Der Wahltag am 23. Februar 2025 als Wendepunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte? Ein Zwischenruf des Historikers Wolgang Benz, den die gegenwärtige politische Lage in Deutschland an die Zeitenwende 1933 erinnert.
Es sind gleich zwei "Zeitenwenden", die wir derzeit erleben. Außenpolitisch die Abkehr der neuen US-Administration vom demokratischen Teil Europas und deren unbegreifliche Hinwendung zum diktatorisch regierten Russland, innenpolitisch die Bundestagswahl am 23. Februar 2025. Absehbar wird die Rechtsaußenpartei AfD dabei Deutschlands Osten flächendeckend "blau" dominieren, partiell aber auch im Westen zu einem Machtfaktor werden, wie unlängst ausgerechnet am Holocaust-Gedenktag, dem 29. Januar 2025, Seite an Seite mit der Union im Deutschen Bundestag unter Beweis gestellt.
Die Zeitenwende von 1933
Aber eine „Zeitenwende“ wurde in Deutschland schon mehrmals verkündet. So auch vor 92 Jahren, Ende Januar 1933. Man nannte sie erst „nationale Revolution“, dann „nationalsozialistische Revolution“. Die Nazi-Propaganda behauptete großmäulig, es sei eine „Machtergreifung“ gewesen. Aber der Start des Hitler-Regimes war weder das eine noch das andere.
Das folgenreiche Ereignis war das Ergebnis des Versagens der politischen Mitte, es geschah legal, im Rahmen der damaligen Reichsverfassung. Nach dessen Artikel 48, der dem Reichspräsidenten die Macht gab, bei fehlender Mehrheit im Parlament den Reichskanzler nach Gutdünken (oder auf Empfehlung ihm Nahestehender) zu ernennen, erhielt Adolf Hitler das Amt des Reichskanzlers. Damit begann das „Dritte Reich“. Der Reichspräsident war direkt vom Volk gewählt, er galt quasi als Ersatzkaiser und zehrte vom Kapital des populären Feldmarschalls Paul von Hindenburg im Ersten Weltkrieg.
Im Januar 1933 empfing Hitler aus der Hand des greisen Staatsoberhaupts die Insignien der Macht. Er dankte es ihm mit treuherzigem Augenaufschlag und rasch gebrochenen Schwüren beim Tag von Potsdam am 21. März 1933, der Inszenierung des Bündnisses der konservativen Elite mit den antidemokratischen Umstürzlern der NSDAP.
Vergessen, Verharmlosen, Verleugnen
Die derzeitige Renaissance rechtsextremer Ideologie setzt das Vergessen, Verharmlosen oder Verleugnen der Geschichte des Nationalsozialismus voraus. Deren Bilanz enthält mehr als 50 Millionen Menschenleben, die durch Staatsverbrechen, Völkermord, Krieg, Flucht und Vertreibung vernichtet wurden. Nationalistischer Größenwahn führte außerdem zum Verlust der Hälfte des deutschen Staatsgebiets. Das wäre zu erinnern, um aus der Geschichte zu lernen.
Die Tür geöffnet hatten Hitler damals die bürgerlichen Feinde der Demokratie. Franz von Papen, erfolgreich als Herrenreiter, aber gescheitert als Diplomat, Politiker und Reichskanzler im Jahr 1932, hatte das Staatsoberhaupt, den senilen Hindenburg, überredet, Hitler zum Kanzler zu ernennen. Im Amt wollten sie ihn zähmen, für ihre eigenen Ziele – einen reaktionären Obrigkeitsstaat – einspannen und dann abservieren, prahlten die Konservativen. Der Steigbügelhalter Papen gab den Vizekanzler, der Medienzar Hugenberg den Superminister für Wirtschaft, Ernährung und Landwirtschaft. Der Bankier Hjalmar Schacht hatte Einfluss, und parteilose Reaktionäre hatten zusammen mit den Deutschnationalen die Mehrheit in der Hitlerregierung. Sie huldigten dem frommen Wahn, Hitler durch Zusammenarbeit einspannen und zügeln und für die eigenen Ziele benutzen zu können, um die Demokratie zugunsten eines autoritären Staates zu zerstören.
Zur absoluten Macht als Diktator verhalfen Hitler wenig später dann die bürgerlichen Parteien der Mitte. Hitler hatte ein „Ermächtigungsgesetz“ gefordert, das am 23. März 1933, zwei Monate nach dem Machterhalt durch den Reichspräsidenten, auf der Tagesordnung des Parlaments stand. Nach der noch geltenden Verfassung war eine Zweidrittelmehrheit des Reichstags erforderlich. Die 81 Abgeordneten der KPD konnten schon nicht mehr teilnehmen. 26 Sozialdemokraten waren verhaftet oder auf der Flucht. Es kam auf die Stimmen des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei an. Die beiden Vorgängerparteien von CDU und CSU entschieden sich für die Zustimmung zum „Ermächtigungsgesetz“. Denn der Parteivorsitzende des Zentrums, Prälat Ludwig Kaas, glaubte, auch eine Weigerung seiner Partei ändere nichts an den Machtverhältnissen und mit der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz, das heißt zur Kastration des Parlaments, ließen sich wenigstens kirchliche und religiöse Belange sichern. Um „Schlimmeres zu verhüten“ und um ihr Verhältnis zur NSDAP zu verbessern, lieferten sich die katholischen Abgeordneten, von denen viele kurz zuvor die NSDAP noch heftig bekämpft hatten, den nationalsozialistischen Forderungen aus, um wenig später erkennen zu müssen, dass deren im Gegenzug abgegebene Versprechungen nichts wert waren.
Auch die spärlichen Reste der Liberalen stellten „im Interesse von Volk und Vaterland und in der Erwartung einer gesetzmäßigen Entwicklung“ ihre „ernsten Bedenken“ zurück und stimmten der Blankovollmacht für die Nationalsozialisten zu.
Der Diktatur Hitlers standen nur die 94 Stimmen der SPD entgegen. Das Ermächtigungsgesetz war auf vier Jahre befristet, galt aber durch stete Verlängerung bis zum Ende des „Dritten Reiches“. Das Zähmungskonzept der Konservativen war innerhalb kürzester Zeit Makulatur, die Illusion der Konservativen zerstoben, Hitler und die NSDAP für die Errichtung eines autoritären Staats nach Papens und Hugenbergs Vorstellungen benutzen zu können. An den Illusionen des 30. Januar und des 23. März 1933 ging die Demokratie in Deutschland zum ersten Mal zugrunde. Die damalige Zeitenwende endete in der Katastrophe des Holocaust, dem Zweiten Weltkrieg, dem Untergang Deutschlands als Staat, unendlichem Leid von Menschen.
Die Neugründung der Demokratie in Deutschland, die 1945 mit der Befreiung von der nationalsozialistischen Ideologie nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft begann, versuchte, die Fehler von 1933 zu vermeiden. Das Grundgesetz zog die Lehren aus den Konstruktionsfehlern der Weimarer Reichsverfassung.
„Bonn ist nicht Weimar“
„Bonn ist nicht Weimar“ lautete 1956 ein Buchtitel des Journalisten Fritz René Allemann, der zur Metapher für die Stabilität der Demokratie der Bundesrepublik wurde. Der zweite Versuch nach dem Scheitern des ersten, der Weimarer Reichsverfassung von 1919, wurde als Lehre aus der Geschichte gefeiert. Die Bonner Republik, 1949 gegründet, 1990 durch den Beitritt der DDR zur „Berliner Republik“ erweitert, hatte die Konsequenzen aus dem Scheitern der „Weimarer Republik“ 1933 gezogen: Der Zersplitterung der Parteienlandschaft schob die Fünf-Prozent-Hürde einen Riegel vor, der im Laufe der Jahre den rechtsradikalen Parteien NPD, Republikaner und Deutsche Volksunion den Weg in den Bundestag versperrte. Als Lehre aus der Geschichte wurde auch das Staatsoberhaupt nicht mit der Macht ausgestattet, die der Reichspräsident in der Weimarer Republik gehabt hatte. Mit Hilfe des Artikels 48 hatte Präsident Hindenburg am Parlament vorbei Hitler auf den Stuhl des Reichskanzlers heben können. Aber zu wenig Vorsorge wurde möglicherweise dafür getroffen, die Feinde der Demokratie an der Demontage des Systems zu hindern, das sie nur für diesen Zweck nutzen. Ob dieses Versäumnis sich ein zweites Mal rächen wird, zeigt sich nach dem 23. Februar 2025.
Der Tabubruch vom 29. Januar 2025 im Bundestag
Nach dem Tabubruch der Union am 29. Januar 2025, mit den Stimmen der AfD im ersten Anlauf einen Antrag im Parlament durchzupeitschen und im zweiten, dem missglückten Handstreich, sogar ein Gesetz verabschieden zu wollen, sind die Beteuerungen, dass man „niemals“ und „unter gar keinen Umständen“ mit den Rechtsextremen, die man über alle Maße verabscheue, paktieren werde, leider so wohlfeil wie saures Bier.
Und unnötig sind sie auch. Denn der Pakt ist gar nicht nötig. Die Rechten treiben, sichtbar feixend und voller Schadenfreude, die konservativen Demokraten von der CDU und CSU und auch die anderen Vertreter der Mitte vor sich her. Die „Alternative für Deutschland“ setzt die Themen der politischen Agenda. Das ist die Zeitenwende des 23. Februar, die längst begonnen hat.
Dabei sind die Visionen der AfD überschaubar: Abweisung von Migranten, Austritt aus Europa, Abschaffung des Euro, Atomkraft statt Windenergie und Solaranlagen, mehr Kinder, weniger Steuern. Das Klimaproblem existiert für die Rechten nicht. Gefordert wird reichlich, durchdacht ist das Programm nicht, das die Zeitenwende bringen soll. Realisierbar ist es nicht, aber die Stimmung hat es bereits ruiniert. Und es weist nicht in die Zukunft, sondern zurück in finstere Zeiten. Das Vokabular, mit dem die Kehrtwende in die Vergangenheit betrieben wird, ist einschlägig. Es wurde schon einmal benutzt – „Umvolkung“, „Bevölkerungsaustausch“, „Überfremdung“ – oder in böser Absicht neu geprägt wie die Begriffe „Schuldkult“ und „Remigration“.
Die „Kompetenz“ der Geschichtsklitterer erwies sich, als sich die AfD-Co-Vorsitzende Alice Weidel mit dem Besitzer des Kurznachrichtendiensts X, Elon Musk, darüber austauschte, dass die Nazis Sozialisten gewesen seien und Hitler ein Kommunist. Welch gezielte Fälschung der Geschichte!
„Zeitenwende“ bedeutet Abschied von Errungenschaften, über die viele froh und glücklich sind. Die offenen Grenzen Europas werden der Vergangenheit angehören, wenn die Wünsche der Rechten mit konservativer Hilfe erfüllt sind. Die Schlagbäume und Schilderhäuschen, neu errichtet, um Fremde abzuwehren, schützen die Behaglichkeit der Wagenburg, die bräsige Enge des Nationalstaats, geben das trügerische Gefühl der Sicherheit. Helmut Kohl, Christdemokrat und großer Europäer, dreht sich gewiss im Grab.
Der Affektsturm, den Politiker und Politikerinnen aller Couleur nach den Anschlägen in Magdeburg am 20. Dezember 2024, Aschaffenburg am 22. Januar 2025 und München am 13. Februar 2025 entfachten, wird die Migrations- und Asylpolitik ein weiteres Mal in Abwehr verwandeln und eine der stolzesten Errungenschaften unserer Verfassung schleifen, den Grundsatz „politisch Verfolgte genießen Asyl“. Natürlich haben Kriminelle, Terroristen, islamistische Aktivisten keinen Anspruch darauf, in Deutschland zu leben. Illegale Einwanderer sind unerwünscht. Deren Ausweisung obliegt den Behörden und der Polizei. Die Schwierigkeiten sind bekannt, aber sie sind kein Grund, die Verfassung zu demontieren.
Umso schlimmer, dass der prominenteste Historiker der Nation, ein Sozialdemokrat, das Fundament unserer Demokratie beschädigt. Heinrich August Winkler (86) grübelt im Spiegel, rechtzeitig zur Zeitwende-Wahl, über die Intentionen der Gründungsväter des Grundgesetzes und kommt in vorauseilendem Eifer zum Schluss, so ernst gemeint sei die Erfahrung des Nationalsozialismus doch nicht gewesen, die einst dem Asylartikel ins Grundgesetz verholfen habe.
Solche Verfassungsexegese ist nicht nur der Sache nach falsch, sie fördert die Geschäfte der Demokratie- und Fremdenfeinde rechts außen.
Die Fremdenfeinde reden den Bürgern ein, die Abwehr von Migranten löse Probleme. Aber die Wirtschaft schwächelt, es fehlt überall an Arbeitskräften. Darauf machen Vertreter der Wirtschaft seit Jahr und Tag unisono aufmerksam. Wir brauchen Zuwanderung. Investoren überlegen jedoch genau, ob es sinnvoll ist, Geld in einer Volkswirtschaft anzulegen, in der Fachkräfte aus dem Ausland zwar dringend benötigt werden, aber als Menschen herzlich unwillkommen sind, denen Hass, Diffamierung, Rassismus und Gewalt entgegenschlägt. Diesen Zustand beklagt die Industrie schon vor einer Zeitenwende durch einen Wahlerfolg der AfD. Das gilt vor allem für die neuen Bundesländer. Das geringe Wachstum der Wirtschaft bereitet derzeit Sorge, es wird schlimmer, wenn Deutschland nach den Illusionen der Rechten ein völkisch geschlossener Nationalstaat geworden ist und von der Idee Europa Abschied genommen hat.
Diese Zeitenwende ist ein Albtraum
Europa war nach dem Zweiten Weltkrieg das Programm im Westen, das Frieden und Freiheit stiftete und materiellen Gewinn für alle Beteiligten brachte. Die verheißene Zeitenwende, die als Alternative zur Freizügigkeit das Land auf einen nationalen Lebens- und Wirtschaftsraum reduzieren will, Weltoffenheit verwirft, der Enge eines Deutschlands, auf das man stolz sein muss, den Vorzug gibt – diese Zeitenwende ist ein Albtraum. Denn die demokratischen Essentials, die auch den Unzufriedenen, den Verweigerern, den Demokratiemüden zugutekommen, sollen zugunsten der selbstzufriedenen Dumpfheit nach dem Motto „Deutschland den Deutschen“ über Bord geworfen werden. Diese Essentials heißen Toleranz, Respekt, Humanität, Interessenausgleich ohne Gewalt.
Auch wenn es nicht zum Schlimmsten kommt – einer Zeitenwende nach den Wünschen der neuen Faschisten und ihrer Wählerinnen und Wähler –, so ändert sich doch vieles. Und einiges hat sich gegenüber dem Ideal des demokratischen Staats mit einer demokratischen Gesellschaft schon geändert. Dazu gehören auch die neuen Formen und Strategien der Kommunikation. Es wird nicht mehr diskutiert und deshalb auch nicht argumentiert. Im Parlament ist es zu beobachten – in der Berichterstattung darüber lautet der gängige Terminus dafür „Schlagabtausch“ –, und in den Qualitätsmedien wird es Methode, lieber drei Autoren mit unterschiedlichen Positionen zu Wort kommen zu lassen, als diese zu diskutieren und durch kompetente Autorinnen und Autoren die Argumente gegeneinander abwägen zu lassen. In der Talkshow gilt Angriff mit Impertinenz und Emotion als Erfolgsgarantie, in den sozialen Medien geht es mit der Hasstirade oder der ebenso bedingungslosen Gefolgschaftsbeteuerung zur Sache.
Die Debatte als Austausch von Meinung und Sachargumenten wird, so fürchte ich, der Zeitenwende zum Opfer fallen, spätestens dann, wenn der jeweils eigene Standpunkt als Dogma verkündet wird, wenn nur noch unbedingte Zustimmung oder entschiedene Ablehnung geduldet sind. Das Miteinander in der demokratischen Gesellschaft, das auf dem Respekt vor der anderen Meinung beruht, auch wenn man sie nicht teilt, weicht der Konfrontation feindlicher Lager, die Problemlösungen durch Macht, in letzter Konsequenz durch Gewaltanwendung sucht.
Populisten, die man früher Demagogen nannte
Zur Kommunikation der Zeitenwende gehört, dass Fakten und Meinungen ineinander verschwimmen, dass Mutmaßung und Beweisbares, dass überprüfbare Tatsachen und Behauptungen beliebig eingesetzt werden, dass Ansicht und Vermutung, Lüge und Wahrheit gleichwertig den Diskurs bestimmen. Populisten, die man früher Demagogen nannte und wegen ihres Treibens verachtete, machen es als Influencer in Politik und Medien vor, agieren als Propagandisten der neuen Zeit. Der Präsident der Vereinigten Staaten kennt keinen Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit. Sein Erfolg macht Schule und beweist die Wirkung von Heilsversprechen durch Hetze gegen Andersdenkende.
Der ewige Nazi als Karikatur der Deutschen hat nicht nur in der US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie seit Jahrzehnten Konjunktur. Auch seriöse Medien in den USA interessieren sich bei gegebenem Anlass regelmäßig über den Zusammenhang von deutschem Nationalcharakter und der Nazi-Ideologie. Ob die Demokratie in Deutschland zunehmender Arbeitslosigkeit standhalte, war lange Zeit eine Standardfrage. Ob ein neuer Hitler vor der Türe stehe, wollte man jenseits des Atlantiks stets wissen, wenn ein paar Neonazis marschierten.
Jetzt haben wir die Situation, dass eine Partei Wahlerfolge feiert, die vom Verfassungsschutz in weiten Bereichen als rechtsextrem eingestuft wird, und deren Mandatsträger und Funktionäre zu einem erheblichen Teil durch Nazigesinnung, durch Mitgliedschaft in rechtsextremen Organisationen oder als Redner mit Parolen aus dem NS-Jargon auffällig geworden sind. Ist Lernen aus der Geschichte so schwer geworden?
In einer solchen Situation erscheint der neue Vizepräsident der USA, J.D. Vance, am 14. Februar 2025 auf der Münchner Sicherheitskonferenz, einem hochrangig besetzten, weltweit beobachteten privatwirtschaftlichen, politischen Forum, und flegelt – ja, ich sage flegelt – die Europäer wegen angeblicher Demokratiedefizite an. Weil sie, zum Beispiel in Deutschland, die Meinungsfreiheit missachtend, so undemokratisch seien, die „Alternative für Deutschland“ an der Agitation und möglicherweise der Teilhabe an der Macht zu behindern.
Der Herr aus Washington konnte, weil er aus der Hüfte schoss, nicht wissen, dass die AfD von ihrer Meinungsfreiheit jederzeit und überall ungehindert Gebrauch machen darf. Der Inhalt ihrer Botschaften macht es, aus der historischen Erfahrung des NS-Regimes, einer großen demokratischen Mehrheit zur Pflicht, diese Partei an der Machtausübung zu hindern. Donald Trumps Bote, der sich nach seiner Rede mit der Chefin der AfD zum Kaffee traf, scheint nicht zu wissen, welche Anstrengungen den Vereinigten Staaten von Amerika zu danken sind, wie viele junge Amerikaner sterben mussten, welcher finanzielle Aufwand geleistet wurde, um Deutschland und Europa vom Nationalsozialismus, der Diktatur aus rechtsextremer Gesinnung, zu befreien.
Absehbar wird Duckmäusertum Konjunktur haben
Sicher wird es auch nach der erneuten Zeitenwende keine Zensur geben, die Meinungsfreiheit bleibt gewahrt. Aber man wird, wie bisher auch schon, vorsichtig sein, nicht alles laut und deutlich zu sagen, was Anstoß erregen könnte. Über Alltagsrassismus, über Menschenrechte von Muslimen, über Israel reden viele schon jetzt lieber nur mit Gleichgesinnten oder gar nicht. Das Duckmäusertum wird Konjunktur haben.
Der Klimawandel und andere tatsächlich wichtige Themen spielen im öffentlichen Diskurs und derzeit im Wahlkampf keine Rolle. Fremdenfeindschaft, kundgemacht mit dem Schlagwort „Remigration“, das netter klingt als das barsche „Ausländer raus“, scheint das zentrale Anliegen dieser Zeitenwende. Das Ende der Aufklärung, der dramatische Verfall der Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnis, die Lust an Verschwörungstheorien, mit denen die Welt erklärt werden soll, das penetrante Besserwissen meinungsstarker Ignoranten sind die Merkmale einer neuen Zeit, die dem Rechtsruck der Mitte folgen wird.
Die linken oder grünen Politikerinnen und Politiker, die Sozialdemokraten und Christdemokraten, deren politische Positionen an Prägekraft verloren, weil sie zu oft taktischen Notwendigkeiten geopfert wurden, haben Glaubwürdigkeit bei der Wählerschaft eingebüßt. Der Rechtspopulismus einer angeblichen „Alternative für Deutschland“, die sich nach europakritischen Anfängen zur neuen Spielart des Faschismus radikalisierte und die mit Heilsversprechen und menschenfeindlichen Ressentiments als Programmersatz auf die Überholspur geriet, zeigt mit Naziparolen ihr wahres Gesicht, nämlich Demokratiefeindschaft.
Das war jahrzehntelang nur rechtsextremen Sekten und Neonazi-Zirkeln vorbehalten. Die Vorläuferparteien der AfD sind in der Versenkung verschwunden, nachdem sie ihre Unfähigkeit zu Problemlösungen, das heißt zu vernünftiger Politik, bewiesen hatten. Das ist jetzt anders. Die Akzeptanz bei unzufriedenen Bürgern und Bürgerinnen, die Unmut mit dem politischen System oder mit gesellschaftlichen Zuständen oder auch nur ihre individuellen Befindlichkeiten artikulieren wollen, indem sie eine rechtsradikale Partei ohne Programm, stattdessen aber mit der Bereitschaft zu Radau und Zerstörung wählen, ist längst ein Zeichen der Zeitenwende.
Diese Zeitenwende beginnt nicht erst nach dem Wahlsonntag am 23. Februar 2025, wenn sich auf Wahlkreisgewinnerkarten der Osten, wie schon 2024 bei der Europawahl, absehbar AfD-blau färben wird und sich im neu gewählten Bundestag die politische Mitte absehbar mit den Rechtsextremen arrangieren wird, um sich bei strittigen Themen Mehrheiten zu sichern oder untereinander gegen sie einigen muss.
Die Rechtsaußen treiben längst die Demokraten vor sich her, unterstützt von einer Reihe populistischer Medien mit großen Buchstaben. Insbesondere beim Thema Migration. Der Tabubruch, die Brandmauer gegen Rechtsextremisten einzureißen, ist gar nicht nötig, wenn die Demokraten den Demokratiefeinden in einer Art „Freiwilliger Selbstkontrolle“ entgegenkommen und die Themen, Thesen und Feindbilder übernehmen, die rechts am Rand laut aufgerufen werden.
Zitierweise: Wolfgang Benz, „Die nächste Zeitenwende", in: Deutschland Archiv vom 20.02.2025. Link: www.bpb.de/559656. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)