Leila van Rinsum: Frau Hijarunguru-Kuṱako, was waren die ersten deutschen Wörter, die Sie kannten?
Ngutjiua Hijarunguru-Kuṱako: Als ich in Frankfurt am Main ankam, hörte ich andere Passagiere im Zug deutsch sprechen und fragte mich, woher sie diese Herero-Wörter kennen. Da wurde mir klar, dass wir als Herero einige deutsche Wörter in unsere Umgangssprache aufgenommen haben. Zum Beispiel: Sowieso, Grippe, Nachtisch, Danke. Ich erinnerte mich daran, dass meine Großmutter mir als Kind verboten hat, diese Begriffe zu verwenden. Damals verstand ich nicht, warum. Aber meine Oma hat früher auf einer deutschen Farm gearbeitet und konnte daher etwas Deutsch sprechen und verstand den Ursprung der Wörter.
Als Sie kürzlich auf einer englischsprachigen Veranstaltung sprachen, haben Sie ein auch deutsches Wort verwendet: „Vernichtungsbefehl“.
Die meisten Herero können es aussprechen. Das ist ein Wort, von dem schon die Kinder lernen, dass es die praktische Ausrottung unseres Volkes bedeutet hat. Als der deutsche Befehlshaber Lothar von Trotha den Vernichtungsbefehl erteilte, vergifteten die Deutschen die Wasserbrunnen und trieben die Herero und Nama in die Wüste und weiter nach Botswana. 80 Prozent der Herero wurden getötet und die Hälfte der Nama-Bevölkerung.
Erinnern Sie sich, wann Sie zum ersten Mal vom Genozid gehört haben?
Die Herero-Aktivistin Esther Utjiua Muinjangue, aufgenommen 2019 in der namibischen Stadt Okahandja am Grab des verstorbenen Anführers ihres Stammes, Hosea Kutako. Die seinerzeitige Vorsitzende der Herero-nahen Partei Nudo forderte von der Bundesregierung wegen der kolonialen Gräueltaten der Deutschen eine Entschuldigung und Reparationszahlungen. (© picture-alliance/dpa, Jürgen Bätz)
Die Herero-Aktivistin Esther Utjiua Muinjangue, aufgenommen 2019 in der namibischen Stadt Okahandja am Grab des verstorbenen Anführers ihres Stammes, Hosea Kutako. Die seinerzeitige Vorsitzende der Herero-nahen Partei Nudo forderte von der Bundesregierung wegen der kolonialen Gräueltaten der Deutschen eine Entschuldigung und Reparationszahlungen. (© picture-alliance/dpa, Jürgen Bätz)
Ich war etwa neun, als meine Großmutter begann, mir Geschichten über den Völkermord und die Vergewaltigungen zu erzählen. Sie sprach über die tiefen Narben in unserer Gesellschaft, insbesondere über das Leid und Trauma, das die Frauen durch die Vergewaltigungen durch deutsche Soldaten erlitten haben.
Ein Abkommen soll Wiedergutmachung für den Völkermord an den Herero und Nama regeln, den die Deutschen zwischen 1904 und 1908 in Namibia begangen haben.
Der Prozess läuft seit etwa zehn Jahren. Es gab ein ständiges Hin und Her zwischen der deutschen und der namibischen Regierung. Aber es sieht so aus, als würden sie sich auf den Abschluss des Abkommens zubewegen. Sobald die Regierungen es unterzeichnet haben, muss das namibische Parlament es annehmen. Wir hoffen, dass es dem Parlament nicht vorgelegt wird, bevor unsere Klage gegen die namibische Regierung abgeschlossen ist. Als Herero und Nama haben wir gefordert, an den Verhandlungen beteiligt zu sein. Im Abkommen wird der Völkermord nicht aufgearbeitet. Deutschland bekennt sich nicht dazu, dass es in das Land der Menschen eingedrungen ist und deren Vieh gestohlen, ihre Frauen vergewaltigt und ihre Männer getötet hat.
Weshalb genau verklagen Sie die namibische Regierung?
Die Anwältin und Dozentin Ngutjiua Hijarunguru-Kuṱako arbeitet derzeit an ihrer Dissertation an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie ist die Ur-ur-ur-Enkelin des Herero-Widerstandskämpfers Hosea Kuṱako und wirkte 2024 beim ZDF-Dokumentarfilm „Der Vermessene Mensch“ mit. (© taz / privat)
Die Anwältin und Dozentin Ngutjiua Hijarunguru-Kuṱako arbeitet derzeit an ihrer Dissertation an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie ist die Ur-ur-ur-Enkelin des Herero-Widerstandskämpfers Hosea Kuṱako und wirkte 2024 beim ZDF-Dokumentarfilm „Der Vermessene Mensch“ mit. (© taz / privat)
Wir als Herero und Nama klagen, weil die Regierung es versäumt hat, die betroffenen Gruppen im Sinne der UN-Konvention über die Rechte indigener Völker zu vertreten. Artikel 18 beinhaltet das Recht auf angemessene Vertretung. Sowohl Namibia als auch Deutschland sind dieser Konvention beigetreten. Und sie wurden bereits von UN-Sonderberichterstattern für den Ausschluss der Herero und Nama an dem Verhandlungsformat kritisiert. Sie verhandeln über ein Volk, das nicht mit am Tisch sitzt.
Das ist so, als würden Russland und die USA über einen Friedensvertrag für die Ukraine verhandeln, ohne dass die Ukraine mit am Tisch sitzt. Die Regierung von Namibia hat zwar einzelne Personen als Vertreter der Herero und Nama ernannt. Diese repräsentieren aber nicht unsere nach unseren eigenen Traditionen anerkannten Meinungsbildungs- und Führungsstrukturen.
Deutschland und Namibia bestehen darauf, dass dies eine Angelegenheit zwischen Staaten ist. Aber auch die namibische Regierung hat die Fassung des Abkommens von 2021 kritisiert. Laut der namibischen Präsidentin Netumbo Nandi-Ndaitwah hat Deutschland im vergangenen Jahr hinter den Kulissen mehr Zugeständnisse gemacht. Sie sagte, man habe sich darauf geeinigt, von Völkermord ohne den umstrittenen Beisatz „aus heutiger Sicht“ zu sprechen.
Man braucht keine bestimmte kategorisierte Definition, um zu begreifen, dass der Versuch, einen Stamm zu säubern, in der Tat ein Völkermord ist. Die Ereignisse von 1904 bis 1908 auf diskutable Begriffe in der englischen Sprache zu reduzieren, untergräbt die Schwere des deutschen Verhaltens.
Namibias Präsidentin sagte auch, dass Deutschland zugestimmt habe, den Betrag von 1,1 Milliarden Euro zu erhöhen, der in 30 Jahren als Entwicklungshilfe gezahlt werden soll. Sie hat aber nicht gesagt, wie viel. Wissen Sie mehr?
Ich frage mich, ob man uns mit Geld bewirft, damit die namibische Regierung der Erklärung endlich zustimmt. Ich möchte mich daher nicht auf das Geld fokussieren, da es von der Bedeutung des Themas ablenkt. Es gibt keinen Preis für die Menschen, die ihr Leben verloren haben und vergewaltigt wurden. Das kann man nicht beziffern. Und es geht uns nicht darum, Geld für Entwicklungszwecke zu bekommen. Wir sprechen hier von verlorener Kultur. Wir sprechen von Menschen, die von ihrem Land enteignet wurden und nie wieder auf das Land ihrer Vorfahren zurückkehren können. Etwa 70 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflachen in Privateigentum ist in den Händen europäischer Nachkommen, die oft riesige Viehfarmen haben. Für viele Menschen geht es nicht um Geld. Es geht um Fairness, Gerechtigkeit und Gleichheit.
Wie würde Wiedergutmachung aussehen?
Sie kann keine Entwicklungshilfe im üblichen Verständnis sein. Sie würde auch die Rückgabe von Land an unser Volk bedeuten. Und den Verlust von Vieh ersetzen, das unserem Volk gestohlen wurde. Fur uns Herero und Nama ist die Viehzucht immer noch ein wichtiger Lebensaspekt, wirtschaftlich und kulturell. Als ich für mein Promotionsstudium nach Frankfurt kam, habe ich Vieh verkauft, um hierher zu kommen. Eine Kuh ist bis zu 800 Euro wert. Die Deutschen verstehen diesen Wert vielleicht nicht, aber Vieh ist ein wertvoller Besitz. Sowohl für den Lebensunterhalt als auch für unsere kulturelle Identität. Westliche Gesellschaften interpretieren unsere Sitten und Gebräuche oft falsch. Weil wir in der Wildnis lebten, betrachteten sie uns wie Tiere. Aber wir lebten ein völlig anderes Leben, weil es zu unserer Umwelt und unserer Kultur passte. Der Versuch, Wiedergutmachung zu definieren oder sie nur auf Entwicklungshilfe zu beschränken, damit sie in den Kontext des westlichen Denkens passt, ist keine Wiedergutmachung in unserem Sinne.
Reden wir über Land. Deutschland war Teil der UN-mandatierten
Die neue Regierung Namibias nach der Unabhängigkeit bestand aus den Gemeinschaften, die damals in der Mehrheit waren. Die Zahl der Herero und Nama war durch den Völkermord, der einige Jahre zuvor stattgefunden hatte, reduziert worden. Deshalb wurde eine Landreform nicht auf den Tisch gelegt. Bis heute sind die Herero und Nama marginalisiert.
Beim neuen gemeinsamen Wasserstoffprojekt sagt Deutschland, es ist die Aufgabe Namibias, die Zivilgesellschaft und Gemeinschaften dort miteinzubeziehen. Eine Sorge ist der Ausbau des Hafens für den Wasserstoffexport bei der Haifischinsel, wo die Deutschen das erste Konzentrationslager für die Herero und Nama errichtet haben. Deutschland sagt, der Ausbau wird die Gedenkstätte nicht beeinträchtigen.
Die Stätte trägt die Geschichte dieses Völkermordes in sich. Ich war vor kurzem für einen Dokumentarfilm
In Namibia wurden im November 2024 Wahlen abgehalten. Wird sich mit der neuen Regierung oder dem neuen Parlament etwas ändern, um die Herero und Nama in ihrem Streben nach gerechter Entschädigung zu unterstützen?
Die Swapo-Partei regiert seit 35 Jahren. Wir haben zum ersten Mal eine Präsidentin, die Zusammensetzung des Parlaments hat sich verändert, andere Parteien sind stärker vertreten und es gibt mehr junge Leute, was für Namibia gut ist. Das könnte uns zu Gute kommen, aber es ist ein schmaler Grat.
Glauben Sie, dass es einen Unterschied macht, dass Deutschland bald eine schwarz-rote Regierung hat?
Manche sind der Meinung, das Abkommen in der jetzigen Form ist das Maximum, was wir erreichen konnten. Aber ob die politische Ausrichtung in Deutschland eher rechts oder links ist, hat keinen Einfluss auf unsere Haltung, das für uns Richtige voranzutreiben. In der Geschichte ist unbestritten, was zwischen 1904 und 1908 in Namibia geschehen ist. Die Position Deutschlands könnte sich auf die Geschwindigkeit auswirken, mit der wir vorankommen, aber es wird uns nicht im Geringsten aufhalten.
Wenn das Abkommen in der jetzigen Form verabschiedet wird, was wären dann die nächsten Schritte?
Das Abkommen wäre im Grunde genommen null und nichtig. Für Deutschland bedeutet dies, dass ein Vertrag mit einer Partei geschlossen wird, die nach der UN-Konvention über die Rechte indigener Völker rechtlich nicht zum Abschluss eines solchen Abkommens befugt ist. Das hätte rechtliche Folgen.