"Nur mittels der Reflexion der eigenen Standortgebundenheit, aber auch mit dem Blick auf das Orientierungsbedürfnis der jeweiligen Gegenwart lässt sich der Blick in die Vergangenheit tatsächlich als methodisch kontrollierte und reflektierte Wissenschaft betreiben."
Thomas Großbölting am 14.7.2020 im Deutschland Archiv
Den tragischen Unfalltod meines langjährigen Fachkollegen Thomas Großbölting am 11. Februar 2025 beim Zusammenstoß eines ICEs mit einem Sattelschlepper haben seine Weggefährten und Freunde mit tiefer Erschütterung aufgenommen. Alle, die Thomas kannten, waren von seiner Tatkraft und der schwungvollen Energie, die von ihm ausging, beeindruckt. In der letzten Zeit hat er Jahr um Jahr ein Buch nach dem anderen veröffentlicht, sich immer wieder in öffentliche Diskussionen eingemischt, Konferenzen und Tagungen geprägt, Studierende beraten und etliche wissenschaftliche Projekte geleitet.
Es ist keine Frage, Thomas hatte in seiner akademischen Laufbahn noch einiges vor. Geschätzt wurde er aber nicht nur aufgrund seiner akademischen Verdienste, sondern ebenso auch wegen seines gewinnenden Auftretens, seiner offenen und herzlichen Art und wegen seines sachlichen und vermittelnden Kommunikationsstils. Durch seinen klaren Blick auf die Dinge und seinen um Verständnis werbenden freundlichen Ton vermochte er es, in vielen Diskussionen Brücken zu bauen, kontroverse Debatten zu entkrampfen und mit weiterführenden Impulsen zu versehen.
„Eine positive religiöse Sozialisation“
Thomas Großbölting wurde 1969 in Dingden geboren, legte am St. Josef-Gymnasium in Bolten das Abitur ab und nahm nach dem Grundwehrdienst 1989 an den Universitäten Köln/Bonn und Münster das Studium der Geschichte, der katholischen Theologie und der Germanistik auf. Er setzte seine Studien als Erasmus-Stipendiat an der Staatlichen Hochschule La Sapienza sowie als Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung an der Päpstlichen Hochschule Gregoriana in Rom fort und schloss sein Studium 1994/95 in Münster mit dem Ersten Staatsexamen für die Sekundarstufen II/I ab.
In seiner Zeit als Jugendlicher und junger Erwachsener erlebte Thomas Großbölting nach seinen eigenen Worten eine „positive religiöse Sozialisation“, die ihn prägte und die auf ambivalente Weise auch seine späteren Studien zu den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche beeinflusste. Angesichts der Ergebnisse dieser Studien erschienen ihm diese guten Erfahrungen, so sagte er 2022 in einem Interview mit dem Kölner Domradio, bei dem er oft zu Gast war, „nun in einem neuen Licht und nicht in einem guten Licht, sondern absolut doppelbödig“.
1998 erwarb er mit einer Studie zu Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerlichung in Magdeburg und Halle den Doktortitel. Sein Doktorvater war der Historiker Hans-Ulrich Thamer. Gefördert wurde er in der Promotionszeit durch ein Stipendium der VW-Stiftung zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. In der Zeit nach seiner Promotion arbeitete er als Wissenschaftlicher Assistent und Oberassistent am Historischen Seminar der Universität Münster. Die Habilitation erfolgte im Jahr 2004 mit einer Arbeit über die Betriebs- und Gewerbeausstellungen des langen 19. Jahrhunderts in Deutschland. Sie wurde vier Jahre später unter dem Titel Im Reich der Arbeit. Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1913 in München veröffentlicht.
Intensiv die DDR im Blick
Die Jahre nach der Habilitation waren geprägt von einer Vielzahl schnell aufeinander Stellenwechsel um viele Aspekte der Forschung zu erfahren. Im Sommersemester übernahm Thomas Großbölting die Vertretung des Lehrstuhls für Neueste und Zeitgeschichte an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Im September 2005 wurde er Leiter der Abteilung Bildung und Forschung bei der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Berlin – eine Aufgabe, in der er die Personalverantwortung für 75 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besaß.
Zwei Jahre später folgte seine Annahme des Rufs auf die Professur für die Geschichte der Neuzeit (19. und 20. Jahrhundert) wiederum an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Von August 2008 bis April 2009 wirkte Thomas Großbölting im Rahmen eines vom Deutschen Akademischen Austauschdienst geförderten Programms als Distinguished Visiting Professor am Munk-Center for International Studies an der University of Toronto in Kanada.
Diese Jahre der vielfachen Stellenwechsel waren auch von einer verstärkten Beirats- und Gut-achtertätigkeit gekennzeichnet. Im November 2005 wurde er Mitglied im Fachbeirat Wissenschaft der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, im Januar 2007 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt. 2008 engagierte er sich bei der Beratung der Staatskanzlei Sachsen-Anhalt zur Vorbereitung des Gedenkjahres 2009. Im Mai 2008 wurde er Mitglied des Kuratoriums des Instituts für vergleichende Städtegeschichte der Universität Münster. Ebenfalls im Mai 2008 übernahm er das Amt des Vertrauensdozenten der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, ein Jahr später auch das des Vertrauensdozenten des Bischöflichen Cusanuswerks, womit er zugleich auch Mitglied im Auswahlgremium für die Bewilligung von Stipendien wurde. Außerdem wurde er im Juni 2008 zum Mitglied der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt gewählt.
Die Rolle von Religion in der Moderne
Als Thomas Großbölting im Mai 2009 schließlich auf die Professur für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster wechselte, sollte dies für die nächsten elf Jahre sein Wirkungsort bleiben. Er beteiligte sich als Principal Investigator an der Arbeit des gerade gegründeten Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“, an dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Politikwissenschaft, der Soziologie und der Ethnologie ebenso mitarbeiteten wie Theologen, Literaturwissenschaftler, Philologen und Juristen.
Im Rahmen dieses Forschungsverbunds leitete er mehrere Forschungsprojekte, engagierte sich in einer Arbeitsgemeinschaft zum religiösen Wandel der 1970er Jahre und übernahm Leitungsaufgaben im Vorstand des Exzellenzclusters. 2012 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Centrums für Religion und Moderne an der Universität Münster. Seit 2015 war er einer der Herausgeber der beim Campus-Verlag in Frankfurt/Main erscheinenden Reihe „Religion und Moderne“, die inzwischen mehr als 30 Bände umfasst.
Es war diese Zeit, als ich ihn persönlich kennenlernte und Thomas als einen Kollegen mit hoher fachlicher Kompetenz und als einen lebensfrohen, angenehmen Gesprächspartner schätzen lernte. Mit seiner Energie und seinem Optimismus brachte er manches Projekt zügig voran und verwandelte die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen, die bekanntlich nicht immer reibungslos verläuft, in ein produktives Unternehmen.
»Ein ›christliches Deutschland‹ gibt es nicht mehr.«
In diesen Jahren erschien sein wohl wichtigstes Werk
Ich erinnere mich, wenige Monate vor Erscheinen des Buches Der verlorene Himmel hatte ich mit Thomas ein längeres Gespräch in seinem Büro, in dem ich nochmals auf diese Forschungslücke hinwies. Er überraschte mich mit der Mitteilung, dass er seit einiger Zeit an einem solchem Buch arbeite und dass er die Arbeit daran in Kürze abschließen würde. In diesem Buch, das 2013 in Göttingen erschien und drei Jahre später in englischer Übersetzung auch auf den anglophonen Markt kam, konstatiert er, dass die engen religiösen Bande, die über Jahrhunderte das gesamte soziale Leben Deutschlands durchdrungen haben, inzwischen gekappt seien. Nüchtern resümiert er: »Ein ›christliches Deutschland‹ gibt es nicht mehr.« Und dies wohl unwiederbringlich. Eine Wiederentdeckung der verlorenen Transzendenz sei nicht zu erwarten.
Allenfalls einige populär-religiöse Praktiken wie fernöstliche Mystik und damit verbundene Meditationstechniken hätten zugelegt; aber auch sie kämen über den Status von Randerscheinungen nicht hinaus. Obwohl er den umstrittenen Begriff der Säkularisierung ausdrücklich vermied, bezeichnete er den religiösen Wandel, der sich seit 1945 in Deutschland vollzogen hat, als einen »beispiellosen Traditionsabbruch«.
Rückschläge, die ihn nicht bremsen konnten
Die Zusammenarbeit mit ihm sowohl im Exzellenzcluster als auch im Centrum für Religion und Moderne war konstruktiv und ergiebig. Aber es gab auch Misserfolge in unserer Kooperation, wie sie wohl zur akademischen Arbeit dazugehören. Der von uns gemeinsam bei der DFG gestellte Antrag auf Einrichtung einer Kollegforschergruppe mit dem Titel Dynamiken, Muster, Kausalitäten – Phasen des beschleunigten und radikalen religiösen Wandels im transepochalen und globalen Vergleich scheiterte mehrfach.
Ebenso wurden auch der Antrag auf Förderung eines Graduiertenkollegs Die DDR in Deutschland. Vergegenwärtigungen einer umstrittenen Ordnung sowie der Antrag zur Förderung eines Sonderforschungsbereichs (SFB) mit dem Titel Formalität und Informalität nicht genehmigt. Auf der Rückreise von der Präsentation unseres SFB-Antrags bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) von Bonn nach Münster, eine Stunde nachdem uns die Ablehnung mitgeteilt worden war, stand die von den Antragstellern sorgfältig ausgewählte Gruppe, die den Antrag vor den Gutachtern zu vertreten hatte, geknickt auf dem Bahnsteig und musste den Entscheid der DFG ihren Kolleginnen und Kollegen per Handy mitteilen. Thomas neigte den Kopf zur Seite, als suchte er Trost bei einem von uns, und setzte, indem er den Kopf wieder aufrichtete, mit einem Mal ein breites Grinsen auf. Diese neckische, ermutigende Geste bleibt mir unvergesslich.
2013 wurde er zum ordentlichen Mitglied der Historischen Kommission für Westfalen gewählt. 2017 wurde er Dekan des Fachbereichs Geschichte und Philosophie an der Universität Münster. 2018 gehörte er zu dem Münsteraner Team, das vor den internationalen Gutachtern der DFG erfolgreich den Antrag zur Weiterförderung des Exzellenzclusters verteidigte. Kurze Zeit später erschien bei der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn seine komplex angelegte Studie zu den Transformationsprozessen in Deutschland nach der Wiedervereinigung, die man als maßstabsetzend bezeichnen kann. Ihr Titel: "Wiedervereinigungsgesellschaft. Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1990".
Im Jahr 2020 rückte Thomas Großbölting in die Position ein, die er bis zu seinem tragischen Tod bekleidete: Er wurde Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) und Professor für Neuere Geschichte/Zeitgeschichte im Arbeitsbereich Deutsche Geschichte der Universität Hamburg. In den Hamburger Jahren weitete er seinen Wirkungskreis noch einmal aus und übernahm 2022 auch die Aufgabe des Geschäftsführenden Direktors der Akademie der Weltreligionen in Hamburg.
Engagierter Aufklärer sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche
Besondere Aufmerksamkeit erlangten seine Arbeiten zu den Fällen sexualisierter Gewalt im Bereich der katholischen Kirche. 2022 gab er gemeinsam mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Studie Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher im Bistum Münster seit 1945 heraus. Zeitgleich erschien sein besonders stark nachgefragtes Buch
Ebenso war er an der Erstellung der ForuM-Studie zur Aufhellung der Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche
Ein Blick auf die Vielfalt der Projekte, in die Thomas Großbölting involviert war und die er mit der ihm eigenen Tatkraft vorantrieb, macht deutlich, welche Lücken sein viel zu früher Tod hinterlässt und wie viele wissenschaftliche Beiträge von ihm noch zu erwarten gewesen wären. Mit seinem tragischen Tod verliert die deutsche Geschichtswissenschaft eine gewichtige Stimme.
Sowohl in seiner Münsteraner als auch in seiner Hamburger Zeit betreute er viele wissenschaftliche Arbeiten aus dem Kreis des akademischen Nachwuchses, dessen Förderung ihm besonders am Herzen lag. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte und für alle seine Schülerinnen und Schüler ist sein Tod ein besonders herber Verlust. Auch die Fachkollegenschaft trauert um ihn. Inzwischen sind eine Reihe Nachrufe erschienen
Ein persönlich hochintegrer Kollege
Für mich persönlich bedeutet sein Tod, dass ich mit ihm einen sowohl wissenschaftlich als auch persönlich hochintegren Kollegen und Denkanstoßgeber verloren habe. Das erste Mal traf ich ihn, als er auf einer Konferenz als Moderator eines Panels fungierte, auf dem ein Kollege und ich deutlich voneinander abweichende Meinungen vertraten. Thomas wies geschickt darauf hin, dass wir uns in einem entscheidenden Punkte doch gar nicht widersprechen würden. Erst im Nachhinein gestand ich ein, dass er Recht hatte. Aber es gab auch Fälle, in denen wir uns nicht einigen konnten, etwa, wenn es um den Grad der rechtlichen Bevorzugung der christlichen Kirchen gegenüber dem Islam ging. In anderen Fällen, etwa im öffentlich ausgetragenen Streit über die Bedeutung der Bürgerrechtler für die friedliche Revolution in der DDR, konnte er sich aber auch wieder mehr oder weniger deutlich auf meine Seite stellen
Zitierweise: Detlef Pollack, „Maßstabsetzend. Ein Nachruf auf Thomas Großbölting", in: Deutschland Archiv vom 20.02.2025. Link: www.bpb.de/559609. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Ergänzend:
Hans-Georg Golz und Thomas Krüger,
Beiträge von Thomas Großbölting in der bpb:
Thomas Großbölting:
Interner Link: Wem gehört die Revolution? , Deutschland Archiv vom 14.7.2020.Thomas Großbölting,
Interner Link: "Das religiöse Feld in Ostdeutschland. Von der Volkskirche über die Minderheitenkirche zur Avantgarde?" , DA vom 20.9.2022.Knut Andresen, Thomas Großbölting, Kirsten Heinsohn:
Interner Link: "Forschungsdefizite rechtsaußen" . Deutschland Archiv vom 13.2.2024.Thomas Großbölting, Video "Externer Link: Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1989/90", bpb-Buchmesse-Interview 2021.
Thomas Großbölting, Video
Interner Link: "Laizismus für Deutschland?" , bpb-Interview, 2019.Thomas Großbölting,
Interner Link: Geschichte und Gegenwart von Laïcité und "hinkender Trennung". Über Religionspolitik in Frankreich und Deutschland, APuZ vom 6.7.2018.Thomas Großbölting,
Interner Link: Geschichtskonstruktion zwischen Wissenschaft und Populärkultur, APuZ vom 8.10.2013.Thomas Großbölting,
Interner Link: Geteilter Himmel: Wahrnehmungsgeschichte der Zweistaatlichkeit , APuZ vom 23.2.2011.Thomas Großbölting, Buch
Interner Link: Der verlore Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Schriftenreihe der bpb 2013.Thomas Großbölting, Buch Externer Link: Wiedervereinigungsgesellschaft. Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1989, Schriftenreihe der bpb 2020 (vergriffen).
Thomas Großbölting, Buch
Interner Link: Die schuldigen Hirten . Über die Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, Schriftenreihe der bpb 2022.