An einem Schlüsselmoment deutscher Geschichte, ging der Spiegel-Journalist Ulrich Schwarz mutig und entschlossen voll ins Risiko. Entgegen allen Warnungen der DDR-Regierungsstellen gegenüber westlichen Korrespondenten in Ost-Berlin, gelangte er am 9. Oktober 1989 von der „Hauptstadt der DDR“ aus unbemerkt mit dem Zug nach Leipzig. Dort erlebte er als einziger West-Reporter den entscheidenden Befreiungsschlag der Bevölkerung aus einer deutschen Diktatur.
Mindestens 70.000 Menschen wagten es, ohne Demonstrationsgenehmigung für ihre Freiheit auf die Straße zu gehen. Militär, Polizei und Betriebskampfgruppen warteten einsatzbereit, aber dann wich die Staatsmacht zurück. Später an diesen historischen Abend traf Schwarz im „Interhotel Merkur“, unweit der MfS-Bezirkszentrale, zwei Oppositionelle, die jene bis dahin größte Demonstration der Friedlichen Revolution heimlich von einem Kirchturm aus gefilmt hatten: Siegbert Schefke und Aram Radomski. Um sie vor einer möglichen Verhaftung zu schützen, nahm er selbst deren Videocassette an sich, die verdeckt in einer Hotel-Drehtür den Besitzer wechselte, stieg für die Rückfahrt in ihren Trabi ein und brachte die brisanten Aufnahmen noch in der Nacht über die Grenze zum ARD-Fernsehen im Westteil Berlins, von wo aus die Bilder am Folgetag ausgestrahlt wurden. "Wenn uns jemand angehalten hätte, ich hätte gesagt, das Video gehört mir. Mich hätten sie ja nur rauswerfen können aus der DDR, die anderen wären in den Knast gegangen", sagte er später in einem Interview der Süddeutschen Zeitung.
So erfuhren Millionen DDR-Bürger via Westfernsehen davon, wurden ermutigt und beschlossen, ebenfalls zu demonstrieren, die Welle DDR-weiter Proteste begann, die Interner Link: Friedliche Revolution nahm ihren Lauf. Auch CNN und BBC übernahmen das Videomaterial, die Bilder der entscheidenden Demonstration im Herbst der Revolution gingen um die Welt. Schon eine Woche darauf trat SED- und Staatschef Erich Honecker zurück, einen Monat später ging die Mauer auf. Weil er mit zu diesem Wendepunkt der deutsch-deutschen Geschichte beitrug, erhielt Schwarz 2019 das Bundesverdienstkreuz.
Der Geschichtenschreiber schrieb selbst Geschichte mit
All dies war kein Zufall, sondern nur möglich, weil Schwarz sich als langjähriger Korrespondent im Osten Deutschlands ein Netzwerk ohnegleichen aufgebaut hatte. Oppositionelle waren nicht nur Informanten für ihn, um Artikel schreiben zu können. Viele wurden zu Freunden und Freundinnen – ob Bärbel Bohley, Ulrike Poppe, Rudolph Bahro oder Robert und Katja Havemann. Sie erlebten ihn als jemand, der sich nicht gängeln ließ, der geradlinig und vertrauenswürdig war, sie unterstützte und ihnen Respekt zollte. Kaum zwei Jahre in Ost-Berlin scheute Schwarz schon 1978 nicht davor zurück, ein oppositionelles „Manifest“ aus einem kleinen Kreis der SED-Spitze mit Forderungen nach Reformen in der DDR und massiver Kritik an der Einheitspartei zu veröffentlichen, auch wenn er deswegen aus dem Land ausgewiesen und das SPIEGEL-Büro geschlossen wurde.
1985 brauchte die DDR-Kredite aus West-Deutschland und ließ nach intensiven Verhandlungen der Bundesregierung mit der DDR, das Spiegel-Büro wieder zu. Schwarz schockierte die „Abteilung Journalistische Beziehungen“ im DDR-Außenministerium, als er bei der Verhandlung auf die Frage, wer denn vom Spiegel als neuer Korrespondent geschickt werden würde, lächelnd antwortete: „Na, selbstverständlich meine Person.“ So kehrte er als Korrespondent in die Endphase der DDR zurück.
Er wusste, was er unter den Bedingungen eines autoritären Regimes schreiben konnte und was nicht, um Menschen vor Repressionen oder Verhaftung zu schützen. Im Falle eines inhaftierten Oppositionellen, der gegen die Mauer demonstriert hatte, bewirkte er sogar die Freilassung, weil er in diesem besonderen Fall anbot, ausnahmsweise nicht darüber zu schreiben. „Ich liefere keine Leute ans Messer“, sagte Schwarz dazu.
In einer Diktatur gibt es keine starren Regeln und viel Grauzone. Schwarz hatte aber einen klaren inneren Kompass. Viele, die ihn kannten, erinnern sich an seine uneigennützige Zuverlässigkeit, an seinen Anstand und seine Aufrichtigkeit. Wo manch andere sich verbogen, ließ er sich nicht von den Privilegien als Korrespondent korrumpieren und beschrieb präzise die Realität. Im „Internationalen Pressezentrum“ in der Berliner Mohrenstraße gab es eine Inoffizielle Mitarbeiterin (IM) „Karla“, die uns West-Journalisten „betreute“. Sie charakterisierte Ulrich Schwarz in einem Dossier wie folgt:
„Entschiedener Vertreter des Pluralismus, Gegner jeglicher geistigen Bevormundung. Wenn … überhaupt, sozialdemokratisch einzuordnen. Unter Berücksichtigung seiner Weltanschauung, eine realistische Einstellung gegenüber der DDR ... Korrektes, diskussionsfreudiges Verhalten.“
Decknamen Stachel und Tarante
Schwarz wurde in Ost-Berlin von der Staatssicherheit mit einem unvorstellbaren Aufwand bearbeitet, erst hießen die Akten über ihn bezeichnenderweise „Stachel“, später „Tarantel“. Sein Wohnbüro im Hochhaus Leninallee 175, 16. Stock, lag im Fadenkreuz der „operativen Kontrolle“, selbst der Müll wurde durchsucht. Schwarz erzählte nach Einsicht in seine Akten dazu gerne eine Anekdote: Er nahm damals oft auf dem Weg vom Auto ins Haus einen Kuhfuß mit. Mal mehr, mal weniger sichtbar. Das löste eine gewaltige Aktivität des MfS aus, zahlreiche IM kamen zum Einsatz, Dutzende Berichte wurden verfasst, operative Technik eingesetzt und vieles andere mehr. Doch die IM schwärmten gegenüber ihren Führungsoffizieren von seiner Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, von der modernen Technik im Spiegel-Büro. Sie zeigten sich von der ganzen Atmosphäre überrascht und beeindruckt.
„Hinter diesen Masken versteckt sich der Klassenfeind“ mussten die Agentenführer bei ihren IM’s die Welt wieder gerade rücken. Doch das Geheimnis des Kuhfußes der „Tarantel“ konnten sie nicht lüften. Es gab einfach keins. Noch Jahre später konnte Schwarz darüber lachen: „Ich musste ja in den 16. Stock und habe ihn nur wegen des Fahrstuhls mitgenommen. Denn alle im Haus wussten, dass der oft auf den Etagen stecken blieb. Von einem Hausbewohner hatte ich den Tip bekommen. Nur damit ließen sich im Notfall noch die Türen öffnen…“
Journalist in einer Diktatur, die keine Pressefreiheit will, ist ein schwieriger und komplizierter Job. Schwarz ließ im Spiegel schon früh Oppositionelle zu Wort kommen, ob Jurek Becker, Jürgen Fuchs, Robert Havemann oder Rudolf Bahro, der wegen seines Buches „Die Alternative“ inhaftiert wurde. Als er 1987 über die Psychoterroraktionen gegen Wolfgang Templin berichtete, klingelte nachts sein Telefon und eine Männerstimme empfahl Schwarz: „Leb wohl!“. Das ging ihm schon an die Nieren, aber schüchterte ihn nicht ein.
Mysteriöser Verkehrsunfall
Auch über die wahre Ursache eines schweren Autounfalls auf der DDR-Autobahn, gemeinsam mit seinem Fotografen Klaus Mehner, rätselte er noch lange. Auf der Fahrt nach Rostock wurde Schwarz schwer verletzt, nur die massive Karosserie seines sich mehrfach überschlagenden Volvo verhinderte wohl, dass es tödlich endete - am helllichten Tag, auf gerader Strecke.
Doch immer wieder beschrieb er weiterhin die Wirklichkeit der DDR, transportierte weiterhin Videocassetten mit heimlichen Aufnahmen und Statements von Oppositionellen – etwa im Vorfeld der Volkskammerwahlen im Frühjahr 1989 über die Grenze. Er brachte im Kofferraum seines Volvos massenweise Bücher und Zeitungen aus dem Westen mit und gab sie weiter. In der oppositionellen Interner Link: Umweltbibliothek nahe der Zionskirche konnte man so fast aktuell die taz, den Spiegel und andere Westblätter lesen.
Jahrelang war Schwarz über den immer gleichen Berliner Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße gefahren, oft mehrmals am Tag. Dort saß ein MfS-Mitarbeiter der Passkontrolleinheit, der ihn stets wortlos durchgewinkt hatte. Als Schwarz am 9. November 1989 vorfuhr, gab es Mauer und Grenze nicht mehr. Nie hatte der Uniformierte ein persönliches Wort gewagt. An diesem Abend sagte er: „Na, sind Sie jetzt zufrieden, Herr Schwarz?“
Eigentlich sind das viel zu wenig Zeilen um jemanden wie Ulrich Schwarz zu würdigen. So viel mehr noch, was es über ihn zu schreiben gäbe, über einen der beeindruckendsten Journalisten in Deutschland, den ich jemals kennenlernen durfte, über einen warmherzigen Menschen mit Moral. Ulrich Schwarz ist am 3. März gestorben, friedlich im Kreis seiner Familie in Berlin. Die Beerdigung findet Anfang April im engsten Kreis der Familie statt.
Noch ein paar persönliche Anmerkungen
Ich habe Ulrich Schwarz bereits 1979 kennengelernt und da er damals nicht in die DDR hinein durfte, genau wie sämtliche 246 Spiegel-Mitarbeiter, habe ich bereits Anfang der achtziger Jahre auch für das Hamburger Nachrichtenmagazin aus der DDR berichtet. 1984 entstand dank Schwarz das Spiegel-Buch „Null Bock auf DDR“ (gemeinsam mit Wolfgang Büscher). 1993 fuhren Schwarz und ich aus Eisenach zurück nach Berlin. Dort hatten wir ein Interview mit dem IM „Meister“ geführt, ein evangelischer Bischof, über dessen Kontakte zum MfS-Offizier Klaus Roßberg. Am Ende der langen gemeinsamen Autofahrt hatte Schwarz mich vollends nach Hamburg geholt. Dort blieb er noch viele Jahre mein Chef, als Leiter des Deutschlandressorts II.
Uns verband nicht nur die intensive Erfahrung mit der DDR. Er war es auch, der mich nach Rom gehen ließ, um die Geheimnisse des Vatikans zu ergründen. Denn Schwarz hatte die katholische Kirche von innen kennengelernt und einst nach dem Studium der Theologie schreiend Paderborn verlassen und sich fortan dem Enthüllungsjournalismus zugewandt. Wir beschrieben gemeinsam die Skandale der Kirche, das Unrecht an hunderttausenden Heimkindern, den zerstörerischen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, den dramatischen Niedergang in die zunehmende Bedeutungslosigkeit. Wie viele Gespräche wir zusammen mit Bischöfen geführt haben! Und schließlich noch aus Limburg dieser Tebartz-van Elst….
Es ist einfach nicht schön, wenn Menschen für immer verschwinden und mit ihnen auch so viel Wissen, gerade in diesen Zeiten.
Zitierweise: Peter Wensierski, „"Gegner jeglicher geistigen Bevormundung. Ein Nachruf auf Ulrich Schwarz", in: Deutschland Archiv vom 13.03.2025. Link: www.bpb.de/560326. Der Text erscheint zeitgleich in der Havemann-Gesellschaft Berlin. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
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