Zeitenwende 2.0
Über die Notwendigkeit Schockzustände in Hoffnungspolitik umzuwandeln
Daniel Kubiak
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Der Blick nur auf den AfD-blau gewordenen Osten täuscht. Denn die AfD hat auch im Westen dazugewonnen und dort inzwischen früheres Ost-Niveau erreicht. So erzielte die Rechtsaußenpartei bei der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 20,1 Prozent der Zweitstimmen in Rheinland-Pfalz, 19,8 Prozent in Baden-Württemberg und 19,0 Prozent in Bayern. Was bedeutet das für die Politik der künftigen Bundesregierung?
2024 war gewissermaßen das Jahr Ostdeutschlands. Drei Landtagswahlen und der 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution waren nur zwei Aufhänger, um über Ostdeutschland zu sprechen, zu schreiben und die Situation vor Ort zu analysieren. Aber schon nach dem 22. September 2024, dem Tag der letzten von drei Landtagswahlen im Osten, in Brandenburg, nahm das bundesweite Interesse an Ostdeutschland auch schon wieder ab – und all die besprochenen Themen, wie Infrastruktur, Bildungsnotstand, ineffiziente Verwaltung, Klimawandel, Einwanderungsgesellschaft und der Verteidigung von Demokratie und Freiheit in Ostdeutschland, wurden wieder zu Nischenthemen der Ostdeutschlandforschung, der Super Illu und politischer Parteien, die die ostdeutschen Gefühlslagen für ihre Zwecke nutzen.
Nach dem 6. November 2024 erlebte die Bundesrepublik eine der schwersten politischen Regierungskrisen der Nachkriegsgeschichte. Die Regierung aus SPD, Bündnis90/Grüne und FDP zerbrach mit der Entlassung von Finanzminister Christian Lindner durch Bundeskanzler Olaf Scholz, und Neuwahlen wurden absehbar. Nahezu zeitgleich gewann Donald Trump die Präsidentschaftswahlen in den USA. Mit einem Schlag wuchsen die politischen Herausforderungen für die Bundesrepublik nicht nur von innen, sondern auch von außen.
Eine Zeitenwende 2.0 leiteten diese Zäsuren am 5. und 6. November 2024 ein. In dem kurzen Winterwahlkampf, der erst Anfang 2025 richtig Fahrt nahm, spielten allerdings überraschend viele dieser jetzt immer drängenderen Themen eine eher untergeordnete Rolle. Dazu gehörten Fragen der internationalen Sicherheits- und Energiepolitik, aber auch der maroden Infrastruktur, der Digitalisierung der Verwaltung (die sich nebenbei auch darin ausdrückt, dass viele Deutsche im Ausland nicht rechtzeitig wählen konnten), der sozialen Gerechtigkeit, des Wohnungsmarkts und anderes mehr. All diese Themen wurden im Wahlkampf kaum angesprochen, obwohl beispielsweise das ZDF-Politbarometer für die Wahlentscheidung drei vorrangige Themen aus der Sicht von Wahlberechtigten ausmachte: Frieden/Sicherheit (48 Prozent), Wirtschaft, Preise und Mieten (41 Prozent) sowie soziale Gerechtigkeit (40 Prozent).
Das Themenfeld „Asyl und Flucht“ folgte zunächst mit 27 Prozent „nur" auf dem vierten Platz der nach Ansicht der Wähler und Wählerinnen wichtigsten Themen – wobei offen blieb, ob diese 27 Prozent dabei eine Haltung vertraten, die mehr Begrenzung befürwortete oder eine qualitativ bessere Aufnahme und Ausweitung der Kapazitäten. Menschen können dieses Thema aus ganz unterschiedlichen Gründen als für sie wahlentscheidend erachten. Doch seit dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember 2024 durch einen offenabar psychisch kranken, islamophoben Unterstützer von Rechtsextremisten, der vor zwei Dekaden aus Saudi-Arabien nach Deutschland eingereist war, emotionalisierte das Thema „Migrationspolitik“ und wurde zum den Wahlkampf bestimmenden Thema, zumal weitere Anschläge durch Einzeltäter folgten. Fast alle im Bundestag vertretenen Parteien, mit Ausnahme der Linkspartei, machten nunmehr Angebote, die eine starke Regulierung und Ordnung von Flucht und Migration herbeiführen sollten, dies auch unter starkem Druck von Medien.
Die Unionsfraktion unter ihrem Kanzlerkandidaten Friedrich Merz brachte am 29. Januar 2025 sogar einen Entschließungsantrag zu diesem Thema in den Bundestag ein, wohlwissend, dass dieser nur mit Stimmen von FDP und AfD eine Mehrheit erhalten könnte. Fortan war das Thema bestimmend in einem zunehmend monothematischen Wahlkampf, anderes spielte kaum noch eine Rolle – weder die Ungleichverteilung von Erbe und Vermögen in der Gesellschaft, der demografische Wandel und die Rentensicherung, Pleiten und Unternehmensansiedlungen oder der folgenreiche Klimawandel. Solche Zukunftsthemen, die nicht nur den Osten, sondern die gesamte Bundesrepublik betreffen, waren plötzlich wie weggeblassen aus politischen und medialen Debatten.
Soziale Ungleichheit und eine latent rassistische Grundstimmung
Das Ergebnis der Wahlen stellte fast alle Parteien nur bedingt zufrieden: die Unionsparteien (sie erhielten 28,5 Prozent), die ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wurden; eine Sozialdemokratie (16,4 Prozent) mit ihrem historisch schlechtesten Resultat; die Grünen (11,6 Prozent), die zwar ihr zweitbestes Ergebnis erzielen konnten, aber unter ihren Erwartungen blieben; eine FDP (4,3 Prozent), die für das Scheiternlassen der Ampelkoalition abgestraft wurde und somit aus Bundestag ausgeschieden ist. Einzig die Interner Link: Linke feierte ein überraschendes Comeback (8,8 Prozent), zuvor war sie schon totgesagt. Noch mehr feierte die AfD, eine in Teilen rechtsextreme Partei, die sogar von anderen europäischen rechtspopulistischen Parteien gemieden wird. Sie konnte ihr Ergebnis mit 20,8 Prozent im Vergleich zu 2021 verdoppeln, mit deutlichen Zugewinnen in Ost und West.
Es zeigte sich, was zahlreiche politikwissenschaftliche Studien belegen: Wer „Antimigrationspolitik“ zum Hauptthema macht, wird damit vor allem radikalen rechten Kräften nutzen. In dieser Frage verhielten sich fast alle demokratischen Parteien beratungsresistent und gerieten sehenden Auges in elektoral schweres Fahrwasser. Als Ergebnis des Wählervotums vom 23. Februar 2024 sind nur Union und SPD noch rechnerisch und faktisch in der Lage, Koalitionsgespräche aufzunehmen. Ob diese zu einem Erfolg führen werden, ist bei Redaktionsschluss dieses Beitrags noch offen, auch wenn erste Vorentscheidungen zur Einrichtung neuer Sondervermögen und zur Reform der Schuldenbremse einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen wahrscheinlicher machen
Repräsentationslücke im Osten
Einen Anspruch mitzuregieren erhob aber auch die Rechtsaußenpartei AfD, sie wurde in fast allen ostdeutschen Wahlkreisen (Ausnahmen bilden Erfurt, Potsdam und große Teile des Osten Berlins) stärkste Partei. Insgesamt votierten 34,5 Prozent der ostdeutschen Wählerinnen und Wähler für die AfD, eine kontinuierliche Entwicklung hin zu einer ostdeutschen Stammwählerschaft, die bereit ist, einer in Teilen rechtsextremen Partei ihre Stimme zu geben. Die Gründe dafür sind vielfältig, liegen aber nicht zuletzt in so empfundener sozialer Ungleichheit und einer latent rassistischen Grundstimmung in einem großen Teil der ostdeutschen Wählerschaft. Laut der Mitte-Studie 2022/2023 haben Menschen in Ostdeutschland zu 16,3 Prozent ein manifest rechtsextremes Weltbild im Vergleich zu 6,3 Prozent in Westdeutschland. Hinzu kommt, dass auch das linkskonservative Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) vergleichsweise stark im Osten Deutschlands abgeschnitten hat (9,9 Prozent) und in allen neuen Bundesländern die Fünf-Prozent-Hürde weit überschreiten konnte, die sie im gesamtdeutschen Wahlergebnis nur knapp verfehlte.
Vor allem in ostdeutschen Großstädten finden wir eine starke Linke, die in Leipzig mit Sören Pellmann und in Erfurt erstmalig mit Bodo Ramelow sogar Direktmandate gewinnen konnte. Offensichtlich wählen die Menschen in Ostdeutschland weiterhin anders als in Westdeutschland. Eine Folge daraus: Die voraussichtlichen Regierungsparteien CDU und SPD verfügen im Osten insgesamt nur über 30 Prozent der Stimmen. Damit verfestigt sich eine Repräsentationslücke, die die Soziologie schon lange benennt und die zu schließen nicht einfach sein wird.
Der AfD-blau gefärbte Osten. Als wären Wählende auf dem Gebiet der ehemaligen DDR mehrheitlich auf der Suche nach einer eigenen politischen Ost-Identität. Aber auch im Westen sind zum Teil starke AfD-Zuwächse zu verzeichnen. Zeitungsberichte über die Erststimmenverteilung nach der Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 in Berliner Zeitung und Süddeutscher Zeitung.
Der Westen folgt dem Osten nach
Ich möchte aber auf einen weiteren Aspekt aufmerksam machen: Das westdeutsch geprägte Parteiensystem scheint sich mit zeitlicher Verzögerung an diese ostdeutschen Gegebenheiten anzupassen. Nur ein Beispiel: 2017 konnte die AfD in Ostdeutschland (inklusive Ost-Berlin) etwas über 21 Prozent der Stimmen erreichen. Damals kam es zu vielerlei Deutungen dieser hohen Wahlergebnisse. Eine besonders aufschlussreiche Debatte führten die Soziolog:innen Thomas Lux, Susanne Rippl und Holger Lengfeld in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS).
Es ging dabei vor allem um die Frage, ob der Erfolg der AfD eher durch die sozialen Ungleichheiten zu erklären sei, von denen Ostdeutsche sehr viel stärker betroffen seien, oder eher durch die latent stärkere Zustimmung zu rechtsextremen und rassistischen Aussagen. Ein lehrreicher Fall ist hier das Bundesland Baden-Württemberg, in dem 2025 die AfD nun einen ungefähr so großen Prozentanteil der Stimmen erhielt wie acht Jahre zuvor in Ostdeutschland. Baden-Württemberg zählt 11,4 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen, also etwas weniger als Ostdeutschland. Ökonomisch ist das Bundesland im europaweiten Vergleich als vergleichsweise wohlhabend einzustufen, zudem regiert dort ein grüner Ministerpräsident. Wie ist dieses hohe AfD-Wahlergebnis ausgerechnet im wohlhabenden Baden-Württemberg zu erklären? Möglicherweise sind hier Verlustängste besonders hoch.
Viele Experten und Expertinnen warnen vor einer Sonderberichterstattung Ost, denn wenn alle Forschungsaufmerksamkeit nur darauf zielt, den Osten zu erklären, übersehen wir ähnliche Entwicklungen in Westdeutschland. Diese Erkenntnis scheint mittlerweile angekommen zu sein.
Auch im Bundesland Rheinland-Pfalz finden sich vor allem in den ländlichen Regionen zahlreiche Gemeinden, in denen die AfD zur stärksten Kraft geworden ist. Eine Erklärung über die „Besonderheiten des Ostens“ scheint also nur bedingt weiterzuhelfen.
Auch Gelsenkirchen mit AfD-Mehrheit
In den Großstädten Kaiserslautern und Gelsenkirchen im Ruhrgebiet konnte die AfD erstmalig zwei westdeutsche Wahlkreise gewinnen. Es ist also an der Zeit, den AfD-Erfolg als gesamtdeutsches Phänomen zu verstehen und dabei die Besonderheiten und Kontinuitäten in Ostdeutschland genauso zu betrachten wie jene in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder dem Ruhrgebiet. Den Osten darüber aus dem Blick zu verlieren, wäre aber auch fahrlässig, denn spätestens bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern 2026 wird deutlich werden, wie bedroht die demokratischen Strukturen in Ostdeutschland jetzt schon sind.
Was aber wäre zu tun, um solche Entwicklungen zu vermeiden? Nachfolgend ein paar Hinweise, was meines Erachtens in Ostdeutschland durch die künftige Bundesregierung, aber auch durch aktive progressive Oppositionsarbeit, getan werden müsste. Ich konzentriere mich dabei auf sechs Punkte. Diese sind natürlich nicht erschöpfend und beruhen weitestgehend auf meiner Expertise als Ostdeutschland-, Stadt-, Migrations- und Demokratieforscher:
1. Zuwanderung als relevantes Mittel gegen demografischen Wandel
Der 2024/25 absolvierte Antimigrationswahlkampf der Mehrheit der angetretenen Parteien ist aus verschiedenen Gründen kritikwürdig. Er beruhte kaum auf Fakten, hat eine relativ kleine Gruppe von Menschen (ausreisepflichtige Nichtdeutsche) in den Mittelpunkt gestellt und dabei humanitäre Rechtsgrundsätze infrage gestellt. Das ist problematisch genug, aber dabei wurde gerade aus einer ostdeutschen Perspektive die Notwendigkeit von Zuwanderung vollkommen außer Acht gelassen. Fluchtmigration sollte nie aus einem Nutzenkalkül diskutiert werden, sondern immer aus einer humanitären Perspektive. Aber Migration ist ja mehr als das. Sie kann zum Beispiel eine Antwort auf den demografischen Wandel sein. Die Bundesländer Thüringen und Sachsen-Anhalt sind die am stärksten schrumpfenden Bundesländer der Bundesrepublik, Sachsen-Anhalt gilt zudem als „ältestes“ Bundesland.
Das Fehlen von Menschen führt fast immer auch zum Fehlen und Zurückfahren von Infrastruktur. Weniger Menschen bedeuten weniger Ärzte, Schulen und Theater, was noch weniger Menschen zur Folge hat, weil das Leben unattraktiver wird. Diese Schrumpfungsprozesse der ostdeutschen Bundesländer sind in den 2010er-Jahren vor allem durch die Fluchtzuwanderung von 2015/2016 und 2022 aufgehalten worden, aber mittlerweile schrumpfen die Großstädte Magdeburg und Halle (Saale) erneut – und das in einer Zeit, in der Deutschland an sich einen starken Bevölkerungszuwachs durch Zuwanderung zu verzeichnen hat. Ostdeutschland ist schlicht nicht attraktiv für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte.
Es sind vor allem junge, gut ausgebildete Menschen (vor allem Frauen) und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die Ostdeutschland potenziell verlassen, dies begann mit dem Mauerfall und hat sich seitdem nicht wirklich geändert. Das ist für die betroffenen Bundesländer eine demografische Katastrophe. Eigentlich müssten sie dieser Tendenz entgegenwirken und mit preiswertem Bauland, der Befreiung von Grunderwerbssteuern für junge Familien, dem Ausbau der Infrastruktur und vor allem einer allgemeinen Willkommenskultur darauf antworten. Eine solche Kultur kann sicherlich nicht auf Knopfdruck hergestellt werden; jeder und jede entscheidet selbst, wie freundlich oder feindlich er oder sie auf andere Menschen zugeht. Zumindest in den Verwaltungen müsste dies aber verstanden werden.
Beispielsweise wurde die Ausländerbehörde der Stadt Magdeburg von allen Interviewpartner:innen in meinem Forschungsprojekt „Neuaushandlung lokaler Ordnungen“ als ablehnend und dysfunktional beschrieben. Wenn Menschen in einem Ort durch das für sie zuständige Amt keine Perspektive aufgezeigt bekommen, dann ziehen sie weiter. Bemerkenswert ist, dass dieses Problem erst durch den Versuch der Ansiedlung des internationalen Konzerns Intel verstanden wurde, wie mir der Integrationsbeauftragte von Magdeburg erzählte. Die Stadt hat über eine „Fast Lane“ für die potenziellen internationalen Mitarbeiter:innen bei Intel nachgedacht. Auch wenn dies häufig zu spät und, wie in diesem Fall, anscheinend nur für ausgewählte Zuwanderergruppen passiert, so scheint es doch der richtige Ansatz. Vor allem ostdeutsche Behörden und Ämter brauchen eine Willkommenskultur in allen Bereichen, unterstützt von den Bürgerschaften in den Kommunen, denn Zuwanderung ist der Schlüssel für eine funktionierende Zukunft, auch wenn im Bundestagswahlkampf eine andere Geschichte erzählt worden ist. Die beiden Parteien, die derzeit über die neue Regierungskoalition verhandeln, haben den Wähler:innen stattdessen in einer Art Überbietungswettkampf versprochen, dass sie die Zuwanderung „ordnen“ und „begrenzen“ wollen.
Auch wenn ein großer Teil der Migrationsforschung den politischen Vorschlägen widersprochen hat, ist zu befürchten, dass Verschärfungen durch Grenzkontrollen, Rückführungen, Abschiebegefängnisse und Obergrenzen im Koalitionsvertrag stehen werden. Aus Sicht der Migrationsforschung schlimm genug. Es ist aber gerade und vor allem für Ostdeutschland zu hoffen, dass die neue Koalition auch Ideen und Ansätze findet, wie sie die weiterhin nötige Zuwanderung gestalten kann, ohne dass die latent rassistische Grundstimmung des Wahlkampfs zu einem Braindrain aus Deutschland führt. Das Chancenaufenthaltsgesetz, der „Spurwechsel“ und die Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes waren aus wissenschaftlicher Perspektive richtige Schritte. Es ist zu hoffen, dass sich Schwarz-Rot trauen wird, auch diesen Weg weiterzugehen.
2. Demokratieprojekte sind überlebenswichtig
Die oben beschriebenen Wahlergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern bedeuten auch eine Bedrohung der aktiven Zivilgesellschaft in diesen Räumen. Viele der zivilgesellschaftlichen Projekte in Ostdeutschland sind seit den 1990er-Jahren sehr erfahren darin, ihre Arbeit in einem potenziell feindlichen Umfeld durchzuführen. Physische und verbale Angriffe auf Büros und Akteur:innen gehören nicht selten zum Alltag. Berichte von Bedrohungen durch Neonazigruppen bei CSD-Veranstaltungen im Sommer 2024 sind nur ein Beispiel. Die Projekte haben Strategien entwickelt, mit dieser Bedrohung umzugehen, aber natürlich ist die Arbeit dadurch erschwert. Daher wird es gerade im Hinblick auf die anstehenden Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern 2026 sowie den fragilen Landesregierungen in Thüringen und Sachsen überlebenswichtig sein, genau diese Demokratieprojekte zu fördern, die helfen Denkhorizonte zu erweitern und demokratische Werte vermitteln.
Gerade wegen des zivilgesellschaftlichen Gaps in Ostdeutschland und fehlenden finanzstarken Stiftungen und Unternehmen (Mäzene) ist eine staatliche, strukturelle Förderung von Demokratieprojekten in Ostdeutschland unerlässlich. Gleichzeitig sehen wir beispielsweise in Städten wie Bautzen, dass erste Kommunen sich dagegen entscheiden, die „Partnerschaften für Demokratie“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) mit kommunalem Geld zu unterstützen. Hier entscheidet sich im politischen Alltag die Wehrhaftigkeit von Demokratie.
Gut funktionierende Projekte müssen strukturell gefördert werden (Opferberatungen, der Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland – DaMost, Jugendparlamente, Gedenkstätten, Politische Bildungsarbeit) und dürfen nicht von den politischen Farben im Ministerium oder von kommunalen Haushaltslöchern abhängig sein. Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist hier besonders gut. Mit relativ wenigen Kosten können nachhaltige demokratische Strukturen erhalten bleiben.
Durch die 2022 ernannte Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus, die SPD-Politikerin Reem Alabali-Radovan, sind auch viele kommunale Projekte gegen Rassismus, vor allem für die Beratung Betroffener, gefördert worden. Diese Projekte sollten weitergeführt und gleichzeitig angepasst werden. Dabei ist es auch wichtig, Schutzkonzepte für die Mitarbeiter:innen mitzudenken. Personen, die selbst Rassismus erleben, sollten nicht allein in einem Büro in einer Kleinstadt arbeiten müssen. Sinnvoll wäre es, immer Teams vor Ort einzusetzen, zur Sicherheit der Mitarbeiter:innen, aber auch, um die Qualität der Beratung zu verbessern. Nach der Bundestagswahl wurde öffentlich, dass die Unionsfraktion genau solche zivilgesellschaftlichen Organisationen durch eine „Kleine Anfrage“ mit 551 Einzelfragen an die amtierende Bundesregierung unter die Lupe nehmen will. Daran gab es zu Recht Kritik aus Zivilgesellschaft, Politik, Journalismus und von Jurist:innen. Denn es ist gerade nicht die Aufgabe dieser Organisationen, politisch neutral zu sein, sondern für demokratische Werte und die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten und solches Engagement zu fördern. Solche Arbeit muss vor allem für Ostdeutschland gestärkt werden, anstatt sie durch solche Art Anfragen zu diskreditieren.
3. Öffentliche Räume sind systemrelevante Infrastruktur
Neben der Strukturförderung für zivilgesellschaftliche Projekte ist es in Ostdeutschland auch unerlässlich, dass öffentliche Räume erhalten oder neu geschaffen werden. Es braucht vor allem Räume der Begegnung. Der öffentliche Raum ist dabei vor allem für marginalisierte Gruppen neuralgisch. Diese Räume werden zunehmende kapitalisiert und unter Sicherheitsaspekten betrachtet. So ist zum Beispiel zu beobachten, dass Marktplätzen zunehmend durch gehobene Cafés und Restaurants geprägt werden, in denen konsumiert werden muss, um anwesend sein zu dürfen. Andere Plätze werden durch Kameras überwacht, um den Anschein von Sicherheit zu erwecken.
Aber gerade junge Menschen haben kein ausgeprägtes Interesse an ständiger Überwachung. Öffentliche Spielplätze, beispielsweise auf Hinterhöfen in Großwohnsiedlungen, werden seit Jahren durch Wohnungsbaugesellschaften privatisiert. Einkaufszentren lassen kontrollieren, wer sich in den Gebäuden aufhält, und wenn es keine potenziellen Kund:innen sind, dann werden die Menschen zum Gehen aufgefordert. Das vertreibt bestimmte (prekäre oder marginalisierte) Gruppen aus dem öffentlichen Raum (Jugendliche, Migrant:innen, arme Personen, queere Personen). Gleichzeitig sind aber gerade für diese Menschen aus unterschiedlichen Gründen genau dies die Räume, die sie brauchen, weil die private Wohnung eng oder nicht vorhanden ist. Öffentliche Räume sind natürlich auch Schulen, Bibliotheken, Jugendclubs, Vereinsräume oder Stadtteil- und Begegnungszentren.
All diese Gebäude benötigen dringend Sanierung und gegebenenfalls Umgestaltung, um noch besser als öffentliche Räume fungieren zu können. Außerdem sollte der Zugang zu diesen Räumen niedrigschwellig sein. Dazu gehören angepasste Öffnungszeiten und niedrigschwellige Beteiligungsmöglichkeiten. Vor allem Jugendliche beklagen nicht selten in ostdeutschen Klein- und Mittelstädten, dass ihnen die Räume fehlen, in denen sie sich begegnen und dabei ihre eigenen Interessen verfolgen können – und nicht nur die, die ihnen von der jeweiligen Einrichtung vorgegeben werden. Die (rechts-)offene Jugendarbeit der 1990er-Jahre hat viel Vertrauen zerstört, es gibt aber funktionierende Konzepte, mit denen demokratiefeindliches Gedankengut aus solchen Räumen ausgeschlossen und sie trotzdem offen für alle gestaltet werden können. Auch dies ist letztlich eine Frage der infrastrukturellen Förderung.
4. Erneuerbare-Energien-Vorsprung im Osten weiter stärken
Ostdeutschland entwickelt sich mehr und mehr zum Standort für moderne Unternehmenszweige. Dazu gehört unter anderem der Wirtschaftszweig der erneuerbaren Energien. Der Energiemix in Ostdeutschland (vor allem in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt) hat sich vergleichsweise ressourcenschonend entwickelt. Eine neue Bundesregierung sollte alles dafür tun, dass diese Entwicklung weitergehen kann, denn wir sehen gleichzeitig, dass Ostdeutschland auch besonders stark vom gegenwärtigen Klimawandel betroffen ist. Das Bundesland Brandenburg erlebte 2024/25 einen der trockensten Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Waldbrände nehmen zu, der Verlust von Insekten ebenfalls. Der Januar 2025 war weltweit der wärmste Januar aller Zeiten. Ob und wie Deutschland bewohnbar bleibt, entscheidet sich auch maßgeblich daran, ob für die Energieversorgung funktionierende Strukturen gefunden werden. Dazu gehört nicht nur die Erzeugung, sondern auch der dezentrale Ausbau der Stromnetze. Hier kann von Ostdeutschland schon gelernt werden.
Hinzu kommt, dass Ostdeutschland in den vergangenen Jahren häufiger (wenn nicht immer unumstritten) Standortvorteile für die Ansiedlung von zukunftsträchtiger Industrie (Chiphersteller, Optik, Elektromobilität) hatte. Gezielte Subventionsförderung muss einen Schwerpunkt auf Ostdeutschland legen. Hier ist augenscheinlich auch eine Verbindung zum Thema Zuwanderung zu erkennen: Gute Arbeitsplätze ziehen auch gut ausgebildete Menschen an, als eine Antwort auf Klima- und Demografiewandel.
In den vergangenen Tagen und Wochen wurde öfter die Frage gestellt, ob eigentlich noch ein/e Ostdeutschlandbeauftragte/r notwendig ist. Der aktuelle Beauftragte Interner Link: Carsten Schneider (SPD) hat sein Amt vom Beauftragten für die neuen Bundesländer überhaupt erst zum Beauftragten für Ostdeutschland umbenannt. Neben dem Versuch, innovative und niedrigschwellige Förderprograme zu installieren und mit dem „Deutschlandmonitor“ Fachstudien zum besseren Verständnis „des Ostens“ zu erstellen, hat er sich als Fürsprecher des Ostens etabliert. Außerdem lag es in seiner Verantwortung, das Zukunftszentrum für deutsche Einheit und europäische Transformation aufs Gleis zu setzen.
Es spricht für dieses Amt, dass Ostdeutsche auf diese Weise in der Bundesregierung gesondert vertreten sind, auch wenn die Interessen „der Ostdeutschen“ sehr heterogen sind. Hier liegt eine gewisse Krux: Da der Beauftragte meist einer konkreten Partei angehört, ist er zugleich „Vertreter“ dieser Partei wie der fünf ostdeutschen Bundesländer. Eine weitere Kritik am Amt lautet, dass durch das Amt eine künstliche Spaltung der Gesellschaft weiterhin erhalten bleibe und somit eine Einheit erschwert würde.
Eine andere Möglichkeit wäre, die Zuständigkeiten es Ostdeutschlandbeauftragten aufzusplittern. Etwa in einen Beauftragten für Erinnerungspolitik, für Wirtschaftsförderung, für die demokratische Zivilgesellschaft, für ländliche Regionen, für Antidiskriminierung und für Integration. Die Erfahrungen und Herausforderungen, die sich in Ostdeutschland stellen, sind ohnehin Querschnittsthemen und sollten in der neuen Bundesregierung auch so immer mitgedacht werden. Genauso wie die Herausforderungen, die sich in Westdeutschland ergeben.
6. Zukunftszentrum Deutsche Einheit und europäische Transformation unbedingt erhalten
Die Idee für dieses Interner Link: Zukunftszentrum, welches in Halle (Saale) entstehen soll, entstammt der Expert:innenkommission zu 30 Jahre deutscher Einheit, die vor fünf Jahren tagte. Es war eines der Ergebnisse jahrelanger intensiver Arbeit. In der vergangenen Legislaturperiode wurden der Standort ermittelt, der Architekturwettbewerb ausgeschrieben und erste Verwaltungsstellen besetzt.
Halles Bewerbungsflyer aus dem August 2022 für das vom Bund geplante Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation, als ein Zentrum für Begegnung, (Erinnerungs-)Kultur, (Transformations-)Wissenschaft und zur "Stärkung von Demokratie und Zusammenhalt in Europa".
Projekte wie dieses kosten nicht viel Geld, könnten aber trotzdem schnell dem Rotstift zum Opfer fallen. Das sollte unbedingt verhindert werden. Es ist zu hoffen, dass vor allem die ostdeutschen Vertreter:innen in der Bundesregierung, aber auch diejenigen, die sich für Mittel- und Osteuropa und deren Geschichte und Zukunft interessieren, an dem Zentrum festhalten. Es wäre der eine mögliche öffentliche Raum, in dem Expertise gebündelt wird und Räume der Begegnung für Bildung, Kultur, Wissenschaft und Ausstellungen geschaffen werden können. Mit dem zentralen Standort Halle (Saale) – einem Ort in einem Bundesland, in dem die Zukunftsherausforderungen politisch und demografisch besonders groß sind –, liegen die Chancen auf dem Tisch.
Das Wahlergebnis der Bundestagswahl markiert eine Zeitenwende, die der künftigen Bundesregierung besonders große Aufgaben stellt, mit einem Schwerpunkt im Osten, aber nicht nur dort. Vorrangiges Ziel muss es sein, sich einer zunehmenden Bedrohung auf der radikalen Seite des Parlaments selbstbewusst, bürger(sorgen)nah und überzeugend stellen zu können. Für Schockzustände ist keine Zeit, gebraucht wird Hoffnungspolitik mit messbaren Ergebnissen.
Zitierweise: Daniel Kubiak, „Zeitenwende 2.0", in: Deutschland Archiv vom 06.03.2025. Link: www.bpb.de/560011. Alle im Deutschlandarchiv veröffentlichten Beiträge sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Dr. Daniel Kubiak ist Soziologe am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität. Er forscht zu ostdeutschen Identitäten, Rechtsextremismus und Migration in Ostdeutschland. Er ist Mitautor des Bandes (Interner Link: Ost)Deutschlands Weg, erschienen 2021 in der Schriftenreihe der bpb.