Familie und Biografisches
Sharon Adler: Du wurdest in der drittgrößten Stadt Israels, in Haifa, geboren, wohin deine Eltern in den 1990er-Jahren aus der Sowjetunion eingewandert sind. Welchen Bezug hatten sie zum Judentum, und wie konnten sie es dort leben?
Esti Rubins: Meine Eltern wurden Anfang der 1970er-Jahre in der Sowjetunion geboren. Mein Papa ist in Dnipro [Ukraine] aufgewachsen. Er hatte schon früh ein jüdisches Bewusstsein und wollte sich zu jüdischen Themen bilden. Aber weil es nicht erlaubt war, hat er sich heimlich mit den jüdischen Texten auseinandergesetzt und seinen Lernprozess begonnen.
Meine Großmutter mütterlicherseits stammt aus Moldawien und der Vater meiner Mutter kommt aus Rumänien. Alle vier Großeltern waren jüdisch. Mein Opa war Shoah-Überlebender, und der Vater meiner Oma war General in der Roten Armee, worauf sie immer sehr stolz war. Mein Uropa und meine Oma waren überzeugte Kommunisten. Meine Mama hat erst im Kindergarten erfahren, dass sie jüdisch ist. Die Familie hat es verheimlicht, weil sie wusste, dass sie damit negativ konfrontiert werden würde. Das war dann auch in der Schule so. In ihrem Pass stand da, wo die Nationalität angegeben wurde, „Jüdisch“. Das war in der Sowjetunion so. Das war alles, was meine Mama wusste, und dass sie dafür gemobbt wurde. Sie hatte aber keine Ahnung, was „Jüdischsein“ eigentlich bedeutet. Aber sie bekam mit, dass meine Großeltern deswegen ein paar Mal die Arbeitsstelle wechseln mussten und entlassen wurden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat meine Mama angefangen, in Moldawien Ingenieurswissenschaften zu studieren, hat das Studium aber abgebrochen und ist mit Anfang zwanzig nach Israel gegangen. Sie war die erste in ihrer Familie, die Aliyah
Mein Papa ist direkt nach Abschluss der Schule mit 18 Jahren nach Israel eingewandert, und fing an, in verschiedenen Jeschiwot
Sharon Adler: Haben sich deine Eltern in Israel intensiver mit ihrer jüdischen Herkunft auseinandergesetzt? Welchen Stellenwert hatte Religion beziehungsweise Religiosität in eurer Familie?
Esti Rubins: Meine Mama hat erst in Israel angefangen zu verstehen, was Jüdischsein bedeutet. Mein Papa ließ sich nach dem Studium und dem Armeedienst zum Rabbiner ausbilden. So haben sie die Religion für sich entdeckt hat und wurden religiös.
In meiner Kindheit war die jüdische Religion so selbstverständlich, dass ich mir dessen gar nicht bewusst war, dass meine Eltern das nicht von zu Hause mitbekommen haben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man sich das so tief aneignen kann und wie sie das geschafft haben, es uns so einfach zu machen. Ich bin das älteste von fünf Kindern. Ich erinnere mich daran, dass meine Mama oft schwanger war, da sie mehrere Kinder nacheinander bekam. Ich erinnere mich daran, dass sie zu Hause war, weil sie schwanger war oder weil wir ein kleines Baby hatten, und Papa in die Synagoge oder in seine Gemeinde ging. Manchmal habe ich ihn begleitet. Als die Geschwister etwas größer waren, sind wir oft alle mitgegangen. Schabbat bedeutet für uns, zusammen zu sein und gemeinsam zu essen. Hebräisch habe ich im Kindergarten gelernt. Zu Hause haben wir meist Russisch und Hebräisch gesprochen.
Jüdische Identität war für mich so normal und selbstverständlich, dass ich mir bis vor ein paar Jahren dessen gar nicht bewusst war. Erst als ich andere postsowjetische Jüdinnen und Juden in meinem Alter kennengelernt habe, merkte ich, dass es für viele ein Struggle ist. Ich sehe heute, wie manche, die mit den Folgen der Sozialisation in der Sowjetunion aufgewachsen sind und die sich als erste in ihrer Familie mit dem jüdischen Glauben beschäftigen, überfordert damit sind. Und wie schwer es ist, alles zu lernen und zu verstehen, wenn man das nicht so kennt. Manche meiner gleichaltrigen Freundinnen und Freunde haben von den Eltern übernommen, dass die jüdische Identität Gefahr bedeutet, und sind mit der Angst vor Diskriminierung aufgewachsen.
Ich bin dankbar und fühle mich glücklich, dass ich so eine gesunde und starke Basis habe. Das ist für jüdische Menschen in meinem Alter in Deutschland kein Standard.
Sharon Adler: Du definierst dich als „modern-orthodox” –wie bist du zum orthodoxen Judentum gekommen? Wie hast du diesen Platz für dich gefunden?
Esti Rubins bei der Nevatim Conference „Together with you“, die vom 19. bis 21.Januar 2024 in Potsdam stattfand. (© Sharon Adler, Pixelmeer)
Esti Rubins bei der Nevatim Conference „Together with you“, die vom 19. bis 21.Januar 2024 in Potsdam stattfand. (© Sharon Adler, Pixelmeer)
Esti Rubins: Ich komme aus einer modern-orthodox religiös geprägten Familie. Mein Papa hatte verschiedene Lehrer und verschiedene Persönlichkeiten, mit denen er zusammen gelernt hat oder denen er in den Jeschiwoth begegnet ist. Darunter waren viele post-sowjetische Juden und Jüdinnen, die „Refuseniks“
Als Teenager war ich ein bisschen rebellisch drauf, wie man das in dem Alter so ist. Ich habe dann meine Experimente gemacht und auch mal mit den Regeln gebrochen, habe mich etwa gefragt, was passiert, wenn ich mein Handy an Schabbat anschalte? Ich habe das eine Weile durchgezogen, bis ich gecheckt habe, dass ich da eigentlich keinen Bock drauf hatte und dass das nichts für mich ist. Seitdem halte ich es so, wie ich es halte. Ich war mein ganzes Leben in jüdischen Schulen und hatte eine jüdische Erziehung. Obwohl die Erziehung und Bildung in jüdischen Schulen nicht immer der Erziehung entsprechen, die man zu Hause hat. Wenn man ein religiöses Zuhause hat, haben die Eltern manchmal andere Ansichten. Das ist ja auch normal.
Sharon Adler: Du hast erst die I. E. Lichtigfeld-Schule in Frankfurt am Main und später ein jüdisches Gymnasium in Straßburg besucht. Waren das auch religiös-traditionelle Schulen?
Esti Rubins: Die Lichtigfeld-Schule
Sharon Adler: Wenn du selbst heute eine jüdische Schule etablieren würdest, wie könnte diese gestaltet sein?
Esti Rubins: Ich würde jüdische Fächer für Jungs und Mädchen gleichermaßen unterrichten und keine unterschiedlichen Programme etablieren. Ich würde auch in Bezug auf Dresscodes auf gar keinen Fall so reagieren wie manche Lehrer in den Schulen, in denen ich war. Die haben Mädchen beschämt, wenn ihrer Meinung nach der Rock zu kurz war. Ich würde keine solche toxische Kultur für Mädels befürworten.
Sharon Adler: Du bezeichnest dich als „passionate about Jewish Feminism and Zionism“, als „modern-orthodox, feministisch und zionistisch“. Wie verknüpfst du diese Aspekte miteinander?
Esti Rubins: Auf Deutsch klingt das so hochgestochen, in Israel ist es selbstverständlicher, modern-religiös-zionistisch zu sein. Warum bin ich zionistisch? Warum fühle ich mich dem Zionismus zugehörig? Weil ich erstens gebürtige Israelin bin, und weil der Staat Israel meinen Eltern und teilweise meiner Familie das Leben gerettet hat. Ich weiß nicht, wo ich wäre, oder ob ich existieren würde, wenn es den Staat Israel nicht gegeben hätte, der Juden und Jüdinnen aus der Sowjetunion gerettet und befreit hat. Das ist mir quasi von zu Hause mitgegeben worden, und es ist ein großer Teil meiner Identität. Ich glaube, der modern-orthodoxe-religiöse Zionismus wird in Israel zumeist mit rechtspolitischen Positionen gleichgesetzt oder damit assoziiert. Was auch seine Gründe hat. Aber ich sehe mich nicht als rechts oder als konservativ. Davon distanziere ich mich. Mir ist die Existenz des Staates Israel wichtig, und ich fühle mich in Israel zu Hause. Warum bin ich Feministin? Weil ich es für selbstverständlich halte, dass Frauen gleichberechtigt sind und gleiche Rechte verdienen und bekommen sollten wie Männer.
Sharon Adler: Denkst du, dass Frauen in der Orthodoxie heute den Männern gleichgestellt sind?
Esti Rubins: Ich glaube, es gibt noch viel zu tun. Speziell für uns hier in Deutschland. Vielleicht ist es in Berlin anders, aber in den Einheitsgemeinden in Deutschland kann man nicht von derselben Orthodoxie sprechen, wie es sie zum Beispiel in den USA oder in Großbritannien gibt. Da, wo es wirklich große Communities gibt, die sich explizit als solche sehen und bezeichnen und alle Standards haben. Das gibt es in diesem Sinne hier nicht bis kaum. Ich glaube, hier fühlen sich gewisse Menschen, vor allem postsowjetische Jüdinnen und Juden, einer gewissen Orthodoxie oder einem traditionellen Judentum zugehörig, obwohl sie es nicht einhalten. Hier ist es einfach anders.
Die Gemeinden in Deutschland und das ist kein Geheimnis sind eher konservativ und von traditionellen Werten und Rollenbildern geprägt. Es gilt, eine Zielsetzung zu haben, und Frauen und andere Minderheiten in jüdischen Kreisen einzubeziehen. Da gibt es noch viel Arbeit. Aber auch in der Orthodoxie, von der man in Deutschland so nicht sprechen kann, gibt es viel zu tun. Zumindest in den Strukturen, aus denen ich komme und aufgewachsen bin. Sowohl in Europa als auch in Israel. Das ist auch der Sinn hinter meinem Podcast „Kol Achotenu“, nämlich eine Debatte darüber anzufangen, was hier fehlt und wie wir es besser machen können. Ohne ein negatives Licht auf die Orthodoxie oder das Judentum an sich zu werfen. Ohne Hass oder sonst was. Einfach nur zu sagen: „Hey Leute, hier gibt es Frauen, und die wollen einbezogen werden, und da ist nichts falsch dran.“
Der Podcast „Kol Achotenu“
Sharon Adler: Warum hast du den Podcast „Kol Achotenu“ ins Leben gerufen ?
Host des Podcasts „Kol Achotenu“, Esti Rubins: Meine Gästinnen kommen mit verschiedenen Perspektiven und unterschiedlichen Positionen. Ich achte sehr darauf, dass es immer einen biografischen Aspekt und Vielfalt gibt. (© Sharon Adler, Pixelmeer)
Host des Podcasts „Kol Achotenu“, Esti Rubins: Meine Gästinnen kommen mit verschiedenen Perspektiven und unterschiedlichen Positionen. Ich achte sehr darauf, dass es immer einen biografischen Aspekt und Vielfalt gibt. (© Sharon Adler, Pixelmeer)
Esti Rubins: Kol Achotenu ist Hebräisch und bedeutet „Die Stimme unserer Schwestern“. Und genau darum geht es, um die Stimmen von jüdischen Frauen. Der Gedanke war, dass Frauen und Mädchen miteinander interessante Gespräche führen, aber es nur wenige Formate gibt, die diese Diskussionen, in denen sie Dinge erzählen, von denen man sonst nichts hört, veröffentlichen. Frauen haben fantastische Geschichten, fantastische Ideen und Meinungen und Perspektiven. Ich habe danach gesucht, wie ich das bestärken und Frauen eine Bühne geben könnte. Das war die Idee. Wenn man Menschen die Möglichkeit geben will zu sprechen, anstatt für sie zu sprechen, muss man ihnen selbst das Mikrofon übergeben. Es ist ein geschützter Raum, in dem wir uns austauschen.
Sharon Adler: Wer sind deine Gästinnen, und welche Themen willst du abbilden? Kannst du uns bitte etwas Input zum Inhalt und Austausch mit deiner Gästin im jeweiligen Podcast geben?
Esti Rubins: Meine Gästinnen kommen mit verschiedenen Perspektiven und unterschiedlichen Positionen. Ich achte sehr darauf, dass es immer einen biografischen Aspekt und Vielfalt gibt. Im Endeffekt geht es um Repräsentation von verschiedenen biografischen Aspekten. Im Podcast „Gemeindestrukturen in Deutschland und Frauen im Orthodoxen Judentum – ein Gespräch mit Anastasia Quensel“ hat sie als Gemeinderatsmitglied der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, die drei Kommissionen vorsteht, über die Strukturen der Gemeinde gesprochen und beleuchtet, inwiefern Frauen dort repräsentiert sind und wie dort die Lage ist. Und sie hat als orthodoxe Frau auch darüber gesprochen, was ihre Perspektiven sind. Sie ist als Projektkoordinatorin im Bereich Bildung für das Kinder-, Jugend- und Familienreferat der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland tätig und ist Gründungsmitglied und Vizepräsidentin von Jewish Experience e.V. Zudem referiert sie zum Thema modernes Judentum und jüdische Frauen in der Orthodoxie.
Rebecca Blady ist orthodoxe Rabbinerin in Berlin. Sie leitet die Organisation „Hillel Deutschland“ und organisiert das „Festival of Resilience“. In der Podcast-Folge „On being an orthodox female Rabbi, Tzniut trauma and Halacha – a conversation with Rabbi Rebecca Blady“ hat sie darüber gesprochen, welche Möglichkeiten Frauen im orthodoxen Judentum haben, sich zu bilden. Und es ging um bestimmte Herausforderungen und Missstände, denen Mädchen vor allem in orthodoxen Strukturen begegnen. Ich nenne es Trauma. Nicht in psychologischer Hinsicht, sondern es geht um die Erfahrungen, die junge Mädchen und junge Frauen machen, wenn religiöse Gebote wie etwa Bescheidenheit (modesty) gegen sie verwendet werden. Und wie unangemessen das ist und wie sehr es „Slutshaming“
Sharon Adler: Du fragst auch danach, wie die Frauen aufgewachsen sind, wie sich ihr Bezug zur Orthodoxie entwickelt hat; was ihre jüdische religiöse Identität in ihrem Leben bedeutet. Oft geht es um das Wissen, das weitergegeben wird. Ist dir das ein besonderes Anliegen?
Esti Rubins: Das Judentum lebt von Generation zu Generation. Traditionell war es eher so, dass es die Frauen waren, die das Wissen und die Weisheit weitergegeben haben, denn sie waren immer zu Hause und haben sich um die Kinder gekümmert, dadurch hatten sie einen Rieseneinfluss auf sie. Da Frauen jedoch nicht geschrieben
Sharon Adler: Was bedeutet für dich die Abbildung weiblicher jüdischer Vorbilder und Vorreiterinnen?
Esti Rubins: Für mich hat das im postsowjetischen Kontext eine besondere Bedeutung. Warum ist es wichtig? Weil Frauen immer noch die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, beziehungsweise jüdische Frauen die Hälfte der jüdischen Bevölkerung ausmachen, sie aber in den innerjüdischen Strukturen unterrepräsentiert sind. Es kann keinen objektiven Grund dafür geben, warum das so ist. Es ergibt keinen Sinn. Damit werden Frauen verletzt, und zwar in dem Sinne, unsichtbar und übersehbar zu sein. Mädchen müssen wissen, dass sie Optionen haben, dass sie Möglichkeiten haben. Und nicht erst aufwachsen und dann lernen, dass das so sein kann. Sondern sie müssen von vornherein auch gezeigt bekommen und sehen, dass es viele Möglichkeiten gibt. Und dass Frauen vor ihnen diese schon genutzt haben. Zumindest in meiner Erfahrung ist es auch so crazy zu sehen, dass ich das Rad nicht immer neu erfinden muss. Es gibt die Arbeit von Frauen, die über Jahre hinweg unsichtbar geblieben ist. Und die ich nicht mitbekommen habe, was ich einfach nur schade finde.
Sharon Adler: Welche historischen Vorbilder hast du selbst im Kontext von rabbinisch gelehrten Frauen?
Esti Rubins: Ich habe viele biblische Vorbilder. Darüber habe ich erst letztens geschrieben. Zum Beispiel Batya.
Sharon Adler: Der Fokus deines Podcasts liegt auf Feminismus im orthodoxen Judentum. Wie wird das Format angenommen?
Esti Rubins: Die Resonanz ist bescheiden, aber interessant. Manchmal sagt mir jemand: „Übrigens, ich habe die Folge gehört. Voll nice.“ Also so kleine Sachen, und da merke ich schon, dass hinter der Web-Statistik des Podcasts reale Menschen erreicht werden. Ich glaube, der Bedarf liegt darin, dass es so etwas in dieser Form bisher nicht gab, vor allem nicht bezogen auf die jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Anders als im englischsprachigen Raum, wo verschiedene Podcasts von und für jüdische Frauen existieren. Aber auch wenn ich eine Folge auf Englisch mache, geht es um die deutschen jüdischen Räume. Ich glaube, dass eine Besonderheit darin liegt, dass die Leute das Gefühl haben: „Es geht um uns. Das ist für uns von uns.“ Ich würde gerne viel mehr Folgen machen, als ich es aktuell aus organisatorischen Gründen kann.
Sharon Adler: Was bedeutet es für dich, eine, wie du sagst, „weibliche feministische Perspektive aufs Judentum“ mit einem Fokus auf das orthodoxe Judentum in einem eigenen Podcast-Format zu beleuchten und abzubilden?
Esti Rubins: Der Sinn wird immer sein, die Perspektiven für jüdische Frauen zu bestärken und zu beleuchten. Ob es – wie in der ersten Folge – um Repräsentation in Führungspositionen in den Gemeinden und in orthodoxen Strukturen und ihre Perspektiven geht; ob es sich darum dreht, dass Frauen Rabbinerinnen sein können oder darum, die Stimmen von Frauen nach dem 7. Oktober 2023
Sharon Adler: Du engagierst dich auch im Team des Jewish Women Empowerment. Wie wichtig ist deiner Meinung nach ein safe space, ein geschützter Raum, wo sich jüdische Frauen und Mädchen austauschen können? Und wie wichtig ist dabei ein safe space gerade zum Lernen von jüdischen Texten?
Esti Rubins: Ich finde an sich nichts Falsches am gemeinsamen Lernen von Frauen und Männern. Aber es ist aus meiner Sicht besonders, wenn Frauen von Frauen und noch dazu gemeinsam lernen. Ich denke, das hat was. Nicht, weil Männer schlechte Lehrer sind, aber weil es so wenige sichtbare, explizit lehrende oder gelehrte Frauen gibt. Ein safe space bedeutet für mich, dass man Aspekte von sich nach außen tragen kann. Was man nicht könnte, wenn man sich nicht gut dabei fühlt. Leider ist es teilweise immer noch so, dass Frauen, wenn Männer im Raum sind, oder wenn sie von Männern lernen, nicht ihr volles Potenzial ausschöpfen. Weil sie sich nicht gut genug fühlen, oder weil sie das Gefühl haben: „Oh, das, was ich jetzt sage, ist vielleicht dumm.“ Der „Jewish Women Empowerment Summit“ ist ein solcher safe space und auch ein Event. Aber es geht nicht nur um das Tora-Lernen. Es gab auch schon sehr besondere Momente, als wir am Schabbat den Kiddusch, also das Gebet, vor einer geöffneten Tora-Rolle gesprochen haben. Normalerweise sehen wir Frauen die Externer Link: Tora-Rolle nicht, weil wir [in orthodoxen und traditionellen Gemeinden] nicht an der Bima
Der 7. Oktober 2023. Das Schweigen und Verschweigen der Fraueninitiativen und Feminist*innen
Sharon Adler: Am 7. Oktober 2023 wurden Frauen und Mädchen in Israel gezielt Opfer massiver sexualisierter Gewalt. Obwohl die Beweislast
Anlässlich des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen 2023 hat die JSUD vor der Berliner Geschäftsstelle von UN Women Deutschland zum „stillen Protest“ aufgerufen. Esti Rubins: "Es ging uns um den Austausch. Wir, jüdische Feministinnen, darunter auch Hanna Veiler, wollten einen Dialog und intervenieren. Wir haben unsere Perspektiven und die Dinge, die uns gestört haben, die der Auslöser für unseren Protest waren, genannt." (© Sharon Adler, Pixelmeer)
Anlässlich des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen 2023 hat die JSUD vor der Berliner Geschäftsstelle von UN Women Deutschland zum „stillen Protest“ aufgerufen. Esti Rubins: "Es ging uns um den Austausch. Wir, jüdische Feministinnen, darunter auch Hanna Veiler, wollten einen Dialog und intervenieren. Wir haben unsere Perspektiven und die Dinge, die uns gestört haben, die der Auslöser für unseren Protest waren, genannt." (© Sharon Adler, Pixelmeer)
Esti Rubins: Antisemitismus ist die einzige Erklärung. Ich glaube, es ist teilweise so, dass in einem antisemitischen Weltbild Juden und Jüdinnen keine Opfer sein können oder Personen, denen Ungerechtigkeit angetan wird. Sondern dass wir in diesem Weltbild diejenigen sind, die diese Ungerechtigkeiten verüben. Dass wir die Macht haben und die Welt kontrollieren. Die Menschen denken einfach nicht an uns in dem Sinne. Was auch total verrückt ist, weil jüdische Frauen historisch die feministische Bewegung stark geprägt haben. Es war nie so, dass wir abseits des Geschehens waren. Wir haben uns nicht abgeschottet, sondern wir waren immer da. Es kann niemand behaupten, dass sie uns nicht bemerkt und nicht gesehen haben. Die Entsolidarisierung ist gewollt und gezielt.
Sharon Adler: Was hat das Schweigen und Verschweigen bei dir bewirkt?
Esti Rubins: Ich bin aktuell dabei, Kol Achotenu als Organisation aufzubauen. Wir sind in unseren Anfangsschritten, und das ist momentan meine Hauptbeschäftigung. Ich hatte viele Ziele, Ideen, die ich umsetzen wollte, und ich war sehr auf interkulturelle und interreligiöse Allianzen mit verschiedenen Frauen und Organisationen bedacht. Das kann jetzt alles in den Müll.
Sharon Adler: Anlässlich des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen 2023 hat die JSUD
Esti Rubins: Es ging uns um den Austausch. Wir, jüdische Feministinnen, darunter auch
Sharon Adler: Wie integrierst du deine modern-orthodoxe Lebensweise in deinen Alltag in einem mehrheitlich nichtjüdischen Umfeld?
Esti Rubins: Ich finde meine Lebensweise nicht per se unmodern. Ich bestehe einfach auf meine Werte und mein Judentum. Dazu gehört, dass ich von Freitag bis Samstag nicht ans Handy gehe und nicht antworte. Keine Mails, keine Nachrichten, nichts. Ich mache das, weil mir das gut tut. Ich brauche Schabbat für meine mentale Gesundheit. Ich gehe auch keine Kompromisse ein, weil ich mich nicht dafür entschuldigen oder rechtfertigen werde, dass ich etwas tue, was gut für mich ist. Aber natürlich lebe ich in einer kleinen Stadt, beziehungsweise in einer nicht sehr jüdisch geprägten Stadt. Deswegen ist es zum Beispiel immer noch schwieriger, koschere Lebensmittel einzukaufen. Also das, was es nicht in Supermärkten gibt. Das ist schon anstrengend, da muss ich etwas viel zu teuer im Internet bestellen, was dann zum Beispiel aus Belgien hierher gebracht wird. Oder mal irgendwo hinfahren. Da wäre es schon einfacher, in einer kleinen Gemeinschaft zu leben, wo es die Dinge gibt, die ein jüdischer Mensch braucht. Aber sonst funktioniert alles irgendwie. Menschen, die es nicht verstehen oder nicht respektieren können, müssen ja nicht in meinem Umfeld bleiben.
Sharon Adler: Wurdest du an Schabbat oder an einem anderen jüdischen Feiertag schon mal zu einer Veranstaltung mit einer explizit jüdischen Thematik eingeladen? Wie reagierst du darauf?
Esti Rubins: Ich sage halt ab. Wenn es passiert, dann sage ich: „Sorry, es ist Schabbat, den ich einhalte.“ Und dass ich nicht kommen kann. Aber gewisse Menschen oder Organisationen laden wiederholt an einem Schabbat ein. Dann denke ich mir: „Okay...“ Einmal nehme ich das niemandem übel. Obwohl ich schon finde, dass, wenn man jüdische Menschen zu sich einlädt und in seine Veranstaltung mit einbeziehen möchte, man dann berücksichtigten sollte, dass die wahrscheinlich nicht an einem Freitagabend oder Samstagmorgen kommen können. Aber wenn man das nach mehrfachem Erwähnen nicht ändert, dann sehe ich keinen Grund mehr, mich bei der Organisation einzubringen.
Sharon Adler: Es gibt vonseiten der Politik bislang keinen einheitlichen Umgang mit der Regelung an der Teilnahme von Klausuren hinsichtlich des Einbezugs jüdischer Feiertage, sodass jüdische Studierende daran teilnehmen müssen. Wenn du dazu einen Claim für eine Petition verfassen würdest, wie würde der lauten?
Esti Rubins: Jüdische Studierende berücksichtigen! Gerade in diesen Zeiten.
Zitierweise: Interview von Sharon Adler mit Esti Rubins: „Ich begreife mich als modern orthodox, feministisch und zionistisch“, in: Deutschland Archiv, 13.02.2025, Link: www.bpb.de/559467, ali