Eine Zäsur für die deutsche Demokratie?
Die Bundestagswahl 2025 und der schier (un-)aufhaltsame Aufstieg der AfD
Matthias Quent
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20,8 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt die Alternative für Deutschland (AfD) bei der Bundestagswahl am 23. Februar 2025, über 30 Prozent im Osten, bis zu 20 im Westen der Bundesrepublik. Damit verdoppelte die in Teilen rechtsextreme Partei ihr Ergebnis im Vergleich zu 2021. Ziel sei es nun, bei der nächsten Bundestagswahl bundesweit zur stärksten Kraft zu werden, kündigte Parteichefin Alice Weidel euphorisch in der Wahlnacht an. Doch ist dieses Wahlergebnis tatsächlich eine Zäsur, die einen unaufhaltsamen Aufstieg der äußersten Rechten ankündigt? Ein Einwurf von Prof. Matthias Quent, er lehrt Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
Der AfD-blau gefärbte Osten. Als wären Wählende auf dem Gebiet der ehemaligen DDR mehrheitlich auf der Suche nach einer eigenen politischen Ost-Identität. Aber auch im Westen sind zum Teil starke AfD-Zuwächse zu verzeichnen. Zeitungsberichte über die Erststimmenverteilung nach der Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 in Berliner Zeitung und Süddeutscher Zeitung.
Zunächst gilt es, das Wahlergebnis der Partei einzuordnen: Die neue Größe der Bundestagsfraktion mit 152 Abgeordneten ist zwar ein historischer Einschnitt in die Geschichte des Parlaments und der extremen Rechten in Deutschland. Damit kommen der Bundestagspartei nicht nur mehr Abgeordnete, sondern auch mehr Mitarbeitende und Sachmittel für die politische Arbeit und Willensbildung zu. Dennoch ist das Ergebnis (noch) nicht das denkbare Worst-Case-Szenario der liberalen Demokratie: Denn das ausgegebene Ziel der AfD lag bei über 25 Prozent. Auch in Umfragen erreichte die Partei in den Monaten vor der Wahl bis zu 23 Prozent der Stimmen, verlor also im Schlussspurt nochmals zwei Prozent, in Umfragen einen Monat nach der Wahl konnte sie ihren Zuspruch allerdings wieder auf bis zu 24 Prozent steigern.
Dass die AfD weiterhin wächst, obwohl bereits nach der Europawahl viele dachten, der Zenit sei erreicht, zeigt: Es gibt tieferliegende strukturelle und gesellschaftliche Ursachen. Jeder Wahlerfolg und jeder Normalisierungsdiskurs bestärkt das Gefühl, dass die AfD eine legitime Wahloption ist. Mit zunehmender Stärke baut sie auch parteiinterne Netzwerke und lokale Strukturen aus, mit denen neue Milieus erreicht werden können. Während die AfD früher vor allem von bestimmten, weit rechts orientierten Gruppen gewählt wurde, gibt es inzwischen einen „Mitmach-Effekt“. Wer einmal AfD gewählt hat und keine negativen Konsequenzen spürt, ist weniger geneigt, davon wieder abzurücken, denn Meckern ist einfacher als Regieren. Die letzten Jahre boten dafür Anlässe genug, waren sie doch von ständigen Krisen geprägt – Pandemie, Energiekrise, Inflation, Krieg, Migration. Viele Wähler:innen, nicht nur der AfD, empfinden die aktuelle Politik als unfähig, diese Probleme zu lösen.
Schon im Jahr 2018 sah das Institut Infratest Dimap bei einer Umfrage die AfD immerhin bei 18 Prozent. Erst danach ereigneten sich unter anderem die Covid-Pandemie und der vollumfängliche Angriff Russlands auf die Ukraine mit verheerenden materiellen und immateriellen Folgen in Deutschland: erheblicher Anstieg von Energiepreisen, Inflation, wirtschaftliche Rezession, Fluchtmigration aus der Ukraine, Verschärfung der Krise des Wohnungsbaus und ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den bundesdeutschen Haushalt lähmte und auf den Kopf stellte. Hinzu kommt, dass Deutschland zum wichtigsten Ziel des hybriden russischen Kriegs samt seiner Destabilisierungs- und Desinformationspolitik in Europa geworden ist. Milliardenhilfen an die Ukraine, Zukunfts- und Kriegsangst, die Debatte um den richtigen Umgang mit dieser geopolitischen Krise verstärkten politische Polarisierungen. Insbesondere im Osten Deutschlands ist die Ablehnung des politischen Kurses der Parteien der gescheiterten Ampelregierung sowie der Union in der Ukraine-Frage groß.
Profitieren konnte die AfD davon, dass die Migrationsfrage vor den Bundestagswahlen wieder zum zentralen öffentlichen Diskussions- und Wahlkampfthema wurde. Anschläge in Magdeburg, Aschaffenburg und München durch Täter mit Migrationshintergrund wurden trotz unterschiedlicher Hintergründe und Motivlagen insbesondere als Migrationskonflikte diskutiert. Damit hat sich der politische Diskurs weit auf das ureigene Spielfeld der äußersten Rechten begeben. Nur Wochen vor der Wahl stimmten im Deutschen Bundestag erstmals die Unionsparteien, die FDP und die AfD gemeinsam ab – ausgerechnet für menschenrechts-, verfassungs- und europarechtlich umstrittene Verschärfungen der deutschen Migrationspolitik: Die AfD feierte, während Hunderttausende Menschen bei Protesten gegen diesen Tabubruch demonstrierten. Sie warnten vor einer weiteren Entgrenzung und Normalisierung der politischen Einbindung der Rechtsaußenpartei.
Katalysator Trump
Die erneute Wahl des US-Präsidenten Donald Trump wurde international als Rückenwind für rechte Bewegungen und Parteien aufgenommen. In den Monaten vor den Bundestagswahlen mischte sich schließlich noch der reichste Mann der Welt und amerikanische Präsidentenberater, Elon Musk, mit mehrfachen Wahlaufrufen zugunsten der AfD in den deutschen Wahlkampf ein. Auf seiner sozialen Medienplattform X verzeichnet die Rechtsaußenpartei besonders hohe Sichtbarkeit. Wenige Tage vor der Bundestagswahl schaltete sich zudem der amerikanische Vize-Präsident JD Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz in den deutschen Wahlkampf ein, indem er die sogenannte Brandmauer nach rechts außen kritisierte und andere Narrative der extremen Rechten verstärkte. Der durch die Münchner Rede verkündete Bruch des jahrzehntelanges Wertebündnisses zwischen den USA durch die Rechtsregierung und den europäischen Demokratien markiert eine Zäsur.
Zwischen dem 6. November 2024 und dem 20. Februar 2025 erhielt die AfD Großspenden in Höhe von knapp fünf Millionen Euro – nur FDP und CDU erhielten mehr Zuwendungen. Nicht zuletzt hat sich die AfD in den vergangenen Jahren lokal in erheblichem Ausmaß verankert, stellt erste Bürgermeister und einen Landrat in Thüringen. Als Kümmerer und Normalisierungsverstärker auf lokaler Ebene ist die Partei in vielen strukturschwachen und ländlichen Regionen als Volkspartei normalisiert.
Nicht nur vor dem Hintergrund all dieser begünstigenden Faktoren, auch im internationalen Vergleich ist das Ergebnis der AfD nicht außergewöhnlich hoch. In Italien, Österreich oder Frankreich stehen die jeweiligen Rechtsaußenparteien bei um die oder sogar deutlich über 30 Prozent.
Trägt man all diesen Umständen Rechnung, dann muss man das beachtliche Wahlergebnis der AfD in gewisser Weise relativieren: Es ist besorgniserregend, aber es hätte auch deutlich höher ausfallen können. Folgerichtig waren die AfD und ihr Vorfeld mit dem Ergebnis unzufrieden. Also alles halb so schlimm? Natürlich nicht.
Die AfD ist programmatisch radikaler als die Rechtsaußenparteien in anderen europäischen Ländern. Im Europäischen Parlament wollten die großen populistischen Rechtsaußenparteien keine Fraktion mit der AfD bilden, stattdessen arbeitet die AfD dort mit besonders extremen, teils neonazistischen Kleinstparteien zusammen. Die AfD ist nicht nur mit außerparlamentarischen rechtsextremen Bewegungen und neofaschistischen Denkfabriken eng vernetzt, sondern fällt auch immer wieder durch Verbindungen zu militant-terroristischen Akteur*innen auf. Zugleich sind die AfD-Ergebnisse ohnehin und auch ihr neuerlicher Anstieg in Ostdeutschland besonders groß und könnten eine Zäsur markieren, nach der der Griff nach der Regierungsmacht auf Länderebene immer näher rückt. Fällt die „Brandmauer“, könnten unter anderem neue Normalisierungseffekte damit einhergehen. Entzauberung durch Einbindung ist ausgehend von den Erfahrungen anderer Staaten und auf der kommunalen Ebene hierzulande jedenfalls nicht zu erwarten.
Umgang mit dem Wahlergebnis
Auch in den anderen Parteien weiß man, dass die AfD künftig noch besser abschneiden könnte. Zurecht hadern die demokratischen Parteien mit ihren Ergebnissen und streiten um den richtigen Umgang mit der äußersten Rechten. Dabei ist fraglich, ob der bisherige Umgang der Abgrenzung und Ächtung denn wirklich so unerfolgreich war, wie es mitunter in der Debatte vorgebracht wird. Es gilt das klassische Präventionsparadox: Wir wissen nicht, was durch die Aktivitäten der Vergangenheit verhindert wurde. Dass die AfD trotz oder wegen Brandmauer, Massenprotesten und Einstufung des Verfassungsschutzes als rechtsextrem 20 Prozent der Stimmen erreicht, kann in beide Richtungen interpretiert werden: Als Scheitern oder als Bestätigung dieses Kurses. Denn angesichts der zuvor genannten Argumente ist es jedenfalls naheliegend, dass die äußerste Rechte auch in Deutschland ohne starke Bildungsarbeit, Gegenbewegungen, politische Abgrenzung und zivilgesellschaftliches Engagement längst bundesweit 30 Prozent oder mehr Stimmen erhalten könnte: Die auf sozialen Normen basierte Ächtung des Rechtsextremismus funktioniert insbesondere in Westdeutschland noch einigermaßen und hält die AfD, trotz sehr weit verbreiteter politischer Unzufriedenheit und großer Zukunftssorgen, kleiner, als sie sein könnte.
Zugleich ist offensichtlich, dass dieser Umgang seine Schwächen unter anderem darin hat, womöglich (noch) nicht radikalisierte Wähler*innen vor den Kopf zu stoßen oder die AfD damit zum Dreh- und Angelpunkt jeglichen politischen Handelns aufzuwerten.
Die immer wieder beschworene Strategie, die AfD inhaltlich zu stellen, wird vor einem großen Teil der Wählerschaft immer scheitern. Denn wie schon bei der NSDAP geht die Anziehung der AfD nicht von einem rationalen politischen Programm aus. Ein solches ist nicht vorhanden – von der Leugnung des menschengemachten Klimawandels bis zur Behauptung, alle sozialen Probleme ließen sich durch die Deportation sogenannter illegaler oder irregulärer Ausländer in Deutschland lösen. Bei den Bundestagswahlen 2025 haben Arbeitslose, Arbeiter*innen sowie Menschen mit geringem Einkommen besonders häufig AfD gewählt, obwohl in den Medien auf Grundlage verschiedener Studien immer wieder gezeigt wurde, dass das Wahlprogramm der Partei materiell vor allem den Reichen nützt. Die Anziehungskraft der AfD für Milieus über das Personenpotenzial mit rechtsextremen Einstellungen hinaus wird nicht durch politisch-inhaltliche Qualität des Angebots, sondern vor allem emotional und nicht zuletzt durch entsprechende Propaganda hergestellt.
Die affektive Polarisierung, wonach politische Gegnerschaft nicht nur als inhaltliche Differenz wahrgenommen wird, sondern mit starken negativen Emotionen gegenüber anderen politischen Lagern verbunden ist, verstärkt die Anziehungskraft der AfD für besonders unzufriedene Gruppen ohne normatives Korrektiv. Die Polarisierung in der öffentlichen Debatte sorgt dafür, dass politische Entscheidungen zunehmend emotional aufgeladen sind.
Die AfD nutzt gezielt Ressentiments gegen bestimmte Gruppen – zum Beispiel Migrant*innen oder Grüne – um eine „Wir-gegen-sie“-Mentalität zu fördern. Rationale Abwägungen über ganze Wahlprogramme sind dagegen weniger bedeutend. Wichtiger ist das Gefühl, Widerstand gegen das „Establishment“ zu leisten oder sich gegen eine große gefühlte Bedrohung zu wehren. Diese Muster lassen sich aber kaum mit besseren Argumenten auflösen, stattdessen führ die zunehmende Auseinandersetzung zu einer Verfestigung von Identitätskonflikten, in denen politische Entscheidungen weniger von sachlichen Erwägungen, sondern von Gruppenzugehörigkeit und Feindbildern bestimmt werden. Weder das inhaltliche Stellen noch demonstrative Anti-AfD-Haltung ändern etwas an diesen Mechanismen. Beide können sogar verstärkend wirken, weil sie die kollektiven Identitätskonstruktionen infrage stellen und damit dazu herausfordern, diese durch demonstrative Übersteigerung erst recht zu verfestigen. Welcome to America!
Man müsse eben die politischen Probleme lösen, heißt es überall. Und selbstverständlich müssen politische Probleme schneller und effektiver gelöst werden – das ist der Job der Politik. Ein Job, der angesichts der Komplexität alles andere als einfach ist – auch wenn es die Populisten und Populistinnen behaupten. Aber wenn Politik kommuniziert, Probleme vor allem zu lösen, um die AfD zu schwächen und nicht um der Problemlösung willen, dann gibt man der Partei große Wirkungsmacht: Warum sollten die Leute denn Union oder SPD wählen, wenn doch eigentlich eine starke AfD über Bande erst dazu führt, dass ihre Belange endlich gehört werden? Anstatt die AfD zum Maßstab zu machen und sich in parteipolitischen Referenzen zu bewegen, sollten allgemeine Bedürfnisse und die Stärkung des Gemeinwesens im Vordergrund effektiven politischen Handelns stehen, um das Leben für alle Menschen, unabhängig ihres Wahlverhaltens, zu verbessern.
Besonders schwierig ist die Lage in Ostdeutschland. Das Wahlergebnis und die neuerliche Koalition zwischen Union und SPD werden das historisch verwurzelte Gefühl verstärken, wonach der Osten durch eine westlich dominierte Politik regiert wird. Auf nur 30 Prozent der Stimmen kommt Schwarz-Rot in Ostdeutschland, die AfD dagegen auf 32 Prozent (inklusive Berlin). Viele Menschen in Ostdeutschland empfinden eine anhaltende Marginalisierung, sei es wirtschaftlich, kulturell oder politisch, die von rechts außen gezielt verstärkt wird. Diese Wahrnehmung wird durch den Wahlerfolg der AfD zugespitzt: Je stärker die AfD im Osten wird, desto größer wird das Narrativ, dass der „blaue Osten“ von einer westdeutschen politischen Elite ausgebremst oder gar „fremdgesteuert“ werde.
Weil die Bevölkerung in Westdeutschland nun mal viel größer ist, lässt sich das Dilemma bundespolitisch nicht auflösen. Aber dauerhaft wird sich die AfD in Ostdeutschland nicht von Machtpositionen fernhalten lassen. Ob die Einbindung der AfD, sei es durch die Duldung von Minderheitsregierungen oder durch Regierungskoalitionen, dann Nachahmungseffekte in Westdeutschland oder gar auf Bundesebene finden würde, ist indes ungewiss. Denn die anhaltende Ungleichheit in politisch-kulturellen Entwicklungen, die der Soziologe Steffen Mau in seinem Bestseller „Ungleich vereint“ herausgearbeitet hat, könnte in einer noch stärkeren Verinselung Ostdeutschlands resultieren. Das Ziel einer inneren Einheit würde dann noch weiter in die Ferne rücken. Aber für die bundesdeutsche Demokratie wäre eine radikale Akzeptanz der Ost-West-Ungleichheiten womöglich eine Entlastung.
Langfristig könnte mehreren Ebenen gegengesteuert werden, beispielsweise mit den von Steffen Mau vorgeschlagenen Bürgerräten, die politische Polarisierung abschwächen und politische Beteiligung über Parteien hinaus stärken können. Wie die demografische und damit wirtschaftliche Zukunft Ostdeutschlands angesichts des Widerspruchs zwischen Überalterung und Entleerung auf der einen und Einwanderungsfeindlichkeit auf der anderen Seite gesichert werden kann, das steht in den Sternen. Den Schutz des physischen und psychischen Wohlbefindens und der Gleichberechtigung besonders benachteiligter und angegriffener Gruppen in Ostdeutschland, insbesondere von Migrantinnen und Migranten, muss der demokratische Rechtsstaat auch gegen innere Widerstände durchsetzen und ausbauen.
Letztes Mittel Verbotsverfahren?
Klar sollte spätestens jetzt allen sein: Wenn eine Regierungsbeteiligung der AfD in greifbare Nähe rückt, müssen nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern schnellstens auch andere Institutionen und Verfahren der Demokratie überprüft und bei Bedarf faschismussicher gemacht werden, um einen missbräuchlichen Einsatz zu verhindern. Es wäre fahrlässig, die Expertise und Warnungen unter anderem des Verfassungsblogs nicht ernst zu nehmen.
Womöglich ist diese Legislaturperiode die letzte Möglichkeit, um die Verfassungsfeindlichkeit der AfD gerichtlich prüfen zu lassen. Ein Parteiverbot wäre nur eine Möglichkeit wehrhafter Demokratie, eine andere Möglichkeit wäre der Ausschluss aus der staatlichen Parteienfinanzierung wie im Fall der NPD (heute: Die Heimat). Ein Verbotsverfahren dauert Jahre und der Ausgang ist offen. Aber bereits der laufende Prozess würde die rechtsextreme Propagandamaschine irritieren und den Fokus der Debatte auf das Wesentliche lenken: Die AfD ist schließlich nicht problematisch, weil sie irgendwelche anderen Meinungen vertritt, sondern weil ihre Politik im Widerspruch mit den Verfassungsprinzipien von Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat steht.
Ein AfD-Staat wäre keine liberale Demokratie mehr – sollte das Bundesverfassungsgericht zu einem anderen Urteil kommen, gilt es, das Ergebnis akzeptieren und nach neuen Strategien suchen. Selbst wenn die AfD von einem gescheiterten Verbotsverfahren profitieren könnte, sind die Wachstumsaussichten der äußersten Rechten angesichts der begünstigenden nationalen und internationalen Krisen ohnehin günstig.
Aufhören, Gejagte zu sein
Die AfD-Vorsitzende Alice Weidel hat noch am Wahlabend die Ankündigung erneuert, die anderen zu jagen „und zwar von einer ganz anderen Plattform aus“. Zum Jagen gehören aber mindestens zwei: Jäger*innen und diejenigen, die fliehen. Die Alternative zur Flucht wäre es, stehen zu bleiben und die Jäger*innen auflaufen zu lassen. Beim Fußball werden so gegnerische Spieler*innen abgeblockt, um den Ball nicht zu verlieren und einen Angriff des eigenen Teams aufzubauen. Die Rolle der Gejagten zu verlassen ist anspruchsvoll, denn sie setzt seitens der demokratischen Mehrheit erstens Selbstbewusstsein und zweitens eine Idee dafür voraus, wie eine Demokratieoffensive aussieht und in welche Richtung sie laufen müsste. Drittens braucht es Teamplay und viertens genug Ausdauer, über die gerade drängendste Krise hinauszudenken und Rückschläge zu verkraften.
Es gibt keinen Automatismus, nach dem die äußerste Rechte in den nächsten Jahren bundesweit stärkste Kraft wird. Doch ebenso wenig gibt es eine Garantie dafür, dass die liberale Demokratie sich dauerhaft behauptet. Demokratische Gesellschaften sind nicht nur durch institutionelle Strukturen stabil, sondern durch Vertrauen in das Gelingen und das Erleben in täglicher Praxis.
Zitat
Statt sich in einem reaktiven Verteidigungsmodus zu verlieren, sollte die demokratische Mehrheit in der Gesellschaft und in der Politik die Initiative ergreifen. Nicht als Getriebene, sondern als (bürgernähere) Gestalter*innen. Die AfD ist nicht deshalb stark, weil sie eine überzeugende Alternative bietet, sondern weil die Demokratie in ihrer Gestaltungs- und Überzeugungskraft herausgefordert ist. Dabei sollte der Fokus nicht nur darauf liegen, die AfD zu schwächen, sondern vor allem darauf, die Demokratie selbst zu stärken. Die Verhinderung eines weiteren Rechtsrucks kann nicht allein durch Strategien der Abwehr oder der Übernahme ungleichheitsbezogener Politik gelingen. Eine Gesellschaft, die sich nicht von Angst und Spaltung treiben lässt, sondern ihre pluralistische und auf Gleichwertigkeit zielende Identität selbstbewusst verteidigt, entzieht autoritären Kräften langfristig die Grundlage.
Die nächsten Jahre werden entscheidend sein. Die Frage ist nicht nur, ob der Aufstieg der AfD begrenzt werden kann, sondern wie die Demokratie gestärkt aus dieser Bewährungsprobe hervorgeht. Es braucht strategische Klugheit und langfristiges Denken. Wenn die Demokratie handlungsfähiger wird, soziale Gerechtigkeit nicht nur verspricht, sondern ermöglicht, kann sie auch ihre Widerstandskraft gegen die Kräfte der autoritären Versuchung beweisen. Dabei sollte im Vordergrund stehen: Die Verteidigung der Demokratie ist kein Selbstzweck zum Machterhalt – sondern eine Frage der Zukunft eines angstfreien und guten (Zusammen-)Lebens aller Menschen.
Zitierweise: Matthias Quent, „Eine Zäsur für die deutsche Demokratie?", in: Deutschland Archiv vom 03.03.2025. Link: www.bpb.de/559992. Alle im Deutschlandarchiv veröffentlichten Beiträge sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
QuellentextDas Wahlergebnis der Bundestagswahl 2025 im Detail
Prof. Dr. Matthias Quent lehrt seit Mai 2021 Soziologie für die Soziale Arbeit und ist Vorstandsvorsitzender des Instituts für demokratische Kultur an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Er ist Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena und weiterhin affiliierter Wissenschaftler am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Polarisierung und Zusammenhalt, Klimarassismus und rechte Reaktionen gegen ökologische Transformation und gegen Klimagerechtigkeit. Er beschäftigt sich außerdem mit den sozialen Folgen von Digitalisierung und Mediatisierung und Möglichkeiten der Demokratisierung in sozialen Netzwerken. Quent studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Neuere Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und University of Leicester. Er war Sachverständiger für Untersuchungsausschüsse des Thüringer Landtags, des Deutschen Bundestags sowie im sächsischen Landtag und für die Stadt München (2017). 2012 erhielt Quent den Nachwuchspreis des Forschungsschwerpunkts Rechtsextremismus/ Neonazismus der Fachhochschule Düsseldorf und 2016 den Preis für Zivilcourage der Stadt Jena. Mehr unter: https://www.idz-jena.de/ueber-das-institut/mitarbeitende/matthias-quent.