Die Not der Menschen im Nachkriegsdeutschland war geprägt von Hunger, Zerstörung und zerrissenen Familien. In West- wie in Ostdeutschland wurden viele Kinder und Jugendliche in Heimen untergebracht. In Westdeutschland blieb die Heimerziehung größtenteils konfessionell bestimmt, während in der DDR eine Entkonfessionalisierung stattfand und die Heime der Jugendhilfe in staatliche Aufsicht übergingen. Eine zunehmende Differenzierung nach „Schwererziehbarkeit“ führte in beiden deutschen Staaten in geschlossenen Einrichtungen nicht selten zu Demütigungen, Diskriminierungen, Erziehungs- und Strafmaßnahmen, die Betroffene nachhaltig schädigten. In den späten 1960er-Jahren kam es im Westen zu einem Modernisierungsschub und langsamen Wandel auf dem Gebiet der Heimunterbringung, der in der DDR sehr viel länger auf sich warten ließ.
Nicht wenige der in Ost- und Westdeutschland in Heimen Aufgewachsenen erfuhren schweres Leid und Unrecht. Traumatisierende Lebens- und Erziehungsverhältnisse prägen ihr Leben oft bis in die Gegenwart. Bund, Länder und Kirchen richteten als Hilfestellung für Betroffene die beiden Fonds "Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975" und "Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990" ein. Sie existierten von 2012 bis 2018 und stellten ergänzende Hilfesysteme dar. Über 40.000 Betroffene nahmen das Angebot an - Hilfen im Wert von 485 Millionen Euro wurden ausgezahlt. Allerdings haben insbesondere viele der in Ostdeutschland untergebrachten Heimkinder zu spät von dem Fonds erfahren oder waren nicht in der Lage, Entschädigungsleistungen zu beantragen. Dabei sind sie besonders intensiv betroffen.
Rund eine halbe Millionen Heimkinder waren im DDR-Heimsystem untergebracht. Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung im Elternhaus waren häufig die Ursache. Aber auch politisches Engagement der Eltern, unangepasstes Verhalten der Kinder und Jugendlichen oder soziale Auffälligkeiten konnten zu einer Heimeinweisung führen. In den Normalkinderheimen, Durchgangsheimen, Spezialkinderheimen und Jugendwerkhöfen wurden sie Opfer von Kollektiverziehung, Umerziehungsmaßnahmen, Gewalt und Demütigung. Auch wenn es einige positive Erfahrungsberichte gibt, hat die Mehrheit der in Einrichtungen der Jugendhilfe untergebrachter Kinder und Jugendlicher traumatische Erfahrungen gemacht und leidet bis heute an den Folgen der Zwangserziehung in den Interner Link: unterschiedlichen Einrichtungen für "Jugendhilfe" in der DDR.
Aufarbeitung im Osten
Schlaflosigkeit, körperliche Gebrechen, posttraumatische Belastungsstörungen und psychische Probleme sind Symptome, an denen viele ehemalige Heimkinder leiden. Auch wenn sie zu einigen wenigen Menschen Vertrauen aufbauen konnten, bleiben sie doch misstrauisch und leben oft mit Einschränkungen. Sei es, dass sie geschlossene Räume nicht ertragen, nur mit dem Rücken zur Wand schlafen können, Gänsehaut bekommen, wenn sie Schlüsselklappern hören oder generell Kontaktschwierigkeiten im Alltag haben oder ständig tiefes Misstrauen anderen gegenüber verspüren. Die intergenerationelle Auswirkung der Heimerziehung wurde bislang kaum beachtet.
Ehepartner, Kinder, Enkel leiden oft mit an den Spätfolgen. Vieles wird (auch ungewollt) weitergegeben, wie die strikte Durchsetzung absoluter Ordnung im Kleiderschrank oder penible, teilweise zwanghafte Sauberkeit. Mitunter hat dies dramatische Auswirkungen auf ganze Familien, wie Interviews mit Familienangehörigen zeigen. Hier erleben ehemalige Heimkinder auch die Ohnmacht, dass sie selbst weitergeben, was ihnen widerfahren ist.
"Warum bin ich so, wie ich bin?"
Regina S.,3 die ihre Jugend in einem Jugendwerkhof der DDR verbracht hat, erzählt von ihren beiden Söhnen, die bei der Bundeswehr arbeiten. Und dass einer, auf die Frage, ob sie dort gut zurecht kämen, sagte: „Naja den Ton kennen wir ja von dir Mutti.“ Sie hätte es immer besser machen wollen und es sei ihr auch geglückt, die Jungs niemals zu schlagen, aber den Ton des Erziehungsheimes, so konstatiert sie traurig, den habe sie weitergegeben. Sie berichtet von der Reaktion ihres Sohnes, als dieser von ihrem Schicksal erfährt: „Er saß dann ganz still da und sagte: Mami, seit ich klein bin denke ich darüber nach. Warum bist du so anders als die anderen, warum bist du so, wie du bist, warum bin ich so, wie ich bin?“
Thomas F., wurde als Fünfjähriger zunächst in ein Normalkinderheim, wegen starken Bettnässens dann in ein Spezialkinderheim eingewiesen. Er erinnert sich noch ganz genau. Es ist ein Samstag, kurz nach dem Frühstück. Er sitzt auf dem Boden und sortiert Unterlagen, als seine fünfjährige Tochter ins Zimmer gestürmt kommt und sich heulend und jaulend auf ihn stürzt. Sie springt auf seinen Rücken, schwingt den Gürtel ihres Bademantels und schreit: „Du bist gefangen Papa“. Heute sieht er wie in Zeitlupe, was damals so schnell ging. Er springt auf, schleudert seine Tochter quer durch den Raum und brüllt los. Seine Frau kommt panisch aus der Küche, seine Tochter schreit wie am Spieß, lässt sich kaum beruhigen. Sie ist in der Zimmerpflanze gelandet, überall liegen die braunen Pflanzgranulatkugeln, abgeknickte Stängel der zimmerhohen Pflanze. Thomas kann sich kaum beruhigen, sieht seine verängstigte Tochter, hört seine Frau schreien, er sei ja nicht ganz dicht im Kopf. Thomas verlässt die Wohnung, er rennt und rennt, kriegt kaum noch Luft, er will nur weg. Stundenlang geht er spazieren und versteht selbst nicht ganz, was da passiert ist.
Erst viele Gespräche später und dank der Geduld und Liebe seiner Frau schafft er es, sich dem zu nähern, was er tief in sich vergraben hat: die Erinnerung an die Erfahrungen seiner Kindheit. Als er im Kinderheim erfahren musste, dass sein Wohlergehen niemanden interessiert. Als er stundenlang Strafe stehen musste, weil er eingenässt hat. Als er im Jugendwerkhof mehrfach „Gruppenkeile“ bekommen hat. Es ist fast nicht auszuhalten für Thomas, sich an die Szenen zu erinnern: als er in den Schlafsaal kommt, wird er von hinten gepackt. Decke übern Kopf und dann hauen alle drauf. Treten, schlagen bis er bewegungslos liegenbleibt. Seiner Frau kommen die Tränen, als sie erzählt, wie streng und kalt Thomas sein kann zu der gemeinsamen Tochter, die er eigentlich so liebt. Wenn sie ihre Spielsachen nicht wegräumt. Sie erzählt von den Schrecken des Trockenwerdens. Von dem Druck, den Thomas der Dreijährigen gemacht hat. Und von seiner Unnachgiebigkeit bei diesem Thema. Jetzt wo sie es versteht, ist sie fassungslos darüber, dass er so ein liebevoller Papa sein kann. Thomas und seine Frau haben etwas geschafft, das Robert nie gelungen ist.
"Du kommst ins Heim, da kriegst du Manieren"
Die Ehe von Robert und Marianne G. scheitert, weil er keinen liebevollen Zugang zu seinen Kindern findet. Marianne, seine Frau, sagt rückblickend, es hätte eine Chance gegeben, wenn er ihr erzählt hätte, warum er so ist. Für sie war schon in der Beziehung immer wieder Streitpunkt, dass er nicht über Gefühle redet, einfach beschließt und macht und sie alleine ist mit ihren Gedanken und Lösungsvorschlägen. Bei einem Besuch im Zoo klopft sein dreijähriger Sohn an die Glasscheibe eines Terrariums. Robert schnauzt ihn an, er soll das lassen. Der Sohn ignoriert den Vater und klopft – völlig fasziniert von der Schlange – noch einmal. Da reißt Robert ihn am Arm herum, schreit „du kommst ins Heim, da kriegst du Manieren“. Es ist eine von vielen Szenen, die Marianne das Herz brechen, wie sie sagt. Sie trennt sich und zieht mit den Kindern zu ihren Eltern in eine andere Stadt. Anfangs gibt es noch Treffen, doch dann verliert sich der Kontakt mehr und mehr.
Die meist jahrelange fehlende Zuwendung gepaart mit der strengen Behandlung und dem in der Heimerziehung eingebläuten Bewusstsein, „nichts wert zu sein“, stellten für die meisten ehemaligen Heimkinder nach der Entlassung eine unüberwindbare Hürde bei der Bewältigung eines normalen Alltages dar. Viele von ihnen können bis heute nicht mit Autoritätspersonen umgehen, tun sich bei Arztbesuchen, Behördengängen etc. schwer, verzichten mitunter auf wichtige Untersuchungen oder Operationen aus Angst, wieder fremder Gewalt ausgeliefert zu sein. Biografien Betroffener zeigen eindrücklich, wie nachhaltig ihr Leben im Kindesalter zerstört wurde und wie weit sie auch jetzt – Jahrzehnte nach dem Erlebten – von einem normalen Leben entfernt sind.
"Uns für immer zu zerbrechen"
Ralf Weber, der als Sechsjähriger in die Fänge der Jugendfürsorge geriet und nach einer Odyssee durch Kinderheime schließlich in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingewiesen wurde, reflektiert seine Erfahrungen als paradigmatisch:
„Fast alle, die das Heimsystem in der DDR durchlaufen haben, fühlen sich bis heute verloren und tragen sich mit Selbstmordgedanken. Für mich ist dies undenkbar, denn das ist es ja, was unsere früheren Erzieher wollten: Uns für immer zu zerbrechen. […] Denn es scheint mir viel belastender und geradezu unerträglich zu sein, wenn ich mich aufgeben und ziel- und willenlos dem Alltag ausliefern würde, genauso wie es damals im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau viel qualvoller gewesen wäre, statt der Schmerzen, die die ständigen Liegestützen verursachten und zu denen uns die Erzieher immer wieder gezwungen haben, die drohenden und wesentlich grausameren Schläge mit dem Schlüsselbund zu ertragen.“
Dieses Zitat weist nicht nur auf die Vielzahl derer hin, die sich verloren fühlen und Selbstmordgedanken haben, sondern zeigt auch den unglaublichen Lebenswillen und die Kraft, die Betroffene aufbringen um „trotzdem“ ihr Leben zu führen.
Nicht nur, dass viele Opfer der Heimerziehung in keiner Familie aufwachsen konnten, die sie bei den wichtigen Schritten vom Kind zum Erwachsenen unterstützte. Sie sind auch immer wieder mit gesellschaftlicher Ablehnung konfrontiert, die sich in Sätzen wie „naja, im Heim waren ja nur die richtig Schlimmen“ manifestiert oder durch skeptische Blicke, ausweichendes Verhalten oder Misstrauen ausdrückt. Das Resultat eines solchen Stigmas besteht darin, dass auch die eigene Aufarbeitung der Heimerfahrung stark behindert ist. Viele der ehemaligen Heimkinder trauen sich bis heute nicht, offen mit ihrer Vergangenheit umzugehen. Oft wissen nicht einmal Familienmitglieder, Ehepartner oder Kinder von ihrer Geschichte – wie bei Konrad Witt, dessen Frau nichts von den sexuellen Übergriffen und der körperlichen Gewalt erfuhr, die ihr Mann als Kind erlitten hatte. Ähnlich ging es Britta M., die erst viele Jahre später von den körperlichen und seelischen Misshandlungen ihres Mannes erfuhr und verstand, weshalb er so schroff reagierte, wenn sie oder eines der Kinder sich ihm liebevoll oder im Spiel von hinten näherte.
Stigmatisierung, Scham und Angst verhindern Aufarbeitung
Viele empfinden die Vergangenheit als Makel und haben Angst vor erneuter Demütigung. Mit fatalen Folgen, wie folgendes Beispiel zeigt: Eine Frau besucht mit ihren beiden Kindern (beide volljährig) das jährliche Heimkindertreffen in Torgau. Auf die Frage der Autorin an die Tochter, seit wann sie von der Vergangenheit ihrer Mutter wisse, antwortet diese: „Seit zwei Stunden. Also sie hat schon erzählt, dass sie mal im Kinderheim war – und von Kissenschlachten und so Quatsch, den sie gemacht haben. Aber von Torgau und wie das wirklich war, erst heute.“ Dieses späte Erzählen hängt mit mehreren Faktoren zusammen.
Betroffenen Kindern und Jugendlichen wurde damals vermittelt – verbal und durch drastische „Erziehungsmaßnahmen“ - sie seien schuld an ihrem Versagen, sie seien nichts wert, sie müssten dankbar sein, dass sich der Staat um sie kümmere. Aus lebenslanger Scham sprachen die Heimkinder daher nicht über ihr vermeintlich eigenes Versagen. Dazu passend wurden sie nach der Entlassung auch von der Mehrheitsgesellschaft empfangen mit Sätzen wie: „Im Heim? Ja da waren ja nur die Asozialen, die Kriminellen, da kam man ja nicht grundlos rein.“ Deshalb verschwiegen viele nach ihrem Heimaufenthalt ihre Vergangenheit, um nicht abgewertet zu werden, und bemühten sich diesen Teil ihrer Vergangenheit zu verdrängen oder auszublenden.
Ehemalige Heimkinder in heutigen Pflegeeinrichtungen
Die Vorstellung, noch einmal Bediensteten und Angestellten einer (staatlichen) Einrichtung ausgeliefert zu sein, ob bei der Essensausgabe, der Körperpflege oder der Medikamentierung ist für viele der durch kindlichen Heimaufenthalt Traumatisierten mit großer innerer Not verbunden. Auch hier stehen die Angst vor Stigmatisierung und Abwertung einer offenen Kommunikation im Wege. So berichtet die Leiterin einer Pflegeeinrichtung davon, dass einige Heimbewohner, wenn sie mit Biografiebögen (die dazu dienen, besser auf die Pflegebedürftigen einzugehen) auf die Betroffenen zugeht oft als Antwort erhält: „Ach, wie bei der Stasi.“
Einer, der große Angst vor einer Heimunterbringung hat, ist Michael M., der als Kind in verschiedenen Pflegeeinrichtungen, zuletzt im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, untergebracht war. Als Opfer sieht er sich nicht und will auch keinesfalls so behandelt werden. Damals, ja damals sei er Opfer gewesen, als er mit sechs Jahren nicht verstand, warum er kein Zuhause mehr haben durfte. Aber dann, irgendwo auf dem Weg zwischen Kinderheim und Geschlossenem Jugendwerkhof hat er eine Entscheidung getroffen: zu leben und nie wieder Opfer zu sein. Diesem Weg ist er ohne wenn und aber gefolgt.
Von außen betrachtet ist es eine Erfolgsstory. Michael ist einer, der trotz verpfuschter Kindheit und mangelnder Fürsorge ein erfolgreicher Mann geworden ist. Er ist freundlich und reflektiert, klar in Aussagen und Antworten, es wirkt fast, als habe er es geschafft, alles hinter sich zu lassen. Viele Jahre weigert er sich, sich um sich selbst zu kümmern und Schwäche zuzulassen. Jetzt hat er etliche Operationen hinter sich, zuletzt die Entfernung zweier Tumore. Und er berichtet von den Schwierigkeiten, die der Krankenhausaufenthalt mit sich brachte. Davon, wie schwer es auszuhalten ist, wenn morgens einfach die Tür aufgeht und eine Schwester das Licht anmacht. Bei ihm weckt das böse Erinnerungen. Und eine Situation eskaliert nur deshalb nicht, weil er mittlerweile in er Aufarbeitung der eigenen Geschichte weit vorangeschritten ist: Eine Krankenschwester in großer Eile herrscht ihn an: Sie stellen sich jetzt mal da an die Wand und sind ruhig. Nüchtern stellt Michael fest: „Hätte ich mich meiner Geschichte nicht schon gestellt, ich hätte sie verprügelt.“
Ausgeliefert sein, Abhängigkeit zu spüren, auf andere angewiesen sein, ist ihm unerträglich. Lieber besinnt er sich auf andere, die Hilfe brauchen. Er selbst, sagt er ohne zu zögern, wird nie wieder ausgeliefert sein und wenn es bei ihm so weit sei, nun, er sei im Besitz eines Waffenscheines. Er sagt das ohne Anklage. Er ist kein vorwurfsvoller Typ, betont immer wieder, dass jeder erwachsene Mensch eine Wahl habe und durch eigene Entscheidungen sein Leben in die Hand nehmen und bestimmen könne. „Die Dämonen, die wird man nicht mehr los, man kann sie nur beherrschen.“
Pflegekräfte als Opfer von Wut und Hilflosigkeit
Michael ist kein Einzelfall, wenn er entschieden sagt, er werde niemals einen Fuß in ein Pflegeheim setzen. Aber natürlich gibt es auch zahlreiche ehemalige Heimkinder, die in Pflegeeinrichtungen untergebracht sind oder in den nächsten Jahren dort aufgenommen werden. Nicht selten eskalieren die Situationen dann in den Einrichtungen: Pflegekräfte werden Opfer ihrer Wut und Hilflosigkeit aus erinnerter Not. Dies berichteten sowohl ehemalige Heimkinder in Interviews, als auch Pflegekräfte und Krankenpfleger mit denen die Autorin im Zusammenhang der Erarbeitung einer Handreichung für schwierige Situationen in der Altenpflege Gespräche führte. So berichtet ein Altenpfleger, er habe sich Mühe gegeben, eine freundliche Beziehung zu Frau K., aufzubauen, sei aber an seine Grenzen gestoßen, als sie ihn unvermittelt mit einem Buch geschlagen habe und als „hässlichen Bastard“ beschimpfte, der ihr nur ihre Sachen stehlen würde, als er ihre Medikamente brachte. Er sagte, dass die Unterstellung, er wolle ihr etwas Böses antun, für ihn schwieriger sei, als eine direkte Abwehr zum Beispiel der Tabletteneinnahme ihrerseits.
Eine Kollegin, die zuvor im Krankenhaus arbeitete, berichtet in ihrer Ausbildung zur Krankenschwester habe sie so viel gelernt über Abwehr- und Stressreaktionen und die Möglichkeiten, Menschen Sicherheit zu vermitteln. Doch mit Frau K. sei sie überfordert. Jede Freundlichkeit würde umgedeutet. Sie erzählt eine für sie besonders eindrückliche Situation: sie bezog das Bett frisch während Frau K. im Badezimmer war. Als diese zurückkehrte schrie sie wie wild herum, warf eine Krücke nach ihr und behauptete, sie würde hier bestohlen und ausgenutzt. Die Pflegerin versicherte, sie habe zuvor angekündigt das Bett zu beziehen und sagte, für sie sei es schlimm, wenn all ihr erlerntes Wissen hier nicht funktioniere. Nach einer kurzen Pause fügt sie an: „Sonst mögen mich immer alle und sagen, ich sei eine tolle Pflegerin.“ Für sie sei der soziale Beruf Berufung und es sei ihr eine große Befriedigung, den alten Menschen etwas zu geben. Frau K. verunsichere sie und stelle sie vor eine große Herausforderung mit der sie nicht gut umgehen könnte.
Verborgene Traumata mit Verhaltensfolgen
Die Physiotherapeutin Lina F. ist seit drei Jahren in einer Seniorenresidenz in Berlin tätig, liefert ein weiteres Beispiel: Es ist ein Nachmittag wie viele andere auch. Lina besucht Frau S. um mit ihr physiotherapeutische Übungen zu absolvieren. Frau S. hätte bereits gute Fortschritte gemacht. Anfangs sei eine Kopfdrehung nur um 90 Grad möglich gewesen, nun habe sie sich auf 100 Grad gesteigert. Wie immer habe sie angefangen, die Nackenmuskulatur auszustreichen, dann in leicht kreisenden Bewegungen den Kopf zu drehen und sich langsam vorzuarbeiten. Als sie aber – ohne explizite vorherige Ankündigung - den Kopf sanft weiterdreht, brüllt Frau S. wie am Spieß, schlägt nach der Physiotherapeutin und schreit so lange, bis Lina den Raum verlässt.
Zwei Schwestern, die wegen des Tumults ins Zimmer eilen finden Frau S. völlig panisch und aufgelöst vor. Die Therapeutin habe versucht, ihr den Hals zu brechen. Wahrscheinlich habe sie Geld erpressen wollen oder ihre Wertsachen. Der Schwester gelingt es, Frau S. zu beruhigen, doch den Verdacht zerstreuen kann sie nicht. Es seien doch gar keine Wertsachen in der Nachttischschublade versucht die Schwester es weiter. Aber Pralinen sagt Frau S. Lina esse keine Pralinen versucht die Schwester es weiter, das wisse sie ganz genau, weil sie immer zusammen Kaffee tränken und Lina immer ablehnte, wenn es Pralinen dazu gäbe. Dann hätte Lina sie wohl eintauschen wollen bei den Schwestern. Die Situation lässt sich nicht klären, Frau S. verweigert alle weiteren Behandlungen durch Lina. Auch die Tochter von Frau S. versucht zu vermitteln, sie kennt Lina nun schon seit zwei Jahren, die sie erfolgreich mit der Mutter arbeitet und bedauert die Situation sehr. Von ihr erfährt Lina, dass Frau S. schlechte Erfahrungen im Kinderheim hatte.
Lina braucht lange, um diese Situation zu verarbeiten. „Schwierige Patienten hat man immer mal, klar. Auch unfreundliche. Aber Frau S. und ich hatten einen guten Kontakt. Und das ja über so lange Zeit. Ich hab´ ihr bei der Hüftsteifheit geholfen und nach einem Armbruch und es lief immer gut. Wenn dann so ganz plötzlich alles kaputt ist, das war ein Schock. Ich habe mich da so erschreckt, fühle mich irgendwie schuldig, obwohl ich doch nichts falsch gemacht hab´, glaub ich.“
Folgen struktureller Zerstörung und fehlender Vertrauensbindung
Damit erhält das Problem eine zweite Dimension. Die durch ihre Heimerfahrungen geprägten Patientinnen und Patienten bringen für das Pflegepersonal potenziell besondere Herausforderungen, mit denen es kompetent umgehen muss. Wenn Pflegerinnen und Pfleger erkennen können, dass die Patientinnen und Patienten und Pflegeheimbewohner nicht aufgrund ihrer Natur oder ihres Alters „schwierig“ sind, kann dies zu einer Entlastung beitragen. Was zunächst als Aufsässigkeit wahrgenommen wird, ist oft die Wiederkehr der Abwehr kindlicher oder jugendlicher Hilflosigkeit im Erziehungsheim. Dass es sich bei ehemaligen (DDR-)Heimkindern um eine Gruppe mit einer speziellen Traumatisierung handelt und es hilfreich sein kann, diese Spezifika zu kennen, spiegelten Gespräche mit Schulungsleitern der Diakonie Berlin-Brandenburg sowie Pflegeheimpersonal unter anderem im Deutschordenshaus in Erfurt.
In aller Kürze sei darauf verwiesen, dass der absolute Vertrauensbruch beziehungsweise das Aufwachsen in einer Welt in der die eigenen Bedürfnisse konsequent nicht wahrgenommen beziehungsweise deutlich als nicht wichtig, ja als nicht zulässig eingestuft wurden, zu einem besonders hohen Grad an Misstrauen gegenüber anderen Menschen führte. Die Art der Traumatisierung und die daraus resultierenden Folgen weisen also Spezifika auf. Das Wissen darum, dass traumatisierte Menschen in Pflegeeinrichtungen je nach Alter und Herkunft bestimmte Probleme mit sich bringen ist nicht neu.
Das führt dazu, dass die Wege, wie ein Zugang zu ihnen erlangt werden kann, sich von anderen Traumatisierten unterscheiden. Diese Aspekte mit einzubeziehen erscheint ebenso notwendig wie gewinnbringend, bietet sich hier doch auch eine Chance zur Entlastung von Pflegepersonal.
Hier ist also auch die Unterstützung der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und damit der Erhalt ihrer guten Arbeit von Interesse. Aus Gesprächen wurde deutlich, dass trotz guter Ausbildung und Schulungen im Bereich Umgang mit Trauma Bedarf besteht an der Stärkung der eigenen Position und an Techniken, verbale oder gar körperliche Angriffe nicht persönlich zu nehmen. Vermehrt wurde hier zum Beispiel der Wunsch geäußert, die eigenen Bedürfnisse in den Fokus zu rücken („was brauche ich“ statt „was muss ich leisten“). Die Reinszenierung der Situation des Ausgeliefertseins im Alter durch einen erneuten Heimaufenthalt ist über das individuelle Unglück hinaus ein soziales und politisches Problem. Das vielerorts chronisch überlastete Pflegepersonal kann von einer sinnvollen und wirksamen Hilfestellung im Umgang mit den ehemaligen Heimkindern profitieren.
Auch viele Kinder in westdeutschen Heimen, von denen bis Mitte der 1970er-Jahre über 60 Prozent von der evangelischen Diakonie und der katholischen Caritas geführt wurden, haben Schlimmes erlebt, erfuhren Gewalt und Demütigung, mitunter erlebten das auch Kinder in kirchlichen Heimen im Osten. So erinnert sich an den Umgang im St. Josefsheim in Birkenwerder eine Betroffene, die als Vierjährige dort untergebracht war: „Drangsalierungen wie Haare ziehen, Umdrehen der Ohrmuschel, das Hinknien auf am Boden ausgestreute Trockenlinsen oder stundenlanges Stehen auf einer Treppe“. Bei den Mahlzeiten wurden Kinder mit „körperlicher Gewalt gezwungen, aufzuessen. Auch Erbrochenes musste gegessen werden.“
Prügelstrafen, entwürdigende Behandlung, eine auf das Funktionieren der Kinder und Jugendlichen ausgerichtete Erziehung bildeten den Alltag im Heim. Die Verweigerung von Nähe, Verständnis und Schutz ist in unzähligen Fällen dokumentiert. In den Heimen der evangelischen Diakonie herrschte wie in katholischen Einrichtungen extreme Gewalt unter den Zöglingen. Sie wurde durch tribale Strukturen und die Hausordnung, die einer „Entsolidarisierung Vorschub leistete“, bewusst gefördert. Ein hierarchisch angelegtes System mit Rechten und Privilegien für einige der Zöglinge sorgte neben Kollektivstrafen bei Vergehen Einzelner, die wiederum eine Bestrafung des Verursachers durch die Gruppe nach sich zogen, für ein raues Klima.
Seitens der Erzieher und Erzieherinnen waren Einschüchterungen und Demütigungen gängiges Mittel. Der Margaretenhort in Hamburg in evangelisch-lutherischer Trägerschaft war mit dem Anschein behüteter heiler Welt mit hohem moralischem Anspruch ein Leidensort für Kinder und Jugendliche.
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Zitierweise: Angelika Censebrunn-Benz, „Wenn die Vergangenheit nie ruht. Spätfolgen von Zwangserziehung im DDR-Heimsystem und im Westen", in: Deutschland Archiv vom 30.03.2025. Link: www.bpb.de/560727. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Ergänzend:
Wolfgang Benz, Interner Link: "Gewalt gegen Kinder. Jugendhilfe und Heimerziehung in der DDR", DA vom 11.4.2014.
Berenike Feldhoff, Interner Link: Zwischen gesellschaftlicher Anerkennung und individueller Rehabilitierung, DA vom 13.10.2016
Angelika Censebrunn-Benz, Interner Link: Geraubte Kindheit – Jugendhilfe in der DDR, DA vom 30.06.2017
Elisabeth Hingerl, Interner Link: Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau – eine "Totale Institution", DA vom 30.10.2021
Christian Zippel, Interner Link: Die weichgespülte Republik? Wurden in der DDR weniger Kindheitstraumata ausgelöst als im Westen?, DA vom 13.9.2024.
Carsten Spitzer, Interner Link: Langzeitfolgen von DDR-Unrecht, DA vom 15.12.2024.
Erziehungsfolgen auch anderswo: Interner Link: "Heimatkunde". Wie Schule Kinder in der DDR ideologisierte und die Folgen. Ein Dokumentarfilm von Christian Bäucker. DA vom 12.12.2023.