Anhaltend wird viel diskutiert und geschrieben über Ostdeutschland. Erklärungen dafür, warum "der Osten anders bleibt“, werden oftmals in der jüngeren Historie gesucht. Die unmittelbare Vorgeschichte Ostdeutschlands reicht über die Transformationsphase der letzten dreieinhalb Jahrzehnte bis in die DDR-Zeit zurück. Vor diesem Hintergrund widmet sich mein Beitrag der Frage, wie eigentlich die „letzte DDR-Generation“, die sogenannten Wendekinder, auf die Transformation Ostdeutschlands seit der Vereinigung blickt, soweit sich diese Generation eindeutig definieren lässt. Wo sehen „Wendekinder“ Licht und wo Schatten? Und unterscheiden sie sich in ihrer Wahrnehmung von anderen ostdeutschen Kohorten?
Wendekinder als Begriff
Einer Begriffsklärung ist zunächst der Hinweis voranzustellen, dass das Kompositum „Wendekinder“ durchaus umstritten ist. Zum einen ist der Wortteil „Kinder“ nicht ganz korrekt, wenn darunter die in der DDR zwischen 1975 und 1985 Geborenen verstanden werden. Teilweise waren sie zur Zeit der Friedlichen Revolution und der deutsch-deutschen Vereinigung noch Kinder, teilweise aber auch schon Jugendliche. Und dennoch versinnbildlicht „Kinder“ das junge Alter der Betreffenden zur Zeit des Umbruchs und verweist indirekt bereits darauf, dass diese Gruppe sowohl in der späten DDR als auch in der „Nachwende“-Zeit ihre Sozialisation erfahren hat.
Zum anderen löst der Wortteil „Wende“ mitunter Kopfschütteln aus – dies vornehmlich bei jenen, die daran erinnern, dass es Egon Krenz war, der am 18. Oktober 1989 anlässlich seiner Wahl zum SED-Generalsekretär verkündete, in der DDR „eine Wende einleiten“ zu wollen. Darin wird das Bestreben von Krenz gesehen, sich und die SED rhetorisch und politisch an die Spitze der revolutionären Umwälzungen in der DDR zu setzen. Allerdings kursierte der Begriff „Wende“ schon kurz zuvor zur Beschreibung der Vorgänge in der DDR, beispielsweise auf einem Titel des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Folglich ginge man Egon Krenz mit seinem Versuch der Vereinnahmung nachträglich auf den Leim, wenn man den Begriff „Wende“, „der für die meisten Ostdeutschen den fundamentalen Wandel des Herbstes 1989 am besten einfängt“, vermeidet.
Etwas weniger aufgeladen ist der Begriff „Generation Einheit“, der die Kohorte der insgesamt 2,4 Millionen Menschen beschreibt, die die Friedliche Revolution in der DDR als 4- bis 14-Jährige erlebt haben. Als Analysebegriff reiht er sich in die Generationenmodelle zur DDR ein. Zunächst nennt die Literatur die DDR-Gründergeneration: die proletarischen Klassenkämpfer aus der Zeit der Weimarer Republik, aus der sich die DDR-Führung bis zu ihrem Ende hauptsächlich rekrutierte. Weiterhin wird die Aufbaugeneration genannt, diese umfasst jene Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsen waren, den Staat DDR mit aufbauten und ihm bisweilen einen sozialen Aufstieg verdankten.
Es folgten die Generationen, die in der DDR geboren wurden und dementsprechend kein anderes Gesellschaftssystem mehr erlebt hatten. Deren Angehörige konnten entweder ideologisch relativ fest ins DDR-System integriert sein oder ihm teilnahmslos bis distanziert gegenüberstehen. Und schließlich folgte die Generation Einheit: Noch in der DDR geboren, erlebte sie im Kindes- und Jugendalter die Wende und die deutsche Einheit. Somit wurden die Wendekinder zu den jüngsten Miterlebenden der Transformation Ostdeutschlands von einer sozialistischen Diktatur zu einer Marktwirtschaft und Demokratie, bei der das bundesdeutsche Ordnungs- und Institutionengefüge auf den ostdeutschen Landesteil übertragen wurde.
Rückblick aufs Zusammenwachsen
Im Folgenden soll den Stimmungen und Einschätzungen ebenjener Generation Einheit zu den ostdeutschen Entwicklungen seit dem Umbruch 1989/90 nachgespürt werden. Dafür wurde eine vom Bundespresseamt in Auftrag gegebene und für Gesamtdeutschland repräsentative Befragung zum Thema „30 Jahre Mauerfall“ aus dem Sommer 2019 für den vorliegenden Beitrag noch einmal neu ausgewertet. Dass die Befragungsdaten bereits aus 2019 stammen, hat den Vorteil, dass damit Einflusseffekte der als krisenhaft wahrgenommenen Corona-Pandemie und deren Folgezeit auf die Wahrnehmungsmuster und Zufriedenheiten ausgeschaltet bleiben. In der hier vorgenommenen Sekundäranalyse des Datensatzes werden die Wendekinder anhand soziodemografischer Merkmale als eigene Gruppe identifiziert: Innerhalb der 941 „originären Ostdeutschen“ (Befragte, die zum Zeitpunkt der Wende in der DDR lebten) sind die Wendekinder im Datensatz mit einer Fallzahl von 108 vertreten. Damit lässt sich ein durchaus aussagekräftiges Stimmungsbild der Generation Einheit zu Transformation und Zusammenwachsen zeichnen.
Ob sich Ost- und Westdeutsche seit der Vereinigung nähergekommen sind, wird vom überwiegenden Teil der befragten Wendekinder bejaht: 43 Prozent meinen, die Menschen in Ost und West seien sich „viel nähergekommen“, und 46 Prozent geben an, dass sie sich „etwas nähergekommen“ seien (Abbildung 1). Solche „Ostdeutschland/Westdeutschland“-Fragen gehören gewissermaßen zum Standardrepertoire jener Erhebungen, die sich den Entwicklungen seit der Einheit widmen. Zumeist werden anschließend die erhobenen Einstellungsmuster der Ostdeutschen und der Westdeutschen in direkter Gegenüberstellung ausgewertet.
Auch um das damit insinuierte Trennende nicht zu reproduzieren, sollen hier die Bewertungen der Ostdeutschen und der Wendekinder nicht in Kontrast gesetzt werden zu den westdeutschen Einschätzungen in der Erhebung. Vielmehr sollen die Wahrnehmungen der Generation Einheit mit denen in Gesamtostdeutschland abgeglichen werden, da trotz des unterschiedlichen Alters ähnliche soziale Hintergründe sowie Erfahrungsbestände existieren. Dabei zeigt sich, dass in Ostdeutschland insgesamt das Zusammenwachsen zwischen den Menschen beider Landesteile nüchterner als von den Wendekindern allein bewertet wird.
Abbildung 1: „Was meinen Sie, sind sich Ost- und Westdeutsche seit der Wiedervereinigung...?“ (in Prozent; Befragung aus 2019)
Abbildung 1: „Was meinen Sie, sind sich Ost- und Westdeutsche seit der Wiedervereinigung viel, etwas oder nicht nähergekommen?“ (in Prozent; Befragung aus 2019)
Einschätzung als „Bürger zweiter Klasse“?
Gleichfalls hat der direkte Vergleich mit den Lebensbedingungen in Westdeutschland eine mehr als 30-jährige Umfragetradition, und dies mitunter mit sprachlicher Zuspitzung. Bereits 1990 wurde etwa in Ostdeutschland gefragt, ob es künftig „ein Landesteil mit Deutschen zweiter Klasse“ sein werde – zwei Drittel hielten das damals für (sehr) wahrscheinlich. In der „30 Jahre Mauerfall“-Erhebung trifft für 58 Prozent der Ostdeutschen die Aussage eher zu, die Ostdeutschen seien „nach wie vor Bürger zweiter Klasse“. Dass die Ostdeutschen an die Zuschreibung „Bürger zweiter Klasse“ schon gewohnt sind, führt womöglich beim Beantworten dieser – obendrein mit dem Zusatz „nach wie vor“ etwas suggestiv formulierten – Frage zu einem selbstverstärkenden Effekt.
Sich als Bürgerin oder Bürger zweiter Klasse zu empfinden, wird jedoch wesentlich stärker durch die aktuellen Lebensbedingungen befördert. Hierbei ist hauptsächlich das niedrigere Einkommen im Osten zu nennen, welches kaufkraftbereinigt im Jahr 2022 bei rund 12 Prozent unter dem durchschnittlichen verfügbaren Einkommen im Westen Deutschlands lag. Die geringeren Arbeitseinkommen gehen primär auf die nach der Deindustrialisierung der 1990er-Jahre eher klein- und mittelständisch geprägte Wirtschaftsstruktur und die damit einhergehende niedrigere Bruttowertschöpfung sowie auf die geringere Tarifbindung in den ostdeutschen Bundesländern zurück.
Das Gefühl, Bürgerin beziehungsweise Bürger zweiter Klasse zu sein, wird auch von medialen und gesellschaftlich produzierten Abbildern und Klischees über Ostdeutsche transportiert. Dass es „nie was Tolles“ sei, das ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen mit Ostdeutschland assoziierten, beklagt etwa eine ostdeutsche Frau, Jahrgang 1976, im Rahmen einer Interview-Studie. „Also es ist nie Frau, Frauenbewegung oder so. Nö, es ist immer irgendwas Beklopptes.“ Solche Erfahrungen, wie auch die eines Mitte der 1970er-Jahre in der DDR Geborenen, der sich beim Eintritt in ein westdeutsches Arbeitskollegium direkt als „Mensch zweiter Klasse“ empfand, dem nun „erstma richtig Arbeiten“ beigebracht würde, sind nicht zwingend verallgemeinerbar. Jedoch spiegeln sie exemplarisch Erfahrungen, Empfindungen und Verletzungen etlicher Ostdeutscher wider, die zugleich oftmals das Gefühl haben, ihnen werde von westdeutscher Seite erklärt, wie ihr Leben in der SED-Diktatur ausgesehen habe.
Zudem wirken die sozioökonomischen Entbehrungen der Transformationsjahre noch nach: als viele Ostdeutsche die Entwertung ihrer Erwerbsbiografien direkt spürten aufgrund von Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzwechsel. In ihrer Spitzenzeit, von 1997 bis 2006, lag die offizielle Arbeitslosenquote in Ostdeutschland bei 20 Prozent; die Arbeitslosenquote der 15- bis 25-Jährigen in Ostdeutschland war zumeist nur zwei bis vier Prozentpunkte niedriger. Genau in dieser Phase wurden die Wendekinder nach und nach mit der Ausbildung oder dem Studium fertig und traten in den Arbeitsmarkt ein. In einer krisenhaften Zeit erlebten demnach viele von ihnen den Punkt im Leben, an dem man sich zunehmend als erwachsene Person in der Gesellschaft verortet und die Berufswelt zu einer bestimmenden Sozialisationsinstanz wird. Viele junge Menschen entzogen sich der Situation in Ostdeutschland durch Umzug in die westdeutschen Bundesländer. Dass „man in den ostdeutschen Bundesländern wenig bis gar keine Chance [hatte,] eine Festanstellung zu bekommen“ – so fasste beispielsweise ein junger Ostdeutscher im Rahmen eines Interview-Projekts seine Motive zur Abwanderung in den Westen zusammen. Vor allem gut ausgebildete Junge und hierunter insbesondere Frauen trugen zu der größeren Wanderungswelle von 1999 bis 2004 bei, als pro Jahr rund 160.000 Menschen den Osten verließen. In den drei Jahrzehnten nach dem Mauerfall wanderte insgesamt mehr als ein Viertel der 18- bis 30-jährigen Ostdeutschen in den Westen ab.
Die jungen Menschen waren oftmals nicht nur ungebundener und damit flexibler, sie hatten vor allem mit Blick auf die Arbeitsmarktsituation mehr Zeit als die älteren Kohorten, sich auf die neuen Gegebenheiten in den 1990er-Jahren einzustellen und diese anzunehmen. „Vor allem das Durchleben eines Systemwandels, dieses ‚muddling through‘ der Umbruchsjahre“, ist nach Jeannette Gusko ein charakterbildendes Merkmal. „Wendekinder haben in sehr kurzer Zeit zunächst erlernte Verhaltensweisen, Codes und den Habitus aus der DDR größtenteils abgelegt und um die Regeln, Werte und Normen der vereinten Bundesrepublik ergänzt. Wir taten dies in Abwesenheit von Autoritäten wie Eltern, Lehrern oder Politiker*innen, die Orientierung bieten konnten. Wir sind Systemwandlerinnen und Systemwandler, die wissen, wie es sich im Dazwischen anfühlt.“ Zugleich herrschte bei vielen Jüngeren das Gefühl vor, den Eltern in der Transformationszeit „in vielem irgendwie voraus zu sein“, wie Jana Hensel es beschrieb. Insofern mag ihr pragmatischerer Umgang mit dem Systemumbruch, dieses „Besser-klar-Kommen“, einen Einfluss darauf haben, dass sich die Wendekinder heute seltener als Bürger und Bürgerinnen zweiter Klasse begreifen als die Älteren (Abbildung 2):
Abbildung 2: Trifft diese Aussage Ihrer Meinung nach eher zu oder eher nicht: „Die Ostdeutschen sind nach wie vor Bürger zweiter Klasse.“ (in Prozent; Befragung aus 2019)
Abbildung 2: Trifft diese Aussage Ihrer Meinung nach eher zu oder eher nicht: „Die Ostdeutschen sind nach wie vor Bürger zweiter Klasse“? (in Prozent; Befragung aus 2019)
Allerdings scheint das Gefühl, „zweite Klasse“ zu sein, sich nicht einfach mit der Zeit „auszuwachsen“, denn unter jungen, nach 1985 geborenen Ostdeutschen nimmt diese Wahrnehmung nicht weiter ab. Zwar reichen die – in Abbildung 2 aufbereiteten – Befragungsdaten noch nicht aus, um hieraus Trendaussagen zu der Frage zu generieren, ob womöglich das Gefühl der Unterprivilegierung unter den Jüngeren wieder zunimmt. Aber auch eine andere aktuelle Untersuchung sieht erste Anzeichen dafür, dass innerhalb der ostdeutschen Nachwendegeneration das „Ostbewusstsein“ und wahrgenommene Differenzen mit Westdeutschen nicht verblassen, sondern sich verfestigen.
Die den Wendekindern nachfolgenden Kohorten sind offensichtlich weniger „genügsam“. Während die Wendekinder froh und stolz sind, es in den schwierigen Transformationsjahren gepackt zu haben, wollen die Jüngeren heute möglicherweise höher hinaus und erstreben Chancengleichheit mit ihren westdeutschen Altersgenossen. Dabei stoßen sie dann an manche gläserne Decke für Ostdeutsche, wenn es etwa um höhere Posten und Positionen geht. Gerade in Ostdeutschland selbst haben auch in den jüngeren Kohorten Ostdeutsche deutlich geringere Chancen auf höhere Führungspositionen als Westdeutsche. Allgemein spielt das Empfinden, sich als Ostdeutsche nicht ausreichend repräsentiert zu sehen, ob nun politisch oder in ökonomisch und gesellschaftlich wichtigen Positionen, ebenfalls eine Rolle für die wahrgenommene Zurücksetzung.
Einschätzung der Lebensverhältnisse
Geht es um die eigene wirtschaftliche Lage ohne den „Besser/Schlechter-Vergleich“ mit Westdeutschland, schätzen die Wendekinder sowie die Ostdeutschen insgesamt ihre Situation mit übergroßer Mehrheit als gut ein. Der Anteil, der die eigene materielle Situation für schlecht befindet, ist jeweils sehr klein (Abbildung 3):
Abbildung 3: „Wie beurteilen Sie Ihre eigene wirtschaftliche Lage? Ist sie…?“ (in Prozent; Befragung aus 2019)
Abbildung 3: „Wie beurteilen Sie Ihre eigene wirtschaftliche Lage? Ist sie gut, schlecht oder teils gut/teils schlecht…?“ (in Prozent; Befragung aus 2019)
Hieran wird deutlich, dass es sich nicht ausschließen muss, mit den persönlichen Verhältnissen zufrieden zu sein und gleichzeitig das Gefühl zu haben, gegenüber anderen Gruppen ¬– in diesem Fall gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in Westdeutschland – schlechter gestellt zu sein. Schließlich wird die eigene Lage von Menschen nicht allein für sich und absolut, sondern auch in Relation zu anderen wahrgenommen und bewertet.
Werden die derzeitigen Lebensumstände mit denen in der DDR verglichen, herrscht überwiegend die Einschätzung vor, dass es heute „besser als damals“ sei. In ihrer quantitativen Größenordnung unterscheiden sich Wendekinder und die Ostdeutschen insgesamt bei der Beurteilung praktisch nicht. In beiden Gruppen ist daneben jeweils rund ein Fünftel der Meinung, es habe „sich nicht viel geändert“ oder es sei sogar „schlechter als damals“ (Abbildung 4). Es ließe sich nur mutmaßen, welche exakten Motiv- und Erfahrungslagen hinter dem jeweiligen Antwortverhalten der einzelnen Befragten stehen. Offensichtlich werden dabei die individuellen Gewinne und Verluste seit 1989/90 bis heute miteinander „verrechnet“. Nur schlagwortartig seien in sozioökonomischer Hinsicht die immensen Wohlstands- und Konsumgewinne bei gleichzeitiger Zunahme von sozialer Ungleichheit und Abnahme von sozialer Sicherheit genannt. Dem Verlust an Sicherheiten stehen im politischen und gesellschaftlichen Bereich der Gewinn fundamentaler Freiheits- und Bürgerrechte nach dem Systemumbruch gegenüber.
Abbildung 4: „Wenn Sie einmal das Leben früher in der DDR mit heute vergleichen, wie ist das ganz allgemein: Ist das Leben in den neuen Bundesländern für die meisten Menschen heute...?“ (in Prozent; Befragung aus 2019)
Abbildung 4: „Wenn Sie einmal das Leben früher in der DDR mit heute vergleichen, wie ist das ganz allgemein: Ist das Leben in den neuen Bundesländern für die meisten Menschen heute besser oder schlechter als damals oder hat sich nicht viel verändert?“ (in Prozent; Befragung aus 2019)
Insofern lässt es aufhorchen, wenn ein Viertel der befragten Wendekinder und 29 Prozent der befragten Ostdeutschen der Meinung sind, die politischen Verhältnisse hätten sich „nicht viel geändert“ oder seien sogar „schlechter als damals“ in der SED-Diktatur (Abbildung 5). In erster Linie dürfte hinter der negativen Bewertung die Wahrnehmung stehen, vom heutigen politischen System nicht ausreichend repräsentiert zu werden und Gehör zu finden. Ob dies jedoch der einzige Grund ist, warum breite Kreise Ostdeutschlands einer rechtspopulistischen und in Teilen rechtsextremen Partei die Stimme geben, ist zweifelhaft. Während für die Alternative für Deutschland (AfD) zum einen das Verächtlichmachen des politischen Systems zum Markenkern gehört, ist sie zum anderen bestrebt, ostdeutsche Unzufriedenheiten mit den Entwicklungen seit der Vereinigung für sich politisch fruchtbar zu machen; der „ostdeutsche Geist ist mittlerweile zum Markenkern der Partei geworden“.
Dies findet seinen Ausdruck nicht zuletzt in medienwirksamen und speziell das ostdeutsche Sentiment ansprechenden Wahlkampfaktionen. So versucht die AfD in ostdeutschen Landtagswahlen, den Slogan „Wir sind das Volk!“ von 1989 zu vereinnahmen, sie plakatiert den Imperativ „Vollende die Wende“ oder ihre westdeutschen Spitzenkandidaten posieren auf Mopeds der DDR-Marke Simson, um „sich als authentische, einzig legitime Vertreterin ostdeutscher Interessen zu inszenieren“.
Abbildung 5: „Und wenn Sie die politischen Verhältnisse früher in der DDR mit heute vergleichen: Sind die politischen Verhältnisse heute...?“ (in Prozent; Befragung aus 2019)
Abbildung 5: „Und wenn Sie die politischen Verhältnisse früher in der DDR mit heute vergleichen: Sind die politischen Verhältnisse heute besser oder schlechter als damals?“ (in Prozent; Befragung aus 2019)
Obwohl sich die Generation Einheit größtenteils zufriedener mit der Transformationszeit zeigt als die Gesamtheit der Ostdeutschen wie sie auch die heutigen politischen Verhältnisse etwas besser bewertet, neigt sie politisch öfter der AfD zu. Schon bei der Bundestagswahl 2021 gaben die – fast genau der Generation Einheit entsprechenden – Geburtsjahrgänge von 1977 bis 1986 mit 28 Prozent der AfD zum Teil deutlich häufiger ihre Stimme als die anderen Alterskohorten (Abbildung 6). Inwieweit Teile der Wendekinder damit an ihre rechtsradikalen Einstellungsmuster anknüpfen, die nach 1989/90 offen zutage traten, als vielerorts in Ostdeutschland „national befreite Zonen“ ausgerufen wurden und es regelmäßig zu rechten Gewalttaten kam, ist von den Geschichts- und Sozialwissenschaften noch zu klären.
Abbildung 6: AfD-Zweitstimmenanteile nach Geburtsjahrgängen in Ostdeutschland (ohne Berlin) bei der Bundestagswahl 2021 (in Prozent)
Abbildung 6: AfD-Zweitstimmenanteile nach Geburtsjahrgängen in Ostdeutschland (ohne Berlin) bei der Bundestagswahl 2021 (in Prozent). Die vergleichbaren Daten nach der Bundestagswahl 2025 lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor.
Schlussbemerkungen
Dass es innerhalb der Transformation Ostdeutschlands sowohl Licht als auch Schatten gab und gibt, spiegelt sich gleichsam in der generellen Einschätzung der Befragten, wie die Vereinigung in toto zu beurteilen ist. Die Ostdeutschen insgesamt und darunter auch die Wendekinder beantworten diese Frage in ihrer Mehrheit mit einem vielsagenden „teils/teils“, was ihre Ambivalenz zum Ausdruck bringt (Abbildung 7). Daneben bewerten mehr Menschen die Vereinigung als „gelungen“ denn als „nicht gelungen“. Die Angehörigen der Generation Einheit zeigen sich bei dieser Frage wiederum etwas positiver gestimmt als die Ostdeutschen insgesamt, womit sich der Befund in das hier gezeichnete Gesamtbild einpasst. Demnach werden wichtige Aspekte der ostdeutschen Transformation von den Wendekindern in der Rückschau etwas besser beurteilt als von den Menschen in Ostdeutschland insgesamt – wenngleich eher negative Einschätzungen auch innerhalb der Generation Einheit nicht zu übersehen sind:
Abbildung 7: „Was meinen Sie, ist die Wiedervereinigung im Großen und Ganzen...?“ (in Prozent; Befragung aus 2019)
Abbildung 7: „Was meinen Sie, ist die Wiedervereinigung im Großen und Ganzen gelungen oder nicht gelungen?“ (in Prozent; Befragung aus 2019)
Wie sich die Einstellungsmuster unter den nachfolgenden „ostsozialisierten“ Generationen fortentwickeln, wird sich dabei erst noch zeigen. Für die historische und sozialwissenschaftliche Forschung bietet auch diese Frage weitere Anknüpfungspunkte. Die hier vorgestellten Ergebnisse geben bereits Hinweise darauf, dass sich ein spezifisches „Ostbewusstsein“ und die Selbstwahrnehmung als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse nicht einfach „auswachsen“. Zugleich scheinen insbesondere die Wendekinder mit ihrer doppelten Sozialisation und ihren mannigfaltigen Transformationserfahrungen prädestiniert, als kommunikative Brückenbauer in verschiedene geografische Richtungen, politische Lager und soziale Gruppen zu wirken. Die im vorliegenden Beitrag vorgenommene Auswertung von Befragungsdaten zeigt ihr insgesamt eher positiveres Stimmungsbild zum Transformationsprozess. Gleichwohl weist das quantitative Bild, das hier von ostdeutschen Erfahrungen und Wahrnehmungsmustern gezeichnet wurde, auch nachdenklich stimmende Schattierungen auf:
Zitierweise: Christopher Banditt, „Noch immer Bürger zweiter Klasse? Einschätzungen von „Wendekindern“ zur ostdeutschen Transformation seit 1989/90. Eine Datenanalyse", in: Deutschland Archiv, 25.04.2025, Link: www.bpb.de/560997. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der bpb dar. (hk)
Weitere Beitragsvorschläge und Kommentare zu diesem Themenfeld sind willkommen. Schreiben Sie an E-Mail Link: deutschlandarchiv@bpb.de. Thema: "Einheit? Zweiheit? Vielheit?" Ostwestdeutsches - eine Bilanz nach 35 Jahren.
Interner Link: Mehr Osten verstehen. 80 Autoren und Autorinnen über (Ost)Deutschlands Weg. Zwei e-books herausgegeben vom Deutschland Archiv, online seit 3.9.2024.
Christopher Banditt, geb. 1981; studierte an der Universität Potsdam Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Volkswirtschaftslehre. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Qualitätsentwicklung der Universität Potsdam und assoziierter Doktorand am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Transformationsgeschichte Ostdeutschlands.