte sich Putin imperial-aggressiver als zuvor und hatte nun Medwedjew als Scharfmacher an seiner Seite.
Ukrainer, Georgier und Belarusen, die baltischen Staaten und Polen schlossen aufgrund ihrer langen historischen Erfahrungen einen negativen Ausgang nicht aus. Das Imperium strebte zu alter und neuer Größe, wollte nach Jahren des Zerfalls und der gefühlten Demütigung seine erneute Herrschaft sichern und ausbauen. Die genannten Staaten würden zu den ersten Opfern zählen, wenn es ihnen nicht gelänge, ihre Verankerung im Westen zu sichern und zu verstärken.
Europäischer Theaterdonner
Polen nutzte sein wachsendes internationales Gewicht und versuchte bereits in diesen Jahren, Koalitionen zu schmieden. Konnte Deutschland aufgrund seines Gewichts dabei eine positive Rolle spielen oder würde es weiter den Sonderweg mit Russland wählen? Es war der damalige und spätere polnische Außenminister Radoslaw Sikorski, der Deutschland zu einer Führungsrolle im demokratischen Europa ermutigte. Die Nord-Stream-Abkommen bezeichnete er zugespitzt als eine Neuauflage des Molotow-Ribbentrop-Paktes. Die Ukraine hatte mit der Revolution in Orange 2004/5 bereits einen erfolgreichen Versuch unternommen, sich der drohenden Umarmung Moskaus zu entziehen. Sie ging unter einer Führung zerstrittener Reformkräfte ihrer nächsten großen Bewährungsprobe entgegen.
Deutsche und europäische Politiker*innen fanden in den Folgejahren nie zu einer konsequenten Haltung gegenüber einer immer aggressiveren russischen Machtpolitik. Statt entschiedenen Reaktionen, wirksamen wirtschaftlichen und politischen Sanktionen, der Forderung nach einem Stopp der Pipeline-Pläne und einer Erhöhung der eigenen Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten, blieb es in der Regel bei Theaterdonner. Moskau lebte von der Zerstrittenheit der Europäer, die es zu Recht als Schwäche deutete. Unter dem Schutz der militärischen Stärke der USA ließ sich in Deutschland und den Ländern Westeuropas die Friedensdividende gut verzehren. Schließlich hatten die USA im Ersten und im Zweiten Weltkrieg die Europäer zweimal gerettet. Sie würden sich unter wechselnden Präsidenten weiter als Schutzmacht bewähren.
An dieser Haltung des Zurücklehnens änderte auch das Jahr 2014 nicht wirklich etwas. Mit der Erklärung, in der Ukraine herrsche Bürgerkrieg und Russland sei keine Kriegspartei, gaben sich deutsche und westeuropäische Politiker*innen mehrheitlich zufrieden. Sie ignorierten, wie auch Merkel selbst, die soliden gegenteiligen Informationen, über die sie verfügten, darunter Analysen, Memoranden und Dossiers von Diplomat*innen, Politiker*innen und aus Geheimdienstkreisen. Die militärpolitischen Berater der Bundeskanzlerin, in Insiderkreisen „Merkels Generäle“ genannt, wirkten, aus welchen Gründen auch immer, ausgesprochen russlandfreundlich.
Moskau als neues Rom
Putin verwandelte sich zeitgleich zum Historiker und entwarf eine eigene Geschichtsdoktrin, welche die Grenzen der russischen Welt immer weiter ausdehnte. Moskau wurde zum neuen Rom. Nach innen verschoben sich die Grenzen vom autoritären Staat zur totalitären Diktatur. In späteren Einschätzungen verklärte Angela Merkel ihre Haltung in diesen Jahren als Zeitgewinn für die Ukraine, um sich auf den umfassenden Angriff vorzubereiten und die eigene Verteidigungsfähigkeit zu stärken – bei der sich Deutschland allerdings kaum engagierte.
Das Minsker Abkommen (Minsk II) vom 12. Februar 2015, bei dem Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident François Hollande sowie der ukrainische Präsident Petro Poroschenko und der russische Präsident Putin (die „Normandie-4-Staaten“) am Verhandlungstisch in Minsk saßen, endete in einem völligen Desaster. Ein Grund dafür war die unklare Reihenfolge der Durchsetzung der jeweiligen Beschlüsse von Minsk I und Minsk II. Die Berichte der OSZE, die zur Überwachung des Waffenstillstands an der Kontaktlinie zu den Separatistengebieten eingesetzt war, dokumentierten minutiös die vielen russischen Verletzungen der Abkommen.
Das Existenzrecht der Ukraine lange Zeit nicht ernstgenommen
Doch ungeachtet dessen konnte sich Russland im Normandie-Format zum Vermittler erklären und leugnete seine Kriegsbeteiligung, während den unterlegenen Ukrainern ein Zugeständnis nach dem anderen abverlangt werden sollte. Mit der „Steinmeier-Formel“, die schon 2016 formuliert wurde, sollte die ukrainische Seite einem Friedensprozess zustimmen, der sie großer Teile ihrer Souveränität beraubt hätte. Geplant waren Wahlen unter Aufsicht der OSZE und ein anschließender Sonderstatus der besetzten Gebiete in der Region Donezk und Luhansk.
Frank-Walter Steinmeier, einer der engsten Vertrauten Gerhard Schröders, war in dieser Zeit Außenminister der Großen Koalition – und immer darum bemüht, russlandfreundlichere Akzente als Angela Merkel zu setzen. In seiner Zeit als Außenminister warnte er vor Kriegsgeheul und Säbelrasseln gegenüber Putin. An dieser Haltung änderte sich nichts Wesentliches, als Steinmeier 2017 Bundespräsident wurde. Seine Einstellung zu Russland reduzierte er nach der russischen Vollinvasion auf Irrtümer. Anstatt klarer Worte, die seiner Verantwortung als Bundespräsident und der Dramatik der Zeit angestanden hätten, verlor er sich in Sonntagsreden, was der Schriftsteller Marko Martin im November 2024 bei einer Veranstaltung im Bundespräsdialamt undiplomatisch heftig kritisierte.
Im Norden und Osten Europas ist man seit langer Zeit bereit, die nächsten Schritte gemeinsamer Verteidigung zu gehen und die dafür notwendigen Lasten zu tragen. Finnland und Schweden traten der NATO bei, die baltischen Staaten rückten als Frontstaaten zu Russland näher zusammen, und in Polen setzten sich die Kräfte des Fortschritts bei den Wahlen im Oktober 2023 durch. Mit Donald Tusk rückte dort ein europaerfahrener liberalkonservativer Politiker an die Spitze einer Koalition, deren Beteiligte versuchen, das Land vom europäischen Außenseiter wieder zum Gestaltungsfaktor europäischer Einigung und Handlungsfähigkeit zu machen. Es ist ein Angebot an Deutschland, Polen endlich als Partner auf Augenhöhe zu sehen und nicht nur das wachsende ökonomische Gewicht des Nachbarlandes anzuerkennen, sondern in politischer und sicherheitspolitischer Kooperation einem drohenden Zerfall des westlichen Bündnisses entgegenzutreten.
Der Wahlsieg Donald Trumps und seine Folgen schlugen mitten in die turbulente Zeit deutscher Regierungsbildung. Wer die Entwicklung und den Charakter von Donald Trump, seine erste Präsidentschaft und die Rückkehr an die Macht als Präsident verstehen will, sollte zu den Büchern des Journalisten Bob Woodward greifen. Seit den 1970er-Jahren begleitet der als Chronist die Höhen und Tiefen aufeinanderfolgender amerikanischer Präsidentschaften. Trump und dessen wechselnden Phasen widmete er mehrere Bücher. Das jüngste, „Krieg“, schließt unmittelbar vor dem Wahlsieg Trumps im November 2024 ab. Woodward hoffte vergebens auf einen Sieg von Kamala Harris, war aber Realist genug, ihre Fehler und die Probleme Joe Bidens deutlich zu sehen und zu benennen.
Zwischen November 2024 und Trumps Amtseinführung im Januar 2025 gab es eine Phase tiefer Verunsicherung, bis sich ab Februar das Schlimmste bestätigte. Im Februar 2025 wurde die Münchner Sicherheitskonferenz zum Schauplatz aktueller Geschichte. Dort pöbelte der neue US-Vizepräsident James David „JD“ Vance in unerträglicher Art herum, behandelte die europäischen Diplomaten und Politiker, wie lausige Schüler, verteilte Aufgabenzettel, die ausgefüllt werden sollten. Im Kern war es eine Vorwegnahme der Szene, die sich wenige Tage später im Oval Office abspielen sollte, als der ukrainische Präsident von Sonnenkönig Trump und seiner Entourage behandelt wurde wie ein ungehorsamer Schuljunge.
In München sprach Olaf Scholz als noch amtierender Bundeskanzler von ungehörigem Betragen, als ginge es hier um schlechte Tischsitten. Boris Pistorius hingegen legte sein Redemanuskript spontan beiseite, griff Vance hart an und verbat sich solche Auftritte. Europa werde die Kraft finden, seine Hausaufgaben zu machen – auch ohne, aber besser mit den USA. Kurz nach diesen Ereignissen berief Pistoriuseine Krisensitzung der höchsten deutschen Generäle ein.
Wenige Chamberlains und kaum ein Churchill
Der ukrainische Botschafter Oleksij Makejew war ein aufmerksamer Teilnehmer der gesamten Konferenz. Im Unterschied zu seinem Vorgänger auf dem Botschafterposten ist er ein Diplomat der eher leisen Töne. Er habe auf der Konferenz viel Bewegung, wenig Chamberlains, aber auch kaum einen Churchill erlebt, so der Botschafter. Weder Trump noch Putin sind für ihn wirkliche Strategen. Beide seien in ihrer Machtbesessenheit vereint und versuchten, miteinander zu spielen. Als Spieler sei jedoch Putin seinem amerikanischen Gegner haushoch überlegen.
Das war auch der Kern der Botschaft, die Außenminister a.D. Joschka Fischer mitbrachte, als er am 14. März in der überfüllten Berliner Urania sein neues Buch „Die Kriege der Gegenwart und der Beginn einer neuen Weltordnung“ vorstellte. Es gleicht einer schonungslosen Zustandsbeschreibung der Gegenwart, weit über Deutschland, die Ukraine und Europa hinaus. Der Begriff der Geopolitik, immer wieder neu aufgegriffen, erhält hier seine volle Bedeutung. Fischers Buch, so nüchtern es ist, ragt aus der mittlerweile inflationären Menge von Welterklärungsansätzen und philosophischen Abhandlungen über den Umgang mit der Macht hinaus. In den zahllosen Podcasts zum Thema gibt es ohnehin mehr Expert*innen als Zuhörer*innen. Fischer hatte sich in den vergangenen Jahren immer wieder zu Wort gemeldet, so etwa mit dem Diktum, dass in Kriegszeiten nicht Buchhalter mit dem Bedürfnis nach einer ausgeglichenen Haushaltslage obsiegen dürften. Eine Erkenntnis, die jetzt auch die Parteien der Mitte erreicht.
Es dauerte eine Dreiviertelstunde, bis in der Rede Fischers zum ersten Mal das Wort „Klima“ auftauchte. Nicht weil der grüne Ex-Außenminister die ökologische Dimension unterschlug, sondern weil für ihn jetzt andere Sorgen an die erste Stelle träten. Dann wandte er sich direkt an das Publikum und wurde beschwörend: „Sie müssen Verantwortung übernehmen, Sie alle“ – Wer, wir?!", schien es aus dem vorwiegend grauhaarigen Publikum zurückzufragen. „Ja Sie, jeder einzelne von Ihnen. Das wird verdammt hart, und manche schöne Illusion wird dabei auf der Strecke bleiben“.
Donald Trump werde gewiss keinen Erfolg haben, aber mit ihm sei ein Einbruch verbunden, der ihn als Transatlantiker am meisten träfe. Ganze Kapitel von Fischers Buch sind Russland, der Ukraine, den Vereinigten Staaten und China gewidmet. Ohne China und Fernost gehe es nicht, wenn man in geopolitischen Dimensionen denken will. Angesprochen wurden die damit verbunden Fragen in der deutschen Politik der vergangenen Jahre durchaus immer wieder, es gab realistische Einschätzungen von China- und Fernostexpertinnen, die den Wandel Chinas zu einer aggressiven Diktatur mit totalitären Zügen nach innen detailliert belegten. Von einem normalen Handelspartner oder gar einer Sicherheitspartnerschaft könne man nicht mehr sprechen, seit sich die chinesischen „Wolfskrieger“ durchgesetzt hätten.
Ist Optimismus noch möglich?
Worauf setze ich bei alldem, um den Optimismus nicht völlig zu verlieren? Wenn es um Deutschland geht, sehe ich Menschen, die im Bewusstsein eigener Verantwortung über die Grenzen von Parteien und Ideologien zueinander finden. Die, wenn es sein muss, auf Karrierewege verzichten und Ämter und Mandate riskieren, ohne sich von der Politik zu verabschieden. Die einem Politikversagen und dem Entscheiden oder Nichtentscheiden hinter verschlossenen Türen die Forderung nach Offenheit und Transparenz entgegenstellen. Michael Roth und Fritz Felgentreu für die SPD, Roderich Kiesewetter und andere Außenpolitiker für die CDU, Anton Hofreiter für die Grünen, sind hier nur einzelne Beispiele. Sie wurden für ihre Haltung in den eigenen Parteien und Milieus verspottet und ausgegrenzt, als Kriegstreiber und weltferne Moralisten verunglimpft.
Boris Pistorius wurde vom loyalen Parteisoldaten zum Kritiker einer nachgiebigen Politik gegenüber dem Putin-Regime. Er konnte sich in der Konfrontation mit großen Teilen seiner eigenen Partei auf sein Amt als Verteidigungsminister stützen, aber das machte die Auseinandersetzung nicht wirklich leichter. Aber immerhin: er darf nun offensichtlich Verteidigungsminister unter Friedrich Merz bleiben. Ein gutes Omen?
Aus einem ganz anderen Teil der Welt kommen derzeit weitere Botschaften, die etwas Mut machen können. So stand in Denver, Colorado, am Fuße der Rocky Mountains, Mitte März 2025 der 83-jährige Bernie Sanders vor über 30.000 zumeist jungen Zuhörer*innen. Seine Botschaft: „Die ganze Welt schaut zu und will wissen, ob sich das amerikanische Volk gegen den Trumpismus, gegen die Oligarchie und den Autoritarismus wehren wird.“ Sanders startete eine "Kampf der Oligarchie" Tour, zu der am 12. April in Los Angeles sogar 36.000 Menschen strömten. Und er ist nicht mehr die einzige Stimme jenseits des Atlantiks, die diesen wachsenden Widerstand verkörpert und Trump Contra bietet.
Fast zeitleich gewann in Wisconsin unerwartet die Demokratin Susan Crawford die Richterwahl zum Supreme Court, trotz massiver Einmischung und Millionenspenden Elons Musks im Richterwahlkampf. Dazu erklärte sie: „Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich es einmal mit dem reichsten Mann der Welt aufnehmen würde, um in Wisconsin für Gerechtigkeit zu sorgen. Und wir haben gewonnen.“ Und dann folgten städteweise Großdemonstrationen gegen die Demontage der USA, wie sie derzeit betrieben wird, nicht nur durch Trumps Arbeitsplätze und Aktienkurse gefährdende, unberechenbare Zollpolitik. Immerhin machte er unter diesem Druck und auch dem von Parteikolleg*innenen und Unternehmer*innen am 10. April wieder einen teilweisen Rückzieher.
Trump stiehlt Putin die makabre Show
Sind all das kleine Hoffnungsschimmer, dass wenigstens der Weltwirtschaftskrieg von Donald Trump doch noch gebändigt werden könnte? Bitternotwendig wäre es, denn Trump hat neben seiner folgenreichen Beschädigung der Weltwirtschaft noch einen weiteren Schaden verursacht, dessen Ausmaß unübersehbar ist und in der Ukraine unzählige weitere Menschenleben kosten dürfte.
Lapidar gesagt: Trump hat Putin auf fatale Weise die makabre Show gestohlen. Im Schatten von Trumps beunruhigender Dauerschlagzeilenproduktion kann Putin nun ungestört seine Kriegsverbrechen weiterführen, Bombardements ziviler Ziele inbegriffen, wie am Palmsonntag, als in Sumy über 30 Menschen getötet wurden. Das ist die eigentliche schlechte Nachricht im vierten Jahr dieses schrecklichen Angriffskrieges. Er hört nicht auf und lässt nicht nach. Er wird sogar noch schlimmer. Weil unsere Aufmerksamtkeit - und auch meine - sträflich nachlässt. Abgelenkt vom irre wirkenden Donald Trump.
„Angesichts des geopolitischen Epochenbruchs muss Europa umfassende strategische Souveränität entwickeln“ postuliert auf Seite 137 der schwarz-rote Koalitionsvertrag. Schön wär's, wenn die Koalitionäre gerade jetzt in dieser Lage auch verraten würden, wie. Spätestens im Juli 2025 will Friedrich Merz nach Washington reisen, um zu retten, was dann noch zu retten ist?
Im Jahre 2024 schrieb ich hier im Interner Link: Deutschland Archiv, dass das dritte Jahr des Krieges Deutschland und seinen Verbündeten in schneller Folge unbequeme Entscheidungen abverlangen werde. Nunmehr ist 2025 und die Folge unbequemer Entscheidungen reißt nicht ab. Die Weltlage ist durch den realen Angriffskrieg in Europa und Trumps globalen Wirtschaftskrieg weltumspannend durch Unberechenbarkeit und extreme Unbeständigkeit geprägt. Vermeintliche Konstanten wie die europäische Nachkriegsordnung und das Zeitalter kooperativer Globalisierung wurden binnen weniger Wochen und Tage hinweggewischt. Und seriöse Diplomatie? Sie wirkt wie beurlaubt, als habe sie ausgespielt.
Ende März 2025 spielte der 88-jährige Liedermacher Wolf Biermann im Berliner Gorki Theater. Ernüchtert begrüßte er seine Gäste mit dem pessimistischen Satz: „Wir stehen 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und kurz vor dem Dritten.“ Es fällt zunehmend schwerer, ein Optimist zu bleiben. Ich versuche es dennoch.
Zitierweise: Wolfgang Templin, "Die Stunde Europas. Bloß wie?", in: Deutschland Archiv, 16.4.2025, www.bpb.de/561297. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Wolfgang Templin ist Philosoph, Publizist und Sachbuchautor. Zu den Hauptthemen des ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers zählen die DDR-Geschichte, der deutsche Vereinigungsprozess und die Geschichte Osteuropas im 20. Jahrhundert.