Jan Kixmüller: Herr Professor Münkler, vor zwei Jahren haben Sie von einer neuen Weltordnung der fünf Mächte USA, Europa, Russland, China und Indien gesprochen. Doch nun scheinen die USA und Russland, im Hintergrund auch China, das Feld unter sich aufteilen zu wollen.
Herfried Münkler: Wir sind nach wie vor auf dem Weg zu einer multipolaren Weltordnung. Das Ensemble der fünf Weltmächte wird bereits sichtbar, niemand entscheidet allein. Nur entwickelt es sich nicht in dem schönen Sinne, dass sich die fünf Mächte an einen Tisch setzen und alles in Ruhe besprechen. Vielmehr rumpeln sie in die globalen Strukturen hinein. Wenn sich eine Weltordnung auflöst, in der bisher die USA die Regeln bestimmt haben, beginnt das Umwerfen der Stühle. Dabei scheinen für die Trump-Administration wirtschaftliche Gesichtspunkte eine wichtigere Rolle zu spielen als die geopolitische Ordnung und bestimmte Werte.
Welche Ziele verfolgt Russland?
Für Präsident Wladimir Putin geht es vor allem darum, das Territorium Russlands wieder an die Ausdehnung des einstigen Zarenreichs heranzuführen. Die Ukraine ist dabei nur ein Puzzleteil in einem größeren Raum. Eine zentrale Rolle spielt das Schwarze Meer. Nach den Kriegen in Tschetschenien und Georgien sowie der russischen Präsenz in Armenien ist die Ukraine der Schlüssel zur Dominanz über die Ost- und Nordküste des Binnenmeeres. Zudem zielt Russlands hybride Kriegführung gegen Rumänien und Bulgarien darauf ab, auch die Westküste politisch zu kontrollieren. Trump und Putin scheinen zu glauben, man könne diesen Raum wie einst in Jalta und Potsdam aufteilen.
Was treibt die USA an?
Wenn man Vizepräsident J. D. Vance zuhört, wird klar, dass die USA sich mit Russland arrangieren wollen, um sich ganz auf die Auseinandersetzung mit China konzentrieren zu können. Dabei sind sie tendenziell bereit, ihre Position in Europa aufzugeben. Was ein Fehler wäre, denn ohne Europa fehlt ihnen die nötige Stärke in der wirtschaftlichen Konfrontation mit China.
Sind das also erste Schritte in die neue Weltordnung?
Ja, aber unkoordinierte Schritte. Trumps Abwendung von der Ukraine ist ein Weckruf für Europa, das sich als eigenständiger Akteur positionieren muss, um nicht aus der Gruppe der Fünf auszuscheiden. Wir erleben einen Epochenbruch. Der transatlantische Westen als Stützpfeiler der Weltordnung löst sich auf – der Streit zwischen Trump und Selenskyj symbolisiert diesen Wendepunkt. Sie waren die ikonische Verdichtung eines Endpunktes. Es war ein Tipping Point, kein aus dem Ruder gelaufenes Gespräch.
Und nun gilt, wer die Macht hat, bestimmt den Kurs?
Wenn es keinen Hüter der Ordnung mehr gibt, niemanden, der die Regeln garantiert, wird der Regelbrecher zum Gewinner. Die Trump-Administration hat beschlossen, den russischen Regelbruch zu akzeptieren: Abtrennung bestimmter Gebiete im Donbass, keine Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine und die öffentliche Demütigung Selenskyjs. An die Stelle der regelbasierten Ordnung tritt eine machtbasierte Ordnung. Nicht die Einhaltung der Regeln entscheidet das Spiel, sondern das Portfolio der Machtsorten, der politischen, ökonomischen, militärischen und kulturellen Macht.
Ein Abzug der US-Truppen aus Deutschland steht im Raum. Ist das realistisch?
Es ist jedenfalls kurzfristig gedacht. Gerade Deutschland ist nach wie vor die wichtigste Basis der amerikanischen Streitkräfte außerhalb der USA. Die amerikanische Administration ist gerade dabei, den globalen Einfluss der USA zu zertrümmern. Der Auftritt von J. D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz war die Aufkündigung der gemeinsamen Wertebasis des Westens.
Inwiefern?
Man muss sich seine Worte sorgfältig ansehen: Es sei undemokratisch, 20 Prozent der Wähler von der Macht fernzuhalten. Was er meint, ist die Brandmauer zur AfD. Das ist eine irrwitzige Aussage, denn im amerikanischen Wahlsystem wären demnach derzeit 48 Prozent der Wählerinnen und Wähler von der Macht ausgeschlossen. Den Deutschen zu unterstellen, sie seien undemokratisch, war ungefähr so unangemessen, wie Selenskyj als Diktator zu bezeichnen. Vance hat das Tischtuch zerschnitten. Und er wollte das.
Ist das der Beginn eines globalen Zeitalters des Autoritarismus?
Ja, die Stunde der Autokratien hat geschlagen. Demokratien werden es schwer haben. Auch in Europa gibt es Akteure, bei denen der demokratische Rechtsstaat ausgehebelt wird, etwa Ungarn. Die Zukunft des Demokratietyps, in dem die gemeinsame Beratung der Entscheidung vorausgeht und in dem die Verfassung die Möglichkeiten direkter Volksentscheide einschränkt, ist infrage gestellt. An ihre Stelle könnten die im Kern illiberalen, sogenannten akklamatorischen Demokratien treten, die ihre Legitimation aus der direkten Zustimmung beziehen, dem Beifall großer Menschenmengen.
Was muss Europa jetzt tun?
Europa muss handlungsfähig werden und dafür müssen einige Regeln geändert werden. Zum Beispiel das Einstimmigkeitsprinzip, das von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán seit Längerem schon als Vetomacht ausgenutzt wird. Dann hängt viel davon ab, dass die neuen Mitgliedsländer nicht wegbrechen und zu Trittsteinen für Putin oder China werden. Dazu müsste man viel energischer als bisher auftreten und in einem kühnen Akt das Mehrheitsprinzip in der EU durchsetzen. Es geht darum, das Zentrum zu stärken.
Wie könnte das aussehen?
Das Weimarer Dreieck plus Italien und gegebenenfalls Großbritannien – fünf Große, die Europas Außen- und Sicherheitspolitik lenken. Ein gemeinsamer europäischer Oberbefehlshaber für die nationalen Armeen und eine zweistufige Mitgliedschaft wären zentral. So könnte Europa mit den USA, China und Russland mithalten, einschließlich eigener nuklearer Abschreckung.
Die Atomwaffen Frankreichs würden nicht ausreichen. Müssten auch andere Länder Europas nuklear aufrüsten?
Die Frage ist, wie das machbar ist. Da hängt viel von der Zahlungsfähigkeit Deutschlands und der Kooperationsbereitschaft Frankreichs ab. Deutschland hat sich lange auf die Amerikaner verlassen. Man wollte keine Europäisierung des Militärs und der Rüstungsindustrie. Jetzt sind die Deutschen die Düpierten, weswegen sie im Moment auch keine große Rolle spielen. Sie sind aber die Einzigen, die diese Veränderung derzeit bezahlen können. Viele europäische Länder stehen ja an der Grenze ihrer Schuldentragfähigkeit und können keine großen Sprünge machen.
Gerade jetzt ist Deutschland aber nicht wirklich handlungsfähig.
Nach der Regierungsbildung wird es das hoffentlich wieder sein. Dann wird viel davon abhängen, wie der Bundeskanzler auftritt, um einerseits vielen Ländern die historisch begründete Angst vor Deutschland zu nehmen und andererseits entschlossen Führung zu zeigen. In der jetzt sich entwickelnden machtbasierten Ordnung gibt es die Zeit nicht mehr, um monatelang nach innereuropäischen Kompromissen zu suchen. Ängstlichkeit und Zögern sind bei uns zu oft Grundlage des politischen Handelns. Deutschland muss aber initiativ und aktiv gestaltend handeln.
Wie sollte Europa Trump begegnen?
Entschlossenheit und Härte imponieren ihm. Wenn die Europäer als Bittsteller vor ihm auf die Knie fallen, beeindruckt ihn das überhaupt nicht. Er fordert ständig Unterwerfung ein, verachtet sie aber gleichzeitig. Europa könnte eine Reihe von Rüstungskäufen bei den USA aufkündigen, wenn die Strafzölle verhängen. Eine kohärente Linie der Europäer ist notwendig, um sich in Washington und Moskau Respekt zu verschaffen. Appeasement oder Schmeichelei führen nicht weiter. Wenn Trump jetzt China mit Zöllen angreift, wird sich zeigen, dass es ohne die Europäer nicht geht. Und hier hat Europa einen starken Trumpf in der Hand, wie der chinesische Außenminister am Tag nach der Rede von Vance in München angedeutet hat.
Wächst die Gefahr eines großen Krieges in Europa?
Wenn wir nicht in der Lage sind, uns selbst zu verteidigen, wird diese Gefahr tatsächlich größer. Wenn es den Russen gelingt, die Einflusssphäre des Zarenreiches am Schwarzen Meer wiederherzustellen, ist die Ostsee der nächste Raum, nach dem sie greifen. Die in Russland kursierenden geopolitischen Konzepte zur Kontrolle Eurasiens sind in dieser Frage eindeutig. Zu glauben, man könne Putin pazifizieren, indem man ihm Territorien überlässt, ist die gleiche Dummheit, die die Briten und Franzosen 1938 in München begangen haben, als sie glaubten, Hitler durch Appeasement auf Frieden einzustimmen.