Die bevorstehende Große Koalition in Deutschland steht vor grundlegenden Herausforderungen, wie die Beschlussfassung über das milliardenschwere Schuldenpaket vom 18. März 2025 im Bundestag belegt. Sollte die künftige schwarz-rote Koalition in der neuen Legislaturperiode ihre Handlungsfähigkeit nicht unter Beweis stellen, besteht die Gefahr eines ungebremsten Aufstiegs antidemokratischer Kräfte.
Die vergangenen zwanzig Jahre zeigen, dass die tatsächliche und wahrgenommene Leistungsfähigkeit demokratischer Staaten zunehmend ins Wanken geraten ist. Zunehmend zweifeln Bürgerinnen und Bürger an der Fähigkeit der öffentlichen Hand, große Krisen zu bewältigen und notwendige Reformen rechtzeitig auf den Weg zu bringen. In Deutschland – aber auch in vielen anderen westlichen Ländern – beobachten wir, wie verschiedene politische Systemkrisen eng mit einer Erosion staatlicher Handlungskompetenz verknüpft sind.
Populistische Kräfte nutzen die sinkende Leistungsfähigkeit des Staates und bauen darauf das Narrativ des unreformierbaren Staates auf, um so letzten Endes radikale Umsturzfantasien zu legitimieren. Gleichzeitig erklären sie Migration zum vermeintlichen Kernproblem gesellschaftlicher Missstände und stilisieren den Grenzschutz zum sichtbaren Symbol staatlicher Handlungsfähigkeit.
Abnehmende Effektivität: Vom Banken-Bailout zur Corona-Pandemie
Bereits 2008 verdeutlichte die Finanzkrise vielen Menschen, wie eng Wirtschaft und Politik verflochten sind und wie rasch ganze Staaten zum Opfer weniger Marktakteure werden können. In Ländern wie Griechenland, Spanien und Portugal, die durch die Euro-Schuldenkrise zu drastischen Sparprogrammen gezwungen waren, brach das Vertrauen besonders stark ein.
Einen weiteren Schub für die Skepsis gegenüber etablierten Strukturen brachte 2015 die verzögerte und teils unkoordinierte Reaktion auf den Zuzug Geflüchteter. Überfüllte Erstaufnahmestellen, Konflikte zwischen Bund und Ländern sowie die Darstellung einer „unkontrollierten Einreise“ prägten lange anhaltend das mediale und gesellschaftliche Klima.
Demagogie statt Demokratie: AfD-Plakat aus dem Bundestagswahlkampf 2021. (© bpb / Kulick)
Demagogie statt Demokratie: AfD-Plakat aus dem Bundestagswahlkampf 2021. (© bpb / Kulick)
Die dritte große Bewährungsprobe kam mit der Corona-Pandemie ab 2020. Rasch mehrten sich Berichte über ineffiziente Strukturen: mangelnde Digitalisierung in den Gesundheitsämtern, knappe Intensivbetten, zögerliche Beschaffung von Impfstoffen oder Schutzausrüstung. Diese Defizite – verstärkt durch häufige Regeländerungen – schwächten das Vertrauen in die Planungsfähigkeit des Staates.
Andere Mega-Trends wie die Klimakrise, der demografische Wandel, geopolitische Konflikte, Wohnungsknappheit oder wachsende Ungleichheit verschärfen die Situation zusätzlich.
Populistische Kanalisierung: „System zerstören“ oder „Sündenböcke suchen“
Diese weit verbreitete Unzufriedenheit führt häufig zu zwei zentralen populistischen Argumentationsmustern:
Radikale Anti-System-Haltung: Populisten und extreme Gruppierungen behaupten, das bestehende System und seine Eliten seien so tiefgehend beschädigt oder korrumpiert, dass weder Reformen noch eine Erneuerung möglich seien. Nur ein „fundamentaler Bruch“ – etwa durch Umstürze, autoritäre Modelle oder neue Verfassungen – könne Abhilfe schaffen. Damit stellen sie die Legitimität demokratischer Institutionen infrage und rufen eine „Alles oder nichts“-Konfrontation hervor.
Konstruktion von Sündenböcken: Geflüchtete und andere Migrantengruppen werden zum vermeintlichen Ursprung sämtlicher Probleme erklärt. Dadurch wirkt der Staat als handlungsunfähig, weil „Fremde“ angeblich das Sozialsystem überlasten, Konflikte verursachen oder für Kriminalität verantwortlich sind. Der Grenzschutz und Asylpolitik werden so zum ultimativen Beweis staatlicher Souveränität. Versagt er hier, so die populistische Rhetorik, sei das gesamte System dysfunktional.
Verführung des Mainstreams: Migrationsfokus statt Strukturreformen
Auch etablierte Parteien greifen in Krisenzeiten häufig auf Sicherheits- und Abwehrrhetorik zurück, um schnelle Erfolge in der öffentlichen Wahrnehmung zu erzielen. Grenzschließungen oder Obergrenzen für Asylbewerber wirken als unmittelbar sichtbare Maßnahmen und signalisieren vermeintliche Handlungsfähigkeit. Doch indem sie den eigentlichen Kern des Problems unbeachtet lassen, übernehmen sie das populistische Framing. Mithilfe von Symbolpolitik in der Migration gaukelt der Staat Effizienz vor.
Die Populismuskrise als Staatskapazitätskrise
Der Aufstieg populistischer Bewegungen gründet somit tief in einer Krise der Staatskapazität. Viele Menschen zweifeln daran, dass ihre Regierung in akuten Krisen angemessen reagiert und in ruhigen Phasen vorausschauende Politik betreibt. Rechtspopulisten profitieren davon, indem sie radikale Lösungen – vom kompletten Bruch mit dem „System“ bis hin zu einfachen Feindbildern – propagieren.
Um diese Dynamik zu durchbrechen, müsste der Staat belegen, dass er tatsächlich in der Lage ist, umfassende Strukturreformen zu realisieren und wesentliche Zukunftsaufgaben anzugehen, als eine Kernaufgabe für die neue Bundesregierung. Höhere Investitionen, effizientere Verwaltungen, eine koordinierte Zusammenarbeit aller Regierungsebenen und eine glaubwürdige Planungskompetenz könnten das Vertrauen in die Demokratie wieder stärken. Je seltener die Menschen das Gefühl haben, ihr Gemeinwesen scheitere an Unzulänglichkeiten, desto weniger werden sie empfänglich für pauschale Schuldzuweisungen, Demagogie und radikale Umsturzfantasien. Denn letztlich gründet der aktuelle Populismusboom auf einem tiefen Zweifel, ob der Staat seine Kernfunktionen noch erfüllt. Bleibt dieser Zweifel bestehen, bleiben auch populistische Krisennarrative bestehen.