Verrückter kann die Welt nicht werden, oder doch? Präsident Donald Trump sitzt am Schreibtisch im Oval Office, Elon Musk steht daneben, sein Sohn turnt auf seinen Schultern. Am selben Tag kann man in der New York Times lesen, der Präsident äußere hier und da, dass es doch eine dritte oder sogar eine vierte Amtszeit für ihn geben müsse, auch wenn das bisher von der Verfassung ausgeschlossen ist. Dann werden Journalisten der Associate Press von Events im Weißen Haus ferngehalten, weil ihr Arbeitgeber die kürzlich dekretierte Umbenennung des Golfs von Mexiko zu Golf von Amerika noch nicht vollzogen hat. Und JD Vance zur Münchener Sicherheitskonferenz erklärt der deutschen Öffentlichkeit auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die Brandmauer müsse fallen und man solle mit der rechtsextremen und russlandfreundlichen AfD zusammenarbeiten.
Das ist nur eine Auswahl bizarrer Statements und politischer zweifelhafter Äußerungen, die – neben dem Ergebnis der Bundestagswahl bei uns – unser politisches Selbstverständnis herausfordern. Zeitgleich finden in den USA auf offener Bühne Rechtsbrüche statt, wird die Gewaltenteilung angegriffen, die unabhängige Presse attackiert, werden Richter und Staatsanwälte unter Druck gesetzt. Die große Kulturleistung der Demokratie, Grund- und Freiheitsrechte für alle zu garantieren, die Meinungsfreiheit hochzuhalten, rechtsstaatliche Prinzipien zum Maßstab auch für die Mächtigen zu machen, Interessen auszugleichen und Konflikte zu befrieden, gerät ins Wanken.
Die vergangene Woche war ich als Gast an der Harvard University, wo diese Entwicklungen ein heiß debattiertes Thema sind. Unter meinen Gesprächspartnern waren einige der kundigsten Analysten amerikanischer Politik. Auch sie erkennen die Dramatik der Entwicklungen, sehen die Demokratie auf der Kippe. Offen sprechen einige vom Staatsstreich von oben. Noch nie in der Geschichte der USA war die Machtfülle weniger Personen durch die Verschmelzung politischer, wirtschaftlicher und medialer Macht so groß, noch nie war die Bereitschaft zum Machtmissbrauch so offenkundig, noch nie setzte man sich mit so großem Eifer über rechtsstaatliche Haltelinien hinweg.
Die Demokratie auf der Abbruchkante
Doch wie ist es möglich, dass niemand einschreitet, dass sich keine Gegenwehr formiert? Wer um alles in der Welt sollte sich eine Demokratie an der Abbruchkante wünschen? Warum reagiert die Zivilgesellschaft so verhalten, warum durchziehen keine Massenproteste das ganze Land?
Das war während der ersten Präsidentschaft Trumps noch anders. Der Women's March on Washington am Tag nach der Inauguration im Januar 2017 gilt als der größte Einzelprotest in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Fast eine halbe Millionen Menschen nahmen allein in der Hauptstadt daran teil. Nunmehr bleiben die öffentlichen Plätze leer. Resignation macht sich breit. Man sieht sich einem fast übermächtigen und rücksichtslosen Gegner gegenüber, der so viele Attacken reitet und mit immer neuen Ankündigungen überrascht, dass man kaum dazu kommt, sich zu sammeln. Die Widerstandkraft der Zivilgesellschaft erlahmt, die ersten Richter beugen sich dem Druck. Viele kritische Köpfe sehen entgeistert und fast ohnmächtig zu, was da im Zeitraffer an demokratischer Erosion vor sich geht.
Gefühl der Ermächtigung
Die Widerstandsschwäche liegt auch darin begründet, dass beträchtliche Teilen der Bevölkerung das Vorgehen von Musk und Trump gutheißen. Dies betrifft vor allem einfache Arbeitnehmer. In ihren Augen sind die beiden keine Gefahr, sondern der Rettungsanker in der Malaise der Gegenwart. Das krasse Agieren im Weißen Haus wird nicht als illegitime Machtübernahme verstanden, sondern als Vollzug dessen, was sich weite Teile der Bevölkerung wünschen. Wie schon beim Brexit-Slogan »Take back control« tritt dabei auch ein Gefühl der Ermächtigung hervor, das paradoxerweise darin besteht, mächtige Männer mit noch mehr Macht auszustatten. Sie werden als verlängerter Arm von »Volkes Wille« verstanden, die rabiaten Angriffe auf staatliche Behörden, die Bürokratie und das Justizwesen als Befreiungsschlag. Nicht wenige Menschen macht es stolz, was da im Oval Office vor sich geht.
Selbst der von Libertären geprägte Begriff der Disruption ist nunmehr gesellschaftsfähig geworden und ruft sogar freudige Zustimmung hervor. Disruption zielt auf eine radikale Umwälzung oder Veränderung bisheriger Verhältnisse. Auch Biederkeits- und Harmoniemileus, die eigentlich nicht aufgestört werden möchten, und die auf die Schutzmacht der Politik angewiesen, lassen sich vom revolutionär-umstürzlerischen Gestus anstecken. Die soziale und politische Energie, auf die sich der neue Rechts-Libertarismus stützen kann, stammt auch von Bevölkerungsgruppen, deren Werte eigentlich nicht darauf hindeuten, dass sie für Neues und Unvorhergesehenes empfänglich sind.
Veränderungserschöpfung und Disruptionslust damit sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten einer Medaille. Es gibt ein Verlangen danach, sich unbequemer und herausfordernder Problemlagen mit einem Befreiungsschlag zu entledigen. Es gibt den Wunsch, aus den eingefahrenen Gleisen herauszuspringen. Disruption erfüllt also die Sehnsucht nach einem Ausstieg aus einer verkorksten und komplizierter werdenden Welt, in der einem immer mehr Veränderungen zugemutet werden. Es steht für einen politischen Eskapismus, wenn die Verhältnisse zu unübersichtlich werden. Die Libertären sagen den Menschen: Jetzt ist der Zeitpunkt, um einen radikalen Bruch der bestehenden Ordnung herbeizuführen, um Zwänge zu überwinden und endlich zu einer besseren Welt zu kommen. Wir stellen Verhältnisse her, die auf eure Bedürfnisse zugeschnitten sind, befreien euch von allen Ärgernissen.
Hier geht es um Politik pur, ungebremst von checks und balances, verfassungsmäßiger Einhegung, der Kontrolle durch eine Öffentlichkeit und der parlamentarischen Opposition. Es geht darum, sich die Welt durch die Ausübung von Macht verfügbar zu machen. Es geht um das ganz große politische Versprechen: Im Handumdrehen alle Beschränkungen des Politischen abzustreifen und Handlungsmacht zu maximieren. Der verbreiteten politischen Ohnmacht wird politische Allmacht gegenübergestellt, was beim Publikum zu (mindestens stellvertretenden) Selbstwirksamkeitsgefühlen führt. Das »Wir können, was die anderen nicht wollen« ist die ausgestreckte Zunge in Richtung der etablierten politischen und rechtlichen Ordnung. Wer einen solchen - wenn auch nur imaginierten - Volkswillen über alles stellt, braucht sich um die Verfassung nicht zu scheren. »Wer sein Land rettet«, so Donald Trump vor ein paar Tagen auf X »bricht kein Recht.«
Auch bei uns beginnen einige politische Akteure inzwischen, den Begriff der Disruption zu bewirtschaften und im Diskurs zu streuen – die marktliberalen Teile der (jetzt abgewählten) FDP, Alice Weidel und andere Radikale von der AfD, Ulf Poschardt von der Welt und führende Köpfe im Springer-Kosmos, versprengtes politisches Personal aus der zweiten Reihe der CDU, das sich in Wartestellung glaubt.
Die Testballons einer inhaltlichen Neuausrichtung auf Disruption steigen derzeit in die Höhe. Disruption, so viel sollte man aber inzwischen wissen, ist keine unschuldige Innovationsvokabel, sondern inzwischen ein politisches Programm zur Zerstörung der Institutionen der Demokratie. Eines, dass die radikalen Rechten über Grenzen hinweg verbinden soll. Jede andere Deutung ist naiv oder soll die wahren Absichten verschleiern.
Die USA, so haben die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Lucan A. Way in einem Artikel in Foreign Affairs jüngst deutlich gemacht, stehen nicht in der Gefahr, in eine Einparteiendiktatur abzurutschen. Es droht aber ein amerikanischen Autoritarismus, bei dem die Fassade der Demokratie noch steht, aber dahinter massive Verschiebungen stattfinden. Faire Wahlen und liberale Freiheitsrechte stehen zur Disposition, politische Wettbewerber und Minderheiten werden ins Abseits gedrängt, Falschinformationen werden gestreut, Entscheidungen von Gerichten ignoriert. Wer als illoyal gilt, wird abgestraft, willfährige Unterstützer hingegen belohnt. Die ganze administrative Maschinerie des Staatsapparates wird so umgebaut, dass die Trump-Regierung ungehindert durchregieren kann. Wer widerspricht, selbst wenn er sich auf die bestehende Gesetzeslage beruft, dem droht der Rauswurf. So entsteht eine Atmosphäre der Angst, die womöglich das Ende einer liberalen politischen Kultur einläutet.
Noch ist die Bereitschaft, in Leipzig, München, Köln und anderswo für die Demokratie auf die Straße zu gehen, recht hoch. Noch ist hierzulande die Anhängerschaft der Disruption überschaubar, allen gezielten politischen Vorstößen zum Trotz. Wann und unter welchen Umständen sich das ändern könnte, vermag heute niemand ernsthaft vorherzusagen. Auch nicht, wie widerstandfähig unser Justizsystem und die staatlichen Bürokratien im Fall der Fälle wären. Am Ende sind es Menschen, die sich von Ideologien verführen lassen und die sich opportunistisch den neuen Gegebenheiten unterwerfen oder eben nicht. Deswegen ist die Demokratie auf Demokraten angewiesen, die erkennen, wann Gefahr droht, und die sich nicht einschüchtern lassen.
Zitierweise: Steffen Mau, „Disruption. Die Revolution der Erschöpften", in: Deutschland Archiv vom 25.02.2025. Link: www.bpb.de/559824. Die Erstveröffentlichung erfolgte im SPIEGEL 9/2025 vom 22.2.2025, S. 114-115 unter dem Link www.spiegel.de/politik/politik-in-zeiten-des-wandels-erschoepfte-waehler-und-der-drang-zur-veraenderung-a-cae634b4-b5fd-4cc1-91bd-1e04adf74c43. Alle im Deutschlandarchiv veröffentlichten Beiträge sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Ergänzend:
Wolfgang Benz, Interner Link: Die nächste Zeitenwende, DA vom 23.2.2025
Jens Bisky, Interner Link: Wie Weimar ist die Gegenwart, DA vom 26.2.2025
Daniel Kubiak, Interner Link: Versäumte Lehren für die Bundestagswahl 2025, DA vom 22.2.2025
Susan Arndt, Interner Link: Überlegenheitsnarrative in Ost und West, DA 28.8.2024.
Martin Debes, Interner Link: Thüringen als Muster-Gau?, DA vom 2.9.2024
Weiter Wahlanalysen folgen in Kürze.