Im Jahr 1955 unterzeichneten die Bundesrepublik Deutschland und Italien ein Anwerbeabkommen. Hintergrund war, dass in Deutschland Arbeitskräfte fehlten und in Italien, vor allem im Süden, große Arbeitslosigkeit herrschte. Viele junge Männer sahen in ihrer italienischen Heimat keine Perspektiven mehr und hofften mit dem Verlassen ihres Heimatlandes auf einen sozialen Aufstieg.
Über einen „Gastarbeiter“, der die Tiefkühlpizza in Deutschland erfand
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Im Interview mit Thomas Grimm spricht die Autorin Patrizia Di Stefano über ihren italienischen Vater, das Leben von „Gastarbeitern“, Anfeindungen, die ihr als Tochter eines Italieners in den ersten Schuljahren begegneten, und über ihren Sehnsuchtsort Sizilien.
Ein „Gastarbeiter“, der die Tiefkühlpizza erfand
Dazu gehörte auch Giovanni (genannt Gianni) Di Stefano. Er hatte von deutschen Touristen aus Köln am Strand in der Nähe des Dorfes, in dem er aufgewachsen war, gehört, dass viele Italiener dorthin kämen, Arbeit fänden und ihr Glück machten. Für ihn hatten seine Tanten vorgesehen, dass er Priester werden sollte. Auf der einen Seite bedeutete dies Bildung, aber eben auch ein Leben im Zölibat. Gianni Di Stefano machte sein Abitur und begann sein theologisches Studium, aber ihm gefiel das fromme Leben nicht – und schon gar nicht die zölibatäre Lebensweise. Andere Wege waren ihm wegen der Armut seiner Familie verschlossen, denn sie hätten ihm den Besuch eines Gymnasiums und ein Studium nicht finanzieren können. Er türmte mit der Pacht für den Hof seiner Eltern, die er eigentlich beim adligen Pächter abliefern sollte, und verschwand ohne ein Wort des Abschieds aus Italien, um in Köln ein neues Leben zu beginnen.
Darüber schrieb seine Tochter Patrizia Di Stefano einen Roman, der im Frühjahr 2024 unter dem Titel „Nostalgia Siciliana“ erschienen ist. Darin beschreibt sie sein Leben und Aufwachsen auf Sizilien, seinen Entschluss, seine Heimat zu verlassen, und die Anstrengungen, die es kostete, im fernen und kalten Deutschland Fuß zu fassen und etwas zu erreichen.
1960 kommt Gianni Di Stefano nach West-Berlin. Dort lernt er seine spätere Frau in einer Diskothek kennen, wird von seinen Schwiegereltern herzlich aufgenommen, gründet eine Familie, wird stolzer Besitzer eines der ersten italienischen Restaurants. Und: erfindet eine Methode zur Herstellung von schmackhafter Tiefkühlpizza. Mit dieser Pizza beliefert er später den Konzern Dr. Oetker, mit rund 150.000 Pizzen pro Monat. Die Pizzafabrik muss er schließlich aus gesundheitlichen und finanziellen Gründen verkaufen. Er stirbt viel zu jung an Diabetes, doch kurz vor seinem Tode kann er noch dafür sorgen, dass seine Tochter die deutsche Staatsbürgerschaft erhält – damit auch ihr in Deutschland alle Türen offenstehen. Giannis Familie ist von seinem Tod so erschüttert, dass es ihr lange Zeit nicht möglich ist, nach Sizilien zu reisen. Erst als Studentin macht sich Patrizia Di Stefano auf zu ihrer Familie nach Italien – und danach immer und immer wieder. Weil ihre Söhne sie so oft nach der Geschichte ihres Großvaters fragen, schreibt Di Stefano schließlich die Geschichte ihres Vaters auf und recherchiert intensiv dazu.
Seit der Veröffentlichung ihres Erstlingswerks bekommt Patrizia Di Stefano viel Post von anderen „Gastarbeiterkindern“, die sich in der Geschichte wiederfinden. Sie merken, dass ihnen damit eine Stimme gegeben wird. Denn vieles, was im Buch beschrieben wird, haben sie selbst so oder ähnlich erlebt. Der Roman zeichnet ein Bild vom armen Leben auf Sizilien in den 1950er- und 1960er-Jahren, beschreibt die Herausforderungen für die „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik – und auch den Druck, es fern der Heimat „zu etwas bringen zu müssen“, auf das die Familie in der alten Heimat stolz sein kann.