Sharon Adler: Folgende Mottos hast du auf deinem Instagram-Account
Rebecca Rogowski: Ich hatte immer das Gefühl, dass ich dazu erzogen wurde, meinen Mund aufzumachen. Gerade, wenn es darum geht, für andere einzustehen. Dass unsere Familie politisch links geprägt ist, war auch wichtig. Dazu gehört auch die Geschichte meines Urgroßvaters mütterlicherseits, Wilhelm Horowitz. Er war Rechtsanwalt, und ihm wurde nach der Machtüberahme der NSDAP die Zulassung
Mich hat vor allem sein Sohn, also mein Großvater, geprägt. Er musste mit seinen Eltern als Kleinkind aus Berlin vor den Nazis fliehen und ist in Israel aufgewachsen. Mitte der Sechzigerjahre kam er mit seiner Mutter nach Deutschland zurück.
Es ist interessant, dass er mit seinen Kindern nie so viel und intensiv über die Shoah gesprochen hat wie mit mir. „Du bist niemandes Opfer“, sagte er oft zu mir. Und er erzählte mir vom Warschauer Ghettoaufstand und legte Wert darauf, dass ich weiß, wer der jüdische Widerstandskämpfer Abba Kovner
Sharon Adler: Warum, denkst du, ist Sophie Scholl den meisten ein Begriff und in jedem Lehrbuch vertreten, während jüdische Widerstandskämpferinnen in kaum einem Geschichtsbuch vorkommen?
Rebecca Rogowski: Es ist halt einfacher für die Leute, sich auf Sophie Scholl
Die Shoah wird oft mit einer kompletten Distanz vermittelt, oder es wird dieses krasse „German Guilt“
Die jüdische Organisation „Hillel“
Sharon Adler: Du hast Judaistik sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitest heute als Bildungsreferentin bei Hillel Deutschland.
Rebecca Rogowski: Hillel Deutschland ist ein Verein, der unter dem Schirm von Hillel International arbeitet, eine Organisation, die in den USA gegründet wurde und dort eine starke Präsenz hat und an Campus agiert. Das ergibt für die deutsche jüdische Infrastruktur keinen Sinn, aber wir haben mehrere Standorte. Unser Hauptbüro ist in Berlin, wo auch die meisten Festangestellten sind, aktuell sind wir acht und wachsen noch. Wir organisieren bundesweit soziale, kulturelle und religiöse Events, wo jüdische Leute zusammenkommen können. Wir agieren komplett autark.
Hillel hat drei Säulen. Die eine ist jüdische Religion und Textbildung beziehungsweise Jewish Education, wozu ich gehöre. Dann gibt es den sogenannten Leadership-Part mit dem Leadership Incubator. Ziel ist es, damit junge jüdische Menschen zu befähigen, selbst eine Bewegung in ihrem Umfeld zu starten oder in leitende Funktionen zu gehen. Dafür fördert uns die Alfred Landecker Stiftung.
Unser Motto
Sharon Adler: Welchen Ansatz legst du deiner Arbeit zugrunde? Was ist dein persönlicher Anspruch, und worin bestehen die Herausforderungen?
Rebecca Rogowski: Meine Vision von Bildungsarbeit ist es, Leute zu empowern. Ich möchte, dass sie ihre Tradition kennen und wissen, was im Talmud, in der Tora oder in anderen Texten steht, sich dadurch bestärkt fühlen und selbstbestimmte Entscheidungen treffen können. Ihnen das zu eröffnen und die Möglichkeit zum Lernen zu geben, ist wichtig – besonders für Frauen und queere Menschen, weil es in Deutschland wenig Orte gibt, wo solch ein Textstudium möglich ist.
Die Herausforderungen bestehen darin, so auszusehen, wie ich aussehe, und eine Frau und jung zu sein.
Rebecca Rogowski: „Mit dem Tallit hülle ich mich im übertragenen Sinne in die Mizwot – die Geschichten aus dem Talmud – ein. Die Fransen, die Zizit, stehen für die Gebote und erinnern visuell daran. Und dass man seinen Alltag dadurch mit etwas Heiligem auflädt, gefällt mir.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Rebecca Rogowski: „Mit dem Tallit hülle ich mich im übertragenen Sinne in die Mizwot – die Geschichten aus dem Talmud – ein. Die Fransen, die Zizit, stehen für die Gebote und erinnern visuell daran. Und dass man seinen Alltag dadurch mit etwas Heiligem auflädt, gefällt mir.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Viele Menschen benutzen mich als Projektionsfläche, ohne sich mit meiner Arbeit auseinanderzusetzen. Ich rege andere auf, weil ich Fotos von mir im Tallit
Es ist interessant zu beobachten, wer zu Hillel kommt beziehungsweise nicht kommt. Es sind primär Frauen oder FLINTA*-Personen und sehr wenige Cis-Hetero-Männer.
Sharon Adler: Wie beurteilst du die Stellung von Frauen und LGBTQ+ Personen in der jüdischen Community? Engagierst du dich auch bei Keshet Deutschland?
Rebecca Rogowski: Ich denke, das ist in Deutschland regional sehr unterschiedlich. In Berlin treffen Jüdinnen und Juden, die progressiv eingestellt sind, auf mehr Akzeptanz. Obwohl es auch starke Gegner*innen gibt. Berlin ist eine Bubble. Aber wir sind keinesfalls so weit wie in den USA oder in Großbritannien. In London gibt es eine aktive queere Jeschiwa, die Online-Kurse anbietet und regelmäßig Sommer-Camps, eine Sommer-Universität und eine Sommer- Jeschiwa veranstaltet.
Der Verein am Fraenkelufer
Bei Keshet bin ich kein eingeschriebenes Mitglied, aber wir sind locker verbunden und kooperieren gern. Während der Ausstellung „Sex. Jüdische Positionen“
Es gibt einzelne Lichtblicke, aber wir stehen noch ganz am Anfang. Ich kenne viele Leute, die sich engagieren und setze Hoffnung in die jüngere Generation, und ich weiß, dass es auch ältere Menschen gibt, die daran gearbeitet haben und es immer noch tun. Gesamtgesellschaftlich ist das Thema in Deutschland akzeptierter, daher ist es auch im jüdischen Kontext so. Aber sobald wir in religiösere Räume gehen, ist es ein Tabuthema. Es ist ein bisschen nach dem Motto „don’t ask, don’t tell Das finde ich sehr schade. Mein „Hauptfeind“ ist nicht die Orthodoxie, sondern die Normativität
Weibliche jüdische Role models
Sharon Adler: Aktuell bereitest du für Hillel eine Session zum jüdischen Frauenbund vor. Kannst du bitte etwas zu deiner Motivation und über weibliche jüdische Vorbilder aus diesem Umfeld und ihrem Wirken erzählen?
Rebecca Rogowski:
Bertha Pappenheim - die Gründerin des Jüdischen Frauenbundes (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library)
Bertha Pappenheim - die Gründerin des Jüdischen Frauenbundes (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library)
Ein großes Idol von mir ist Bertha Pappenheim. Ich bin auf sie gestoßen, als ich mich im Studium mit Freud beschäftigt und gelesen habe, wie frauenfeindlich er ihr gegenüber war. Unter dem Pseudonym Anna O. war Bertha von Pappenheim eine von Freuds Patientinnen. Vieles in seinen „Fallstudienbeschreibungen“ war gelogen.
Bei Hillel arbeiten wir bei „Tikkun urban“ an jüdischen Stadttouren durch Berlin. Es gibt hier Gebäude der ehemaligen Frauen- und Mädchenschulen, die auf Pappenheim zurückgehen. Ich finde es sehr wichtig, über den Jüdischen Frauenbund zu sprechen. Denn viele jüdische Menschen wissen gar nicht, dass die ZWST,
Sharon Adler: Wo siehst du Parallelen zu Bertha Pappenheims Arbeit und deiner Arbeit heute?
Rebecca Rogowski: Bildung ist wichtig, aber sie ist aus meiner Sicht kein Allheilmittel. Aber ich denke, dass wir beide eine ähnliche Vorstellung davon haben oder Bildung einen ähnlichen Stellenwert zuschreiben, nämlich dass Bildung erst gesellschaftliche Partizipation ermöglicht. Bertha Pappenheim beschränkt sich jedoch auf den säkulären Raum und hat, meinem Wissensstand nach, religiöse Praktiken nicht infrage gestellt. Intellektuell sehe ich mich eher bei
Sharon Adler: Du beschäftigst dich mit jüdischem Feminismus, mit feministischen Frauenfiguren und Geschlechterrollen im Judentum. Welche Frauen aus dem Talmud sind für dich besonders wichtig?
Rebecca Rogowski: Ich glaube, die klassische Antwort ist Bruriah.
Es gibt diesen Midrasch, also eine Geschichte im Talmud, wo Bruriah auf der Straße von einem Rabbiner angesprochen wird,
Sharon Adler: Was bedeutet Purim
Rebecca Rogowski: Ich finde die Frauengestalten in der Purim-Geschichte sehr interessant. Und dass wir eine weibliche Heldin haben, die jüdische Frau des Persischen Königs, Königin Esther,
Rebecca Rogowski: Das eine Frage, auf die ich jeden Tag eine andere Antwort geben würde. Generell ist mir Tradition wichtig und ich mag den orthopraxischen Ansatz
Ich bin vielleicht so etwas, was man auf Jiddisch beziehungsweise Hebräisch eine Daffkanik
Während meines Studiums habe ich für die Professorin Tal Ilan gearbeitet, die einen feministischen Kommentar zum babylonischen Talmud verfasst hat. Ich habe mich sehr intensiv damit auseinandergesetzt, aber auf einer säkulären akademischen Ebene. Das fand ich sehr spannend, doch ich dachte mir, dass da noch mehr ist. Und dass ich gerne verstehen würde, wie man traditionell den Text liest – und nicht nur akademisch-historisch. Aber ich würde sagen, dass ich nicht sehr streng in meiner Observanz
Sharon Adler: Was bedeutet es für dich, die Tefillin
Rebecca Rogowski: „Schon immer, seit ich klein war, haben mich religiöse Gegenstände fasziniert. Der Kiddusch-Becher von meinem Großvater, den er zu seiner Bar-Mizwa bekommen hat. Die Schabbatleuchter von seiner Mutter. All diese materiellen Gegenstände haben für mich einen bestimmten Reiz und eine gewisse Ästhetik.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Rebecca Rogowski: „Schon immer, seit ich klein war, haben mich religiöse Gegenstände fasziniert. Der Kiddusch-Becher von meinem Großvater, den er zu seiner Bar-Mizwa bekommen hat. Die Schabbatleuchter von seiner Mutter. All diese materiellen Gegenstände haben für mich einen bestimmten Reiz und eine gewisse Ästhetik.“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Rebecca Rogowski: Schon immer, seit ich klein war, haben mich religiöse Gegenstände fasziniert. Der Kiddusch-Becher von meinem Großvater, den er zu seiner Bar-Mizwa bekommen hat. Die Schabbatleuchter von seiner Mutter. All diese materiellen Gegenstände haben für mich einen bestimmten Reiz und eine gewisse Ästhetik. Auch Kleidungstücke, wie zum Beispiel der Tallit. Ich habe meinen Tallit von der Frauengruppe „Women of the Wall“
Mit diesem Tallit drücke ich aus: „Ich bin Jüdisch!“ Mit dem Tallit hülle ich mich ja im übertragenen Sinne in die Mizwot – die Geschichten aus dem Talmud – ein. Die Fransen, die Zizit, stehen für die Gebote und erinnern visuell daran. Und dass man seinen Alltag dadurch mit etwas Heiligem auflädt, gefällt mir. Obwohl mir beten unglaublich schwerfällt, weil ich ein ambivalentes Verhältnis dazu habe. Aber ich versuche mit meiner Version von einem Schacharit, dem Morgengebet, mit diesen physischen Elementen, zu dem auch meine Tefillin [Gebetsriemen] gehören, etwas zu machen, was in diesem Moment nur mir gehört. Etwas, was in unserer Leistungsgesellschaft keinen Mehrwert hat, sondern nur für mich ist. Ich habe auch das Gefühl, dass mein Körper dadurch geheiligt wird, oder auf eine höhere Stufe kommt.
Ich war fasziniert von den Tefillin, von den Gebetsriemen und all den Frauen oder nicht-binären Menschen in der Jeschiwa in Jerusalem, die sie angelegt haben. Eine gute Freundin von mir hat einen Schiur in der Jeschiwa gegeben, wo sie uns beigebracht hat, wie wir die Tefillin anlegen. Das hat mir gefallen. Meine Tefillin bekam ich in meiner ersten Arbeitswoche bei Hillel von einer Dame, deren Mutter Rabbinerin in Israel ist, die regelmäßig einen alternativen Kabbalat Schabbat
Allianzen. Interreligiöser Dialog und der House of One-Podcast
Sharon Adler: Zusätzlich zu deiner Arbeit bei Hillel Deutschland engagierst du dich ehrenamtlich im „House of One“
Rebecca Rogowski: So positiv an dem Podcast ist, dass wir drei junge Frauen sind: Neben mir sind das die Pfarrerin Maike Schöfer und die islamische Theologin Kübra Dalkilic. Wir sind ein Gegenpol – und repräsentieren eine jüngere Generation als die drei Männer Rabbiner, Pfarrer und Imam, die man üblicherweise mit dem House of One verbindet. Wir wurden tatsächlich gecastet. Mittlerweile sind das gute Freundinnen von mir, mit denen ich mich auch ohne Anlass des Podcasts austausche. Der Titel des Podcast sagt es schon: In jeder Folge besprechen wir ein Thema. Es muss nicht super theologisch sein, das ist nicht unser Ziel. Wir haben einen niedrigschwelligeren Anspruch, mit dem wir versuchen, junge Leute abzuholen – auch Leute, die atheistisch sind und sich einfach für die Thematiken interessieren.
Wir beschäftigen uns mit Feiertagen oder mit den Frauen, die in den Schriften unserer Religionen vorkommen. Aber wir haben auch Folgen zu Abtreibung, Frauen in Machtpositionen oder zu Herausforderungen als junge Frau innerhalb der Religionsgemeinschaft gemacht. Wir versuchen, die Themen durch unsere Lebensrealitäten aufzuarbeiten, die Leute daran teilhaben zu lassen und neue Lesarten zu bieten. Es ist nämlich leider in einer christlichen Hegemonie oft so, dass zum Beispiel Pessach als das „jüdische Ostern“, Chanukka als das „jüdische Weihnachten“ oder die Synagoge als die „jüdische Kirche“ bezeichnet werden.
Im interreligiösen Dialog geht es meistens darum, Gemeinsamkeiten zu finden. Davon wollen wir drei wegkommen, denn Pluralität ist wichtig und schön. Man muss auch nicht immer hundertprozentig die gleiche Meinung haben, aber man muss im Dialog miteinander bleiben. Weil wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben. Die Tendenz, sich immer mehr abzugrenzen, ist problematisch, und es gibt gewisse Regeln. Und es gibt ganz klare Grenzen für mich, wenn es in Menschenfeindlichkeit übergeht oder demokratische Werte verletzt werden. Man muss nicht mit der AfD reden, und man muss denen keine Plattform bieten. Aber abseits davon glaube ich schon, dass wir uns alle ein bisschen in Ambivalenz-Toleranz üben müssen. Und das versuchen wir in dem Podcast zu tun.
Dadurch, dass wir uns selbst reflektieren. Ich habe viele Misskonzepte
Rebecca Rogowski, Co-Moderatorin des Podcasts „331 – 3 Frauen, 3 Religionen, 1 Thema“ in der Schau „Läuft. Die Ausstellung zur Menstruation“ im Museum für Europäische Kulturen (MEK) in Berlin-Dahlem Museum Europäischer Kulturen. In der Folge #64 widmet sich der Podcast dem Thema „Menstruation – Warum ist die weibliche Periode weitgehend ein Tabu?“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Rebecca Rogowski, Co-Moderatorin des Podcasts „331 – 3 Frauen, 3 Religionen, 1 Thema“ in der Schau „Läuft. Die Ausstellung zur Menstruation“ im Museum für Europäische Kulturen (MEK) in Berlin-Dahlem Museum Europäischer Kulturen. In der Folge #64 widmet sich der Podcast dem Thema „Menstruation – Warum ist die weibliche Periode weitgehend ein Tabu?“ (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
durch meine Alltagserfahrungen und Vorstellungen vom Christentum, und die darf ich kommunizieren. Für mich war zum Beispiel zunächst nicht verständlich, wie die Trinität und der Monotheismus zusammenpassen. Dann erklärt mir meine Co-Moderatorin Maike das. Oder auch mal zu sagen: „Hey Leute, ihr wisst es vielleicht nicht, aber das war gerade antisemitisch oder rassistisch oder homophob.“ Die andere Person darauf aufmerksam machen zu können und darüber trotzdem noch im Gespräch zu bleiben - das ist das Coole an dem Podcast.
Körperlichkeit im Judentum, Gender und Sexualität, religiöse Praxis
Sharon Adler: In der Folge #64 widmet ihr euch dem Thema „Menstruation – Warum ist die weibliche Periode weitgehend ein Tabu?“
Rebecca Rogowski: Im Judentum gibt es das Konzept der Niddah, was oft als „Familienreinheitsgesetze" übersetzt wird, jedoch Abtrennung oder Abgrenzung bedeutet. Der Niddah-Status entsteht durch die Menstruation und wird durch das Eintauchen in die Mikwe, ein rituelles Tauchbad, aufgehoben. Durch das Eintauchen in die Mikwe wird die Person spirituell wieder rein. Es ist wichtig zu betonen, dass es sich hierbei um eine spirituelle Reinheit und nicht um körperliche Sauberkeit handelt. Seit der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. wird angenommen, dass alle Menschen in einem Zustand spiritueller Unreinheit sind, weil viele Reinigungsrituale nicht mehr durchgeführt werden können.
Da es im Alltag viele Quellen der Unreinheit gibt, wie der Kontakt mit Toten oder bestimmte Körpervorgänge, bleibt diese Unreinheit bestehen. Dennoch wird Niddah heutzutage noch von einigen praktiziert. Das liegt daran, dass die Tora den Geschlechtsverkehr während der Menstruation verbietet und ihn erst nach dem Eintauchen in die Mikwe wieder erlaubt. Niddah wird von vielen Menschen kritisch gesehen, da es den weiblichen Körper zu kontrollieren scheint. Es gibt jedoch auch Interpretationen, die die sexuelle Selbstbestimmung betonen. Da es der menstruierenden Person allein obliegt, wann und ob sie in die Mikwe geht, entscheidet sie auch selbst, wann sie wieder Geschlechtsverkehr haben möchte.
Historisch gesehen war dies ein bedeutender Akt der körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung. Interessant ist auch, dass Menstruationsblut nicht nur als unrein verstanden wurde. Ein Text aus dem 12. Jahrhundert von Bechor Shor, einem Rabbiner der Raschi-Schule, vergleicht das Blut der Beschneidung mit dem Menstruationsblut und bezeichnet beides als das Blut des Bundes mit Gott. Trotz meiner eigenen Schwierigkeiten mit einigen Aspekten von Niddah finde ich diese Perspektiven interessant und wichtig, um sich damit auseinanderzusetzen.
Der 7. Oktober 2023
Sharon Adler: Vor dem Hintergrund des 7. Oktober 2023 und der Tatsache, dass noch immer Menschen als Geiseln der Hamas gefangen gehalten werden: Wie ging es dir damit zum Beispiel 2024 beim Pessachfest,
Rebecca Rogowski: Es ist schwierig, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Meine Emotionen und Gedanken überschlagen sich. Pessach ist ein guter Ausgangspunkt. Unsere Freiheit als Jüdinnen und Juden zu feiern, ist schwer, wenn nicht alle Menschen frei sind. Ich aber bin frei, und weil Freiheit verpflichtet, muss ich mich auch für die Freiheit anderer Menschen einsetzen und meine Privilegien und meine Plattformen nutzen, um andere Menschen zu unterstützen und mich für Menschenrechte einzusetzen.
Für Pessach habe ich im Jahr 2024 einen Olivenbaum gekauft, als Symbol für die Hoffnung auf Frieden, sei es in Israel und Palästina, in der Ukraine, im Sudan oder im Jemen. Mir ist wichtig, die Hoffnung zu bewahren und daran zu erinnern, dass eine andere Welt möglich und erstrebenswert ist.
Mein Verhältnis zu Israel ist ambivalent. Ich glaube an Israels Existenzrecht, sehe aber das andauernde Erstarken an extremen undemokratischen Kräften in der israelischen Gesellschaft, und das beunruhigt mich. Öffentlich darüber zu sprechen, ist schwer, da man sofort als Alibiperson in Debatten von anderen benutzt werden kann. Ich verstehe nicht, wie man Hamas oder sexualisierte Gewalt als legitimen Widerstand anerkennen kann. Oder wieso es nur wenige Menschen schaffen, sowohl den Terrorangriff der Hamas und die Geiseln zu thematisieren, wie auch auf das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser hinzuweisen. Der aktuelle Mainstream-Diskurs ist so polarisiert, dass man den Eindruck gewinnt, man sei entweder pro Israel und dafür antipalästinensisch oder eben andersrum. Dass es hier auf beiden Seiten um Menschenleben geht, scheint mir oft in den Hintergrund zu rücken.
Das Schweigen und Verschweigen der Fraueninitiativen und Feministinnen
Sharon Adler: Am 7. Oktober 2023 wurden Frauen und Mädchen in Israel gezielt Opfer massiver sexualisierter Gewalt durch Hamas-Kämpfer. Obwohl die Beweislast
Rebecca Rogowski: Ich bin kein sehr optimistischer Mensch, habe leider nicht viel Hoffnung in meine Mitmenschen, und ich bin selten schockiert. Emotional bin ich betroffen, aber ich bin nie richtig schockiert, dass es zu Gewalt kommt. Doch in dem Moment war ich wirklich zutiefst erschüttert und schockiert darüber, dass Menschen sexualisierte Gewalt rechtfertigen, die sonst die ersten sind, die sich dagegen äußern. Ich habe keine Worte dafür. Krieg wird oft auf den Körpern und den Rücken von Frauen ausgetragen, durch die Entwürdigung der Frau.
Wir sehen das auch in der Ukraine oder im Kosovo, wo es ganze Vergewaltigungshäuser gab. Dass man das rechtfertigen und als einen „normalen“ Kollateralschaden in bewaffneten Konflikten bezeichnen kann, weil man mit dem Handeln der israelischen Regierung nicht einverstanden ist, das war für mich ein Bruch und ein Schockmoment. Probleme mit der Politik der israelischen Regierung habe ich auch, aber das würde mich niemals dazu bringen, sexualisierte Gewalt – von wem auch immer – zu rechtfertigen.
Wir Jüdinnen und Juden haben alle ein intergenerationelles Trauma, unsere Alarmglocken gehen viel schneller an als bei anderen Menschen, und das wird dann immens getriggert. Ich habe mal gesagt: „Ich will in jede Unterhaltung reingehen und sagen können, dass ich sichtbar jüdisch bin und das nicht verstecken will.“ Mittlerweile habe ich Angst, mich öffentlich zu erkennen zu geben, weil ich mich vor physischer und verbaler Gewalt fürchte.
Es ist so wichtig, dass wir sagen: „Ihr wollt Feministinnen sein, und ihr rechtfertigt sexualisierte Gewalt?!“ Und dass wir dagegen ankämpfen und gleichzeitig sagen: „Feminismus ist wichtig.“ Wir werden den Feminismus nicht diesen Menschen überlassen oder dem Feminismus den Rücken kehren, weil ich jetzt manchmal erlebt habe, dass gewisse Menschen, die in jüdischen Kontexten sowieso schon antifeministisch waren, das jetzt benutzen, um jüdischen Frauen zu sagen: „Hier hast du deine Bewegung. Du willst Jüdin sein und dich Feministin nennen? Das geht nicht.“ Es ist ganz wichtig ist, eine Art und Weise zu finden, all diese furchtbaren Dinge anzusprechen, die in dieser Bewegung geschehen und sie zu kritisieren, bis zum bitteren Ende. Unsere Debatte dürfen wir nicht von anderen Kräften kapern lassen.
Antisemitismus in queer-feministischen Zusammenhängen
Sharon Adler: Abgesehen von der internationalen Ebene: Hast du in Deutschland in feministischen Zusammenhängen beziehungsweise queerfeministischen linken Kreisen direkt oder über andere queere jüdische Frauen Antisemitismus oder Israelhass erfahren? Welche Diskriminierungsformen sind dir dabei begegnet?
Rebecca Rogowski: Ich habe mich schon vor dem 7. Oktober wenig in feministischen Kreisen aufgehalten, die nicht jüdisch waren, weil ich schon früher unangenehme Erfahrungen gemacht habe. Ich gehe nicht gerne in einen Raum, wo ich auf Solidarität hoffe, aber weiß, dass ich diesen Teil meiner Identität eventuell verschweigen muss, um für andere Leute „bequem“ zu sein. Ich glaube, die meisten Menschen, die eine jüdische Identität haben und sich feministisch oder in anderen Bürgerrechtskontexten engagieren, kennen das. Sie kennen diesen Schock, dass man sich ideologisch mit etwas verbunden fühlt und dann auf diesen imminenten extremen Antisemitismus stößt. Obwohl man dachte, dass man Geschwister im Geiste sei. Das ist jetzt sehr plakativ, aber das ist unglaublich verletzend.
Sharon Adler: Was hat sich nach dem 7. Oktober bei Hillel für euch verändert?
Rebecca Rogowski: Es ist interessant zu beobachten, wer zu unseren Veranstaltungen kommt. Wer Post-7.-Oktober und wer Prä-7.-Oktober gekommen ist. Das hat sich geändert. Wir haben eine riesengroße Diaspora-Community, vor allen Dingen in Berlin. Israelis waren bisher selten bei unseren Veranstaltungen, weil sie damit eine gewisse Religiosität und eine bestimmte Richtung des Judentums verbunden haben, mit der sie einfach nichts anfangen können. Deren primäre Identität ist es eher, Israeli zu sein, und das können sie nicht mit einem diasporischen Judentum in Verbindung bringen.
Doch seit dem 7. Oktober 2023 kommen mehr Israelis zu unseren Veranstaltungen, die vielleicht erst am Schabbat-Essen teilgenommen haben oder an Feiertagen bei uns waren, aber jetzt kommen sie langsam auch zu unseren Bildungsveranstaltungen. Meine Vermutung ist, dass sie versuchen, eine positive Neuidentifikation zu finden, weil sie permanent mit Antisemitismus konfrontiert sind. Eine Veranstaltung zu besuchen, kann dann Entspannung bedeuten. Ich habe auch mit Leuten telefoniert, die sich nicht getraut haben, das Haus zu verlassen. Verständlich. Mittlerweile sehe ich, dass die Leute eher sagen: „Wir müssen zusammenkommen.“ Psychologisch ist ja belegt, dass es gut für die menschliche Seele ist, wenn man sich in Gruppen befindet und sich austauscht.
Darüber habe ich mit Kolleginnen von den Hillel-Büros in Krakau und Warschau gesprochen. Dort war es so, dass die jungen Menschen bis zu einem gewissen Moment eher vereinsamt sind, bis sie sich wieder getraut haben, zu Veranstaltungen zu gehen. Wir sind bei Hillel politisch ja kein Monolith, bei uns ist eine große politische Bandbreite vertreten. Es ist interessant zu beobachten, welche innerjüdischen Debatten daraus entstehen, zum Beispiel bezogen darauf, wie man Zionismus versteht. Und gleichzeitig möchte ich auf die sexualisierte Gewalt aufmerksam machen, auf den 7. Oktober, auf den Antisemitismus.
Die Situation jüdischer Studierender an den Unis und Hochschulen
Sharon Adler: Antisemitismus an Lernorten gab es schon vor dem 7. Oktober. Wie beurteilst du die Situation für jüdische Studierende auf dem Campus und die Reaktion der Universitätsleitungen auf die eskalierenden antisemitischen „Vorfälle“?
Rebecca Rogowski: Ich arbeite nicht primär mit Studierenden, aber ein Großteil der Leute, die zu Hillel kommen, hat enorme Angst. Vor Antisemitismus und vor Gewalt. Diese Angst ist allgegenwärtig. Egal, welche Einstellung sie zu Israel haben. Ich kenne Leute, die sich als nicht-zionistisch – also nicht gegen- oder gar antizionistisch – bezeichnen. Nichtjüdische Menschen können nicht verstehen, dass diese Angst in unserer DNA ist und dass bei uns nicht nur die realen aktuellen Gewaltbilder hochkommen, sondern auch die aus unseren Familienbiografien. Was mir wichtig ist, zu betonen: Ich bin eine sogenannte Jeckete, also deutsch-jüdisch. Aber 90 Prozent unserer Community ist postsowjetisch oder noch in der Sowjetunion sozialisiert worden, dort aufgewachsen und ist dann geflüchtet. Vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind antisemitische Gewalttaten dort enorm angestiegen. Dieses Trauma ist für viele aus dieser Gruppe zeitlich nah.
Es ist unglaublich schwierig, damit umzugehen. Zumal die meisten jüdischen Studierenden oft die einzige jüdische Person von vielleicht zweihundert Menschen im Raum sind. Die Mehrheit äußert häufig, während du anwesend bist, schreckliche antisemitische Dinge. Sie sind der Meinung, sie dürften antisemitische Parolen schreien, denn Antisemitismus ist leider wieder salonfähig. Ich meine, man könnte die Regierung in Israel kritisieren, ohne antisemitische Bilder zu benutzen. Aber dazu sind die meisten nicht in der Lage. Sie stellen sich auch gerne hin und sagen: „Ich darf Israel gar nicht kritisieren.“ Aber du kannst nicht „Israhell“ mit Dollarzeichen schreiben und damit auf eine angeblich jüdische Weltverschwörung verweisen. Auch die meisten Rassistinnen und Rassisten begreifen die Geschichte von Rassismus nicht und woher ihre Bilder kommen, und sie sind trotzdem Rassisten. Diese Äußerungen sind antisemitisch, und Antisemit ist man, wenn man gewisse Codes benutzt.
Viele Leute in meinem Umfeld trauen sich nicht, sich als jüdisch in der Öffentlichkeit zu zeigen, sie verstecken ihre Davidsternketten, oder sie sind schon angegriffen worden. Sei es verbal oder körperlich. Zum Beispiel der Vorfall mit dem Studenten Externer Link: Lahav Shapira, der krankenhausreif geschlagen wurde. Und wenn man die Zeitung aufgeschlagen hat, war die Rede davon, dass es vorher eine Diskussion gab, die das Verhalten des Angreifers getriggert habe …. Also, in meiner Welt gibt es keine Diskussion, die es rechtfertigt, jemanden krankenhausreif zu schlagen. Man fühlt sich als jüdisches Kollektiv in seiner Menschenwürde herabgesetzt und entmenschlicht durch die Rechtfertigung dieser Gewalttaten.
Was mir auch extrem Angst macht, sind die rechten Kräfte, die jüdische Menschen missbrauchen und ihre angebliche „Israel-Solidarität“ benutzen, um rassistisch zu sein, um alle queer-feministischen Ansätze auszuradieren. Man weiß nicht, wo man sich hinwenden soll. Wo sind wahre Freunde, wo sind Allies? Das ist schwierig. Die Gefahr ist superpräsent, jeden Tag.
Sharon Adler: Wie würden deine Forderungen an Politik, Justiz und Zivilgesellschaft lauten? Was sollten die nächsten Schritte für ein sicheres Lernen und Studieren für Jüdinnen und Juden sein?
Rebecca Rogowski bei der von der Gruppe „Fridays for Israel” (FFI) initiierten Protestkundgebung am 9.2.2024 an der Freien Universität Berlin. FFI ist eine überparteiliche Initiative junger Menschen, die sich für die Sicherheit jüdischer Schüler:innen und Studierender, das Existenzrecht Israels und die Bekämpfung von Antisemitismus einsetzt. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Rebecca Rogowski bei der von der Gruppe „Fridays for Israel” (FFI) initiierten Protestkundgebung am 9.2.2024 an der Freien Universität Berlin. FFI ist eine überparteiliche Initiative junger Menschen, die sich für die Sicherheit jüdischer Schüler:innen und Studierender, das Existenzrecht Israels und die Bekämpfung von Antisemitismus einsetzt. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2024)
Rebecca Rogowski: Das ist natürlich eine große Frage, und es hört sich vielleicht auch ein bisschen naiv an, aber zunächst würde ich gerne, dass die Menschen davon wegkommen, diesen Konflikt, diesen Krieg für ihre eigenen Zwecke zu benutzen. Gerade Deutschland schreibt sich die Sicherheit für Jüdinnen und Juden gern auf die Fahne, um sich damit seines Selbstbilds zu versichern. Manchmal würde ich den Leuten gerne ins Gesicht schreien: „Es geht nicht um dich. Es geht mir nicht darum, wie du persönlich zu Israel stehst. Es geht hier um Menschen, die in deiner Institution mit einer panischen Dauerbelastung und Angst um ihre physische und psychische Sicherheit leben.“
Sharon Adler: Wie hast du die Reaktionen von der Politik und dem Präsidenten der Freien Universität Berlin empfunden? Und wie kam das in der jüdischen Community an?
Rebecca Rogowski: Es ist halt immer dieses betretene Schweigen und generell ein Gefühl, dass antisemitische Vorfälle zu spät aufgegriffen werden. Oder sich getraut wird, öffentliche eine Meinung zu formulieren und einen Standpunkt zu vertreten. Da fühlt man sich erneut herabgewürdigt und allein gelassen. Das ist ein Schlag ins Gesicht. In welcher Welt ist es angemessen, dass ein Kommilitone den anderen krankenhausreif schlägt? Und dass man nicht in der Lage ist, zu sagen: „Wir verurteilen an unserer Institution alle Formen von physischer und psychischer Gewalt. Deswegen muss es Konsequenzen für diesen Straftäter geben.“ Das schockiert mich. Man hat auch argumentiert, dass man nicht in die akademische Karriere von jemand anderem eingreifen dürfe. Man beschneidet aber das akademische Leben von ganz vielen jüdischen Personen. Es ist einfach krass, weil man das Gefühl hat, dass man nicht als Mensch geschätzt und wahrgenommen wird.
Viele Leute haben das alles intensiver als ich verfolgt. Ich muss mich manchmal davon emotional distanzieren, weil es mir sonst psychisch einfach zu schlecht geht. Aber ich weiß, dass viele Menschen darüber nachdenken, ihr Studium abzubrechen. Oder gar nicht dazu in der Lage sind, ihre Master- oder Bachelorarbeit zu schreiben.
Resilienz und Zusammenhalt in den Jüdischen Gemeinden/in der jüdischen Community in Deutschland
Sharon Adler: Was ist deine Motivation für dein Engagement in der jüdischen Community? Wie viel Kraft ziehst du aus deinem Engagement und dem innerjüdischen Austausch?
Rebecca Rogowski: Ich weiß, dass es unglaublich viele Leute in der jüdischen Community gibt, die kein spirituelles oder gemeinschaftliches Zuhause, die keinen Ort haben, wo sie ihr Judentum so leben und feiern dürfen, wie es für sie authentisch ist. Diese Strukturen möchte ich mitaufbauen und auch innerhalb der existierenden Strukturen dafür Platz schaffen. Idealerweise sollten wir Orte haben, an denen wir uns alle mit unseren unterschiedlichen Facetten und politischen Meinungen begegnen und ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen können. Das ist natürlich sehr utopisch. Aber es ist mir wichtig – und der Grund, warum ich mich engagiere. Das ist kein reiner altruistischer Akt. Ich schaffe Raum für mich selbst und für Leute, die ich als mir ähnlich oder nahe sehe.
So sehr, wie Leute ein Problem mit mir haben, so sehr bekomme ich so viel Liebe und Unterstützung von den Leuten, mit denen und für die ich arbeite, dass es das für mich auf jeden Fall aufwiegt. Das gibt mir unglaublich viel. Aber es ist auch anstrengend.
Zitierweise: Interview von Sharon Adler mit Rebecca Rogowski: „Es geht für mich nicht um Dogmen, sondern um das Tun”, in: Deutschland Archiv, 03.02.2025, Link: www.bpb.de/559071