„Miteinander – Füreinander. Nie wieder gegeneinander“
35 Jahre nach der ersten freien und geheimen Wahl der Volkskammer der DDR am 18. März 1990. Eine Rückerinnerung.
„Miteinander – Füreinander. Nie wieder gegeneinander“: Das ist die Inschrift einer kleinen Gedenkmünze, in Erinnerung an ein Ereignis, das mit der frei gewählten Volkskammer vor 35 Jahren zu tun hat.
Aber wohl nur hard core Sportfans unter Ihnen werden wissen, dass am 21. September 1990 die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik und der Deutsche Bundestag der Bundesrepublik Deutschland direkt gegeneinander angetreten sind – in einem Fußball-Benefizspiel von Abgeordneten aus Ost gegen West in Berlin. Es sollte 100.000 DM für Behindertenprojekte in Leipzig einspielen. Fair geendet hat es 2:2.
Der CDU-Volkskammerabgeordnete Interner Link: Reiner Schneider aus Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, berichtete darüber im Rückblick im „Deutschland Archiv“ der Bundeszentrale für politische Bildung: „Ich war als linker Verteidiger aufgeboten und spielte anfänglich gegen den damaligen Umweltminister Klaus Töpfer, den ich mit meiner Laufarbeit und mit sportlicher Härte beeindrucken konnte. Nach seiner Auswechselung war der Oberbürgermeister Bonns, Dr. Hans Daniels, mein Gegenpart. Er schien mir nicht so robust, deshalb schonte ich ihn etwas. Das Spiel endete 2:2. Leider nahm mir der vor mir stehende Spieler die Ehre, zum Ausgleich einzuköpfen.“
Gepfiffen wurde das Spiel übrigens vom legendären westdeutschen Schiedsrichter Walter Eschweiler, und den Spielball trug Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl in den Jahnsportpark, das Stadion des Berliner Fußball-Clubs „BFC Dynamo“, also ausgerechnet bei Stasichef Mielkes ehemaliger Truppe… Wenn ich zu DDR-Zeiten meinen Club Union Berlin zum Stadtderby beim BFC begleitete, meistens im Stadion der Weltjugend 300 Meter von der Mauer zum Wedding entfernt und es endlich irgendwann einen Freistoß für die Eisernen gab, skandierte der Unionblock „Die Mauer muss weg!“. Nun also die Abgeordnetenmannschaften.
Ohne Vorerfahrung in die Politik
Dass Interner Link: Sabine-Bergmann Pohl einmal solch eine Aufgabe zufallen würde, neben allen anderen Pflichten als Volkskammerpräsidentin, das war für sie als Lungenfachärztin vor dem 18. März 1990 mit Sicherheit genauso unvorstellbar wie für alle anderen engagierten DDR-Bürgerinnen und -Bürger, die bei jener ersten freien Wahl in der Geschichte der DDR in die Volkskammer gewählt wurden, nahezu alle ohne jede praktische Vorerfahrung in großer Politik und in den Zwickmühlen und Labyrinthen der Administration.
Die 10. und letzte und zugleich erste frei und geheim gewählte Volkskammer – übrigens bei einer Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent! -, konstituierte sich am 5. April 1990. Ihr gehörten 409 Abgeordnete an, von denen nur 14 schon in der 9. (noch von der Staatspartei SED gelenkten) Volkskammer vertreten gewesen waren. Alle anderen waren Newcomer, so wie Sabine Bergmann-Pohl, auffallend viele Ingenieure, Mediziner und Naturwissenschaftler, und man staune: zu 7,1 Prozent waren Theologen vertreten, zu denen auch ich zählte.
Vielleicht waren dies Berufsgruppen, die am wenigsten ideologisch vom verordneten Marxismus-Leninismus durchdrungen waren. Gerade die Kirchen mit ihren synodalen Beteiligungsstrukturen waren in der DDR ja regelrechte Schulen der Demokratie. Reiner Eppelmann hat sie einmal als „Loch im Fahrradschlauch DDR“ bezeichnet, weil dort der Wind der Demokratie wehte. In den Gemeindekirchenräten und auf Synoden wurde offen um Kompromisse gestritten – und viele Entscheidungen in geheimen Abstimmungen getroffen. Aber auch von den Theologen und Theologinnen waren die wenigsten auf den Berg an verantwortungsvoller Arbeit vorbereitet, der nun vor uns lag und unter sehr großem Zeitdruck abgearbeitet werden musste, anfangs übrigens ziemlich konsensorientiert und ohne Fraktionszwang, um sich nicht zu verhaken. Der Abgeordnete Eberhard Brecht, später lange OB in Quedlinburg, sagt rückblickend, dass er in seinem Leben noch nie so viel Arbeit zu bewältigen hatte, wie in jenen Wochen und Monaten.
Wie umgehen mit "Blockflöten?"
Gewöhnungsbedürftig war die Begegnung von uns Bürgerrechtlern mit denen, die wir damals nicht nur intern als „Blockflöten“ bezeichneten: Wenige Monate vorher noch mit-tätig in den Blockparteien CDU, NDPD, LDPD und DBD, Parteihüllen auf einer Einheitsliste von Gnaden der SED. Nun hatten nicht wenige ziemlich umstandslos den Wandel zu überzeugten demokratischen Parlamentariern absolviert, und den „Schwesterparteien“ im Westen schien das gerade recht zu sein. Auf der anderen Seite begegneten wir Newcomern wie jenen aus der DSU menschlich durchaus wohlwollend auf Augenhöhe. So sehr wir uns auch inhaltlich unterschieden, so sehr ähnelten sich unsere Glücksgefühle, der SED samt der Nationalen Front den Garaus zu machen. Die DDR war eben rückblickend viel heterogener als wir uns das heute eingestehen wollen.
Uns allen steckte die Diktatur, unsere Sozialisation tief in den Knochen. Um arbeiten zu können und das bisherige Handpuppentheater Volkskammer endlich zu demokratischem Leben zu erwecken, brauchten wir so etwas wie die Gemeinsamkeit und „Solidarität einander unvertrauter Menschen“, um den Bielefelder Erziehungswissenschaftler Paul Mecheril zu zitieren. Der Gedanke dahinter könnte unter den Begriff der Konvivialität – eine Art alternativlose Akzeptanz zum Zusammenleben unterschiedlichster Menschen - gefasst werden. Die Frage war: Wie kommen wir mit all unseren Hypotheken und Eigenheiten nach so einem Systemumbruch zusammen. Ja, wir misstrauten der Nationalen Front und ihren Protagonisten, aber sie waren nun einmal (noch) da, also gingen wir recht gelassen mit ihnen um – in der Hoffnung, dass ihre Zeit für immer abgelaufen sei.
Mit viel Demut, großen Augen und durchaus vielen eigenen Lücken meiner autodidaktischen politischer Bildung war ich nun Parlamentarier. Ich gehörte vom März bis August 1990 der 10. Volkskammer an, wechselte Ende Mai als Stellvertretender OB nach Ost-Berlin in den Magistrat, gerade 30 Jahre alt, aufgewachsen unter anderem in Thüringen, im Kreis Sömmerda, Bezirk Erfurt, gelernter Facharbeiter für Plaste und Elaste in Fürstenwalde bei Berlin, Student der Theologie in Berlin und seit 1987 Vikar in Berlin und Eisenach.
Theologen als Motivatoren
Politisiert hatten mich nicht nur gute Lehrmeister am Evangelischen Sprachenkonvikt wie Richard Schröder, der spätere Fraktionsvorsitzenden der SPD in der Volkskammer, oder wie etwa der Theologe und Philosoph Wolfgang Ullmann von „Demokratie jetzt!“ und später Bündnis 90/Die Grünen, der Vizepräsident der Volkskammer wurde und uns, seinen theologischen Schülern, energisch Mut machte, uns gesellschaftspolitisch zu engagieren, nicht erst als 1989 die Zeit endlich reif dafür war.
Mit einigen von uns teilte er dann als weiterhin guter Ratgeber die parlamentarische Bank. Nun war er Kollege - und wie er es war! Seine Schüler standen plötzlich auf derselben Bühne und machten Karriere - nicht immer in seiner Partei. Wolfgang Ullmann hat das gut aushalten können. Hin und wieder hat man ihm seine stille, bescheidene Freude daran angesehen, wie wir zu politischen Mutmenschen und Mutbürgern, wurden.
Eine Anekdote will ich Ihnen nicht vorenthalten: Wolfgang Ullmann hatte als Vizepräsident regelmäßig die Plenarsitzung zu leiten. Irgendwann, gefühlt im Mai oder Juni, endete die Mittagspause und Ullmann, der seinen Spaß an der Oppositionsrolle hatte, legte mit dem Abarbeiten der Tagesordnung los, im Wissen darum, dass die Mehrheitsfraktionen noch beim Nachtisch saßen. Er ließ an die zehn Vorlagen der Allianz für Deutschland abstimmen und von der vollzählig erschienenen Opposition ablehnen, ehe ein Geschäftsordnungsantrag seinem Treiben ein Ende setzte. Solche kleinen Episoden zeigen, wie sich die Volkskammer die parlamentarische Kultur zu eigen machte. Hass, Häme oder trompetende, überhebliche Herabwürdigung unserer Gegenüber waren uns damals fremd, auch wenn wir durchaus Grund dafür gehabt hätten angesichts so vieler zerstörter Leben und Lebenschancen in über 40 Jahren DDR.
Die Fälschung der DDR-Kommunalwahlen 1989 als turning point der DDR-Geschichte
Ich habe bei aller Bedrängnis in der stickigen und engen DDR der 1980er Jahre immer politische und künstlerische Freiräume provoziert, gesucht und auch gefunden. Den letzten Ruck für ein explizit politisches Engagement gab mir indes ein Ereignis zehn Monate vor der Volkskammerwahl. Es war für viele ein Anstoß zur Friedlichen Revolution: die für alle offensichtliche, plumpe Interner Link: Fälschung der DDR-Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 durch die SED-Führung. Ich gehörte damals zu einem kleinen Kreis couragierter, freiwilliger Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter in etwa 1.000 Wahllokalen der DDR. Wir schauten dem manipulativen Staat erstmals genauer auf die Finger und überprüften: Wie wird da ausgezählt, und was davon verkündet? Es ergab sich nachweisbarer Wahlbetrug in großem Stil.
Ab dann, wir erinnern uns, überschlugen sich die Ereignisse. In Polen rang die Solidarnosc der Kommunistischen Partei die Macht am Runden Tisch ab und setzte am 4.Juni in Teilen freie Wahlen durch. In Peking dagegen wurden am selben Tag Studentenproteste am Tianamenplatz blutig niedergeschlagen. In der DDR begannen höchst kreative Proteste in Betrieben, in Ungarn löste sich der Eiserne Vorhang, ein Exodus zigtausender DDR-Bürger setzte sich fort, und zusehends implodierte der Machtapparat der SED nebst seiner Institutionen.
Immer mehr Menschen verloren die Angst vor ihr und bewiesen großen Bürgermut. Interner Link: Die Stasi protokollierte damals hunderte Protestparolen in den ersten acht Wochen der Friedlichen Revolution, humorvoll von „Visafrei bis Hawaii“, über „Rechtssicherheit spart Staatssicherheit“, „Mauer ins Museum!“, „Egon, wir sind nicht die Olsenbande“ bis hin zu „Demokratie statt Demagogie – jetzt oder nie!“, so etwa in Gera am 11. November 1989.
Die Kern-Parolen wandelten sich schnell: von „Wir wollen raus!“ zu „Wir bleiben hier!“, dann „Wir sind das Volk!“ und schließlich „Wir sind ein Volk!“, ein Moment übrigens auch, wo sich die ersten fragten: Sind wir jetzt noch gemeint? Fast folgerichtig kollabierte der SED Machtapparat und verlor die Kontrolle über die Grenzsicherungen. Spätestens von da an, ab dem 9. November, blieb nichts mehr, wie es vorher war.
Für viele Bürgerrechtler, die anfangs vor allem die DDR reformieren, also wirklich demokratisch machen wollten, wurde rasch klar: Dies öffnet unwiederbringlich den Weg nicht nur zum deutschen Nachbarn, zum Parallelstaat, sondern auch zu Demokratie und endlich freien Wahlen, deren Resultat am 18. März 1990 mit dem überwältigenden Sieg der „Allianz für Deutschland“ einen klaren Wählerwillen ausdrückte: hin zu schnellstmöglicher Wiedervereinigung, mit dem Versprechen von „Freiheit und Wohlstand“. Das war damals eine Situation, in der an Tagen ganze Jahre vergingen. Bewertungen der Lage und das Bilden von Urteilen war einer extremen Halbwertzeit ausgesetzt.
Wählerauftrag "das eigene Land aufzulösen"
Damit war, wie es der letzte Ministerpräsident der DDR, Interner Link: Lothar de Maizière, formulierte, der vorrangige Wählerauftrag formuliert: „das eigene Land auflösen“. Die Volkskammer habe den DDR-Bürgern den Weg zu ebnen, „aufrechten Ganges in diese mehrheitlich gewünschte Einheit zu gehen“, formulierte es damals der spätere Außenminister Markus Meckel.
Dafür leistete diese demokratische Volkskammer binnen 172 Arbeitstagen schier Unglaubliches. Zwischen dem 12. April 1990, ihrem ersten regulären Sitzungstag, bis zur letzten Sitzung am 2. Oktober 1990 wurden auf 37 Tagungen 164 Gesetze, drei Staatsverträge und 93 Beschlüsse gefasst. Die hundert Tage Schonzeit zum Einarbeiten gab es nicht, es gab nicht einen einzigen, und die Rahmenbedingungen waren unglaublich.
Es gab kaum Abgeordnetenbüros, keine Wohnräume, kaum Telefone oder andere technische Hilfsmittel, keine Autos, kurz gesagt, es mangelte an allem. Improvisation gehörte zu diesem Schnell-Lerndurchlauf in politischer Bildung. Rückblickend traf der dritte Satz des sog. Beutelsbacher Konsenses, bis heute eine der Leitplanken der Arbeit in der politischen Bildung, auf geradezu unheimliche Weise auf uns zu: „Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.“
Und wie wir in der Lage waren! Grenzenlose Euphorie und bleierne Müdigkeit beherrschten den Gefühlshaushalt. Wir durften selbst erfahren, was Demokratie bedeutet, wie man an ihr teilhaben und mitwirken kann - auch wenn anfangs selbst eine Geschäftsordnung fehlte, die zwingend notwendig für die demokratische Wahl einer Volkskammerpräsidentin war. Die SPD-Abgeordnete Interner Link: Susanne Kschenka erinnerte sich in einem Zeitzeuginnenbericht im „Deutschland Archiv“ daran: „So saß ich am 18. März 1990 in meiner kleinen Wohnung in Magdeburg und entwarf auf der Schreibmaschine nach der Geschäftsordnung der Synode der Kirchenprovinz Sachsen die vorläufige Geschäftsordnung der Volkskammer, diesen Entwurf stellten wir auch unseren Kollegen der Schwesterpartei in Bonn zur Sichtung zur Verfügung“. Und welch Wunder: Zwei Tage später kam die CDU Fraktion in der Volkskammer mit einem Entwurf um die Ecke, eins zu eins derselbe Text, der nach der interfraktionellen Schleife in Bonn auch den Koalitionspartner in Ostberlin erreichte.
"Lernende in einem politischer Crashkurs"
„Wir waren Lernende in einem politischen Crashkurs“ hat es der CDU-Abgeordnete Interner Link: Rainer Jork aus Radebeul in einem weiteren Erfahrungsbericht für die Bundeszentrale ausgedrückt. Eine entsprechende politische Bildungseinrichtung gab es damals natürlich in der DDR noch nicht. So halfen die Zentralen von Bund und Ländern sowie die politischen Stiftungen. Die spontane Unterstützung der vielfältigen Landschaft der politischen Bildung in den Jahren der friedlichen Revolution ist bislang viel zu wenig gewürdigt worden. Die Erfahrung, dass es auf jede noch so konkrete Frage immer mehrere Antworten gab, dass Kontroversen zum Elixier der Demokratie gehören und dass die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit keine Garantie mit sich bringt, dass der eigenen Meinung nicht widersprochen werden darf, all das hat politische Bildung vermitteln können. Und manche friedliche Revolutionärin hat sich nach einem Seminar die Augen gerieben und gefragt: Bin ich hier eigentlich in der richtigen Partei? Politische Bildung hatte keine Rezepte, dafür aber die Methoden, Denkverbote auszuschließen.
„Es gab auch kein Drehbuch dafür“, so beschreibt es in seinem Rückblick der SPD-Abgeordnete Hans-Interner Link: Joachim Hacker aus Schwerin, „um rechtsstaatliche und befriedende Lösungen zu finden, die einerseits die Lebenswirklichkeit in der DDR berücksichtigten, aber auch Teilungsunrecht nicht verewigten.“
Die 10. Volkskammer orientierte sich am Vorbild Deutscher Bundestag, an dessen Arbeitsweise und Strukturen, wie es die Parlamentarismusforscherin Bettina Tüffers vor Kurzem in der FAZ schrieb: „Was im Bundestag passierte, war vor 1990 in der DDR via Westfernsehen aufmerksam verfolgt worden. (…) Womöglich saßen also nicht nur die besonders erbitterten Gegner, sondern auch die glühendsten Bewunderer des Bundestags in der DDR.“
Im Ergebnis wurden wir alle zu kleinen Motoren einer „kopfgesteuerten Demokratie“ - den Begriff prägte der PDS-Abgeordnete Interner Link: Dietmar Keller, der zuletzt in SED-Zeiten unter Modrow DDR-Kulturminister war. Im Eiltempo habe er „Demut, Diskussions- und Streitfähigkeit“ lernen müssen „und vor allem Toleranz“. Es habe „in der Kammer und im Volk Debattenkultur und Debattenunkultur gegeben, ernsthafte PolitikerInnen in allen Parteien und verrückte Hinterbänkler, Nachtsitzungen ohne Ende und nicht eingeladene bundesdeutsche Prominenz auf der Ehrentribüne“.
Bundeskanzler Helmut Kohl am 17. Juni 1990 auf der Besuchertribüne der DDR-Volkskammer. Links neben ihm sitzen der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) und die von 1988 bis 1998 amtierende Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth.
Das war eine Anspielung darauf, dass am 17. Juni 1990 unvermittelt Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Rudolf Seiters und Rita Süßmuth auf der Besuchertribüne der Volkskammer Platz nahmen, mitten in einer besonders turbulenten Sitzung, die von mehreren Unterbrechungen geprägt war und auf der die DSU-Fraktion den „sofortigen“ Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beantragte. Mit großer Mühe konnte der Antrag in die Ausschüsse überwiesen werden.
Turbulenzen gab es auch, ganz nicht-parlamentarisch, beim Umgang mit der ehemaligen Geheimpolizei. Während der gesamten Legislaturperiode begleitete uns die Frage: Wie mit Stasi-Belasteten umgehen? Diese Debatte spaltete am 28. September 1990 die Volkskammer, als es darum ging, IMs unter den Abgeordneten auch beim Namen zu nennen. Ein Überprüfungsausschuss hatte 15 MfS-Spitzel ermittelt.
Die damalige Abgeordnete und spätere Stasiunterlagenbeauftragte Interner Link: Marianne Birthler erinnert sich: „Die weitere Debatte verlief turbulent, unterbrochen durch mehrere Beratungspausen und einen Sitzstreik auf dem Fußboden vor dem Präsidium, mit dem wir die Nennung der Namen einforderten. Als diese auch durch Geschäftsordnungstricks nicht mehr aufzuhalten war, beantragte Günter Krause im Namen seiner Fraktion den Ausschluss der Öffentlichkeit, was wiederum dazu führte, dass einige Abgeordnete, solange die Kameras noch liefen, die Zeit für persönliche Erklärungen über ihre Stasi-Kontakte nutzten. Dann wurden Journalisten und Gäste aufgefordert, den Plenarsaal zu verlassen, Kameras und Mikrofone wurden abgeschaltet. Wir Abgeordneten waren unter uns.
Was innerhalb der darauffolgenden geschlossenen Sitzung passierte, ist im Protokoll nicht überliefert. Augenzeugen erinnern sich, dass der Streit noch heftiger als zuvor fortgesetzt wurde. Günter Krause, dessen Gesicht inzwischen eine grünliche Färbung angenommen hatte, ließ nun alle Beherrschung fahren, schrie herum und versuchte, Wolfgang Ullmann, der die Liste mit den Namen aus seiner Sakkotasche gezogen hatte und sich anschickte, sie zu verlesen, den Zettel zu entreißen. Vergebens. Die Namen wurden bekanntgegeben. Wie nicht anders zu erwarten, war die Liste außerdem längst einigen Medien zugesteckt worden. Es war eine Illusion zu meinen, Stasi-Belastungen von öffentlich bekannten Personen könnten auf Dauer geheim bleiben – das sollte die Zukunft uns noch des Öfteren lehren. Leider galt dies auch für ungerechtfertigte Vorwürfe. Später zeigte sich immer wieder, dass der beste Schutz vor falschen Beschuldigungen Transparenz und Ehrlichkeit waren.“
"Ein absoluter politischer Neubeginn"
All dies sind Mosaiksteine der Erinnerung an das vielleicht produktivste Parlament der deutschen Demokratiegeschichte, beflügelt von einer Rekordwahlbeteiligung, geradezu beseelt von der neuen Demokratie und ihren Mitgestaltungsangeboten.
Die letzte DDR-Regierung oder wie man sich selbst abschafft
Am 12. April 1990 beginnt die kurze Amtszeit der letzten, einzigen demokratisch gewählten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière. Das Kabinett verfügt nur über wenig politische und administrative Erfahrung. In wenigen Monaten verhandelt diese Regierung unter großem Druck die innen- und außenpolitischen Bedingungen für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland.
Die bereits erwähnte Wissenschaftlerin Bettina Tüffers, hat vor fünf Jahren in einem Aufsatz für die bpb die Volkskammer des Jahres 1990 als „Interner Link: Schule der (repräsentativen) Demokratie“ bezeichnet, durchaus auch Elite-prägend für die nachfolgenden Jahrzehnte, „nicht zuletzt, weil zwei Drittel der 409 Volkskammerabgeordneten nach dem 3. Oktober 1990 ihre politische Karriere fortsetzten: 88 von ihnen übernahmen Mandate in den neugebildeten ostdeutschen Landtagen, 74 wurden im Dezember 1990 in den Bundestag gewählt, weiteren 13 gelang dies noch in späteren Legislaturperioden, 24 gingen von 1990 an ins Europaparlament, 29 als Minister oder Ministerinnen in die Exekutiven der fünf neugebildeten Länder“.
„Die 10. Volkskammer war in der Tat ein absoluter parlamentarischer Neubeginn“, fährt Bettina Tüffers in ihrem Rückblick fort, sie habe jedoch mit dem Deutschen Bundestag ein klares Vorbild gehabt, „und es war den Abgeordneten von Anfang an klar, dass sie lediglich ein Übergangsparlament bildeten, mit der alleinigen Aufgabe, die Verhältnisse in der DDR so schnell wie möglich – denn das bedeutete der Wahlsieg der konservativen Allianz für Deutschland – den westdeutschen anzugleichen“.
Diesen Druck beschreiben im Nachhinein auch einige der Abgeordneten von damals. Außenminister Interner Link: Markus Meckel kommentierte die erlebte Ungeduld aus dem Volk über die Verhandlungen auf parlamentarischer wie auf internationaler Ebene über die angestrebte Wiedervereinigung wie folgt: „Das Wahlergebnis am 18. März hatte deutlich gemacht, dass die große Mehrheit der DDR-Bürger einen möglichst zügigen Vollzug der Einheit wollte. Damit war dann auch die Entscheidung gefallen, dass sie rechtlich gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes, als Beitritt vollzogen werden sollte, denn dies war der einfachste und schnellste Weg. Die Verhandlungen darüber waren jedoch umstritten – und von der DDR-Bevölkerung selbst wenig geachtet. Bei vielen galten sie als Zeitverschwendung und Verzögerung der Einheit.“
Tatsächlich hatten schon Ende 1989 Umfragen ergeben, dass 48 Prozent der Ostdeutschen für die deutsche Vereinigung eintraten. Im Wahlmonat März 1990 war dieser Anteil auf 75 Prozent angewachsen. In dieser Drucksituation wurde manches leider übersehen oder eben nicht lange genug abgewogen, ebenso die Folgen der raschen, oft brutalen Transformation der 1990er Jahre, die uns bis heute immer noch so nachhaltig beschäftigen.
Unterschätzte Wegstrecke
Interner Link: Rüdiger Fikentscher, Arzt aus Halle/Saale, der ebenfalls in die letzte Volkskammer einzog, Fraktionsvorsitzender und Vizepräsident im sachsen-anhaltinischen Landtag war, bilanzierte es vor einigen Jahren so: „Ja, die Volkskammer war eine Schule der Demokratie. Doch wir sind nicht zum Unterricht hingegangen, sondern mussten ohne viel Einarbeitungszeit grundlegende Entscheidungen treffen. Das waren der Aufbau demokratischer Strukturen, Eingliederung des Militärs und anderer staatlicher Machteinrichtungen, Festlegung der Kommunalwahlen, Währungsunion, Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und anderes mehr. Schließlich wurde in jener Nachtsitzung zum 23. August morgens 3 Uhr unter Leitung von Vizepräsident Reinhard Höppner der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Nur die Volkskammer durfte das, niemand sonst.“
Geirrt habe man sich nicht im Ziel, aber teilweise im Weg, schreibt Fikentscher weiter: „Unser Weg zur Einheit? Wie lange wird das alles dauern? Hier scheint mir, dass wir hinsichtlich der Reihenfolge fast alles richtig vorausgesehen, uns nur in der Zeitschiene grandios geirrt haben. Wer zu Weihnachten 1989 vorhergesagt hätte, dass wir ein Jahr später in einem geeinten Deutschland mit einem frisch gewählten gemeinsamen Bundestag feiern würden, wäre nicht ernst genommen worden. Und wer nach der Vereinigung vermutet hätte, dass wir über drei Jahrzehnte später noch immer über Ost-West-Unterschiede sprechen, wäre als notorischer Pessimist bezeichnet worden. Beides ist eingetreten und noch vieles mehr. Darüber gilt es immer noch zu sprechen, heute, und noch eine Weile länger.“
Diese Weile dauert offensichtlich noch sehr viel länger, nicht eine, nicht zwei, sondern mindestens drei Generationen, wie wir heute begreifen. Denn spätestens seit der Bundestagswahl vor ein paar Wochen lernen wir beim Blick auf die politische Landkarte Deutschlands, dass der Osten 35 Jahre nach der Einheit offenbar - wie auf der Suche nach einer trotzigen eigenen politischen Identität - kategorisch anders wählt. So hat die CDU, wie es nach der Auszählung aller Stimmen bei der Bundestagswahl 2025 die „Berliner Zeitung“ bilanzierte, „in ganz Ostdeutschland inklusive dem Ostteil Berlins keinen einzigen Wahlkreis direkt geholt. Die Folgen für die Partei des designierten Bundeskanzlers im Osten können verheerend sein.“
Ich halte die Prognose aus der Berliner Zeitung für übertrieben. Das Grundgesetz weist darauf hin, dass die Parteien an der politischen Willensbildung lediglich mitwirken. Wir haben in unserem Land, das war in der Vergangenheit deutlich zu sehen, eine lebendige Zivilgesellschaft, die nicht schweigend zuschaut, wenn die Grundrechte mit Füßen getreten werden. Und wir haben starke Institutionen der Demokratie, die für den Rechtstaat einstehen. Dazu gehört auch die plural verfasste politische Bildung, die sich nicht neutral, sondern normativ positioniert und dem Grundgesetz verpflichtet weiß. Politische Bildung in demokratischem Auftrag ist ein commons, ein Gemeingut, was allen Menschen einräumt, sich an ihr zu beteiligen.
Vor 35 Jahren hat die Volkskammer den Weg zur Einheit in einem Eiltempo geebnet, das damals unvermeidbar war, denn auch international stand das Zeitfenster für eine deutsche Vereinigung nur für sehr begrenzte Zeit offen, wie uns im Nachhinein die Ablösung von Russlands Reformer Michail Gorbatschow gelehrt hat und Putins demokratieverachtende Kriegs- und Gewaltpolitik heute schmerzhaft vor Augen führt.
Umso mehr gilt es, sich in einem solchen Erinnerungsmoment wie heute zu vergewissern, dass die Volkskammerwahl vor 35 Jahren den DDR-Bürgern und Bürgerinnen etwas wahrlich sehr Kostbares ermöglicht hat, die selbst erkämpfte Verwirklichung von „Demokratie statt Demagogie“, und zwar im 41. Jahr ihrer Existenz, dem wahrhaft spannendsten von allen.
Demokratie ist kein Erbgut, was vom Himmel fällt oder sich automatisch von Generation zu Generation vererbt. Sie muss täglich aufs Neue erkämpft, erlernt und verteidigt werden. Genau dafür ist politische Bildung wichtig. Politische Bildung, die niemand ausschließt, aber dafür den Respekt vor anderen Überzeugungen ohne Hass und Häme einfordert.
In der Demokratie gibt es die Wahrheit nur im Plural. Das mag für etliche eine Zumutung sein. Aber am 18. März darf und muss daran erinnert werden, dass es die Deutschen 1990 in freien Wahlen über alle Überzeugungen hinweg gemeinsam geschafft haben, ein diktatorisch autoritäres Regime in den Ruhestand zu schicken. Demagogen diese Demokratie zu überlassen, wäre eine groteske Umkehr dieser gemeinsamen Errungenschaft.
»Miteinander – Füreinander. Nie wieder gegeneinander« mahnt die Medaille der Fußballer aus Bundestag und Volkskammer, die im September 1990 gegeneinander kickten und am Ende auf ein faires 2:2 anstießen. Es liegt an uns, dass dieser Auftrag von Volkskammer und Bundestag aus dem Jahr 1990, die Zielrichtung im staatlich vereinten, aber auch nach 35 Jahren noch nicht wirklich mental geeinten Deutschland bleibt.
Zitierweise: Thomas Krüger, „Miteinander – Füreinander. Nie wieder gegeneinander. 35 Jahre nach der ersten freien und geheimen Wahl der Volkskammer der DDR. Eine Rückerinnerung.", in: Deutschland Archiv vom 18.03.2025. Link: www.bpb.de/560481. Der Beitrag basiert auf einem Festvortrag, den Thomas Krüger als Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung und ehemaliger Volkskammerabgeordneter am 18. März 2025 bei einer Veranstaltung im Thüringer Landtag hält. Veranstalter sind die Thüringer Landeszentrale für politische Bildung und der Thüringer Landesbeauftrage zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der Festakt steht unter der Überschrift: „Erfüllte Erwartungen/Enttäuschte Erwartungen“. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Ergänzend:
Interner Link: 35 weitere "ungehaltene Reden" , Denkanstöße und Erinnerungen ehemaliger Abgeordneter aus allen Parteien der letzten Volkskammer der DDR, gesammelt vom Deutschland Archiv 2020.
ist seit dem Jahr 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. Er war 1989 Gründungsmitglied der Sozialdemokraten in der DDR (SPD) und Mitglied der Volkskammer der DDR. Von 1991 bis 1994 war er Senator für Jugend und Familie in Berlin, anschließend von 1994 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestags. Seit 1995 ist er außerdem Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks und seit 2003 Mitglied der Kommission für Jugendmedienschutz.