Zerrbilder. Dirk Oschmanns Erfindung des Ostens. Eine Entgegnung
Raj Kollmorgen
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Eine neue Serie im DA. Wie steht es im 35. Jahr der Deutschen Einheit um ebendiese? Zum Start hinterfragt der Görlitzer Soziologe Raj Kollmorgen die Thesen des Leipziger Germanisten Dirk Oschmann, der den Osten für eine "westdeutsche Erfindung" hält. Für Kollmorgen ist Oschmanns Bestseller ein "Pamphlet".
Der Leipziger Germanist Dirk Oschmann hat Anfang 2023 ein kleines Sachbuch zum Ost-West-Verhältnis mit dem Titel „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ veröffentlicht, das mittlerweile in seiner 19. Auflage für Furore sorgt – insbesondere im Osten der Republik. Grund genug, sich mit dem Werk auch einmal aus sozialwissenschaftlicher Perspektive genauer zu beschäftigen. Die Gesamtverkaufszahlen von Dirk Oschmanns umstrittenen Werk „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ bewegen sich laut Verlag inzwischen „im mittleren sechsstelligen Bereich“. Meine Lektüre möchte ich auf zwei Ebenen vornehmen. Zunächst werde ich auf inhaltliche Hauptargumente eingehen, um mich dann – wenn auch nur kurz – mit der Rezeption der „Empörungsschrift“ im Osten auseinanderzusetzen.
Das diagnostische Resümee des Buches könnte so formuliert werden: Die Ostdeutschen – wie sie vom Westen „erfunden“ und definiert werden, obgleich es sie so, als identifizierbares „Kollektiv“, gar nicht gibt – sind einer materiellen und symbolischen Herrschaft des Westens, das heißt der Westdeutschen, unterworfen. Diese Herrschaft platziert die Ostdeutschen in einer drastischen sozialen Ungleichheitsordnung unten und macht sie zugleich dafür verantwortlich. Die „totale“ Missachtung, Entmachtung und Exklusion der Ostdeutschen wurde mit der Vereinigung begründet – auch wenn sie in Einzelaspekten tiefer in die Vergangenheit reicht – und wird seitdem fortgesponnen. Von einem absehbaren Ende der Ungleichheit(sordnung) kann nicht die Rede sein [nachzulesen bei Oschmann (2023) auf den Seiten 32/33, 51, 70-72, 77, 93, 95-97, 99, 106, 112-117, 120-122, 132, 195, 199].
Für diese apodiktischen Aussagen, die offenkundig in expliziter Empörungsabsicht formuliert werden, behauptet Oschmann sehr nachdrücklich die Bewahrheitung durch vorliegende sozialwissenschaftliche Erkenntnisse. Er wiederhole in seinem Buch nur zuspitzend, was Gemeingut der Forschung sei [ibid.: 18-20, 68ff., 104ff., 112ff., 182ff., 192ff.]. Beidem – der These selbst und der Ansicht, sie sei breit sozialwissenschaftlich unterlegt – widerspreche ich ausdrücklich und grundsätzlich. Meine Entgegnung möchte ich in sechs (thematischen) Argumentationsschritten entfalten.
Gegen oder für eine Ost-West-Scheidung? Wie sich Oschmann selbst widerspricht
Zunächst: Wem schon in der ersten Zeile meiner zusammenfassenden Thesenformulierung ein schreiender Widerspruch auffiel, hat recht – und trifft damit eines der gravierendsten Probleme des Buches. Denn Oschmann kritisiert einerseits und harsch – nicht zuletzt unter Verweis auf seine eigenen Erfahrungen – die „Verostdeutschung“ aller aus den östlichen Bundesländern stammenden Menschen durch die „herrschenden“ Westdeutschen. Er weist die totalisierende und naturalisierende „Reduktion“ der Ostdeutschen auf ihre Herkunft „als Urteil und Verurteilung“, [ibid.: 57, siehe auch 24, 43, 76] sowie ihre „Homogenisierung“ als Bevölkerungsgruppe [ibid.: 86] zurück und stellt dieser Praxis seine Forderung der „Des-Identifizierung“ [ibid.: 11, 83] entgegen.
Oschmann widerspricht also emphatisch der erniedrigenden und verzerrenden „Erfindung der Ostdeutschen“ durch die Westdeutschen und plädiert für ein differenziertes und von den Herrschaftszuschreibungen des Westens losgelöstes Bild der Menschen im Osten. Diese herrschaftskritische Argumentation ist zwar weder neu, noch stellt sie heute eine wissenschaftlich marginalisierte oder gar politisch ignorierte Position dar, aber das tangiert nicht ihre Aussagekraft in der Debatte.
Irritierenderweise behauptet Oschmann aber andererseits und zeitgleich das Gegenteil und lässt dieses zum Leitmotiv für sein Pamphlet werden. Die gesamte Gesellschaft würde sich – objektiv bestimmbar und subjektiv durch jede/n Einzelne/n getragen – in Westdeutsche hier und Ostdeutsche dort auseinanderlegen (lassen): „tertium non datur“ [Oschmann (2023): 19, siehe auch 20-22, 79/80]. Konsequenterweise spricht Oschmann – bis auf wenige dünne Hinweise auf einzelne und nur exemplarisch gedachte ostdeutsche Verlierer-Gruppen (Männer bestimmter Geburtskohorten, Lohnabhängige, Wissenschaftler, Rentner, Schriftsteller, Maler und so weiter) – dann auch durchgängig von „den“ Ostdeutschen und „den“ Westdeutschen. Insofern wird von Oschmann in der Entfaltung seiner groß angelegten Abwehrschrift „der Osten“, dessen Identitätskonstruktion durch die westdeutschen Herrschenden, die er gerade noch mit großer Geste verurteilt hatte, gerade nicht kritisiert und positiv aufgehoben, sondern „,nacherfunden“, selbst betätigt und bestätigt.
Was auch immer Oschmann zu diesem argumentativen salto mortale geführt hat beziehungsweise zu seiner bewussten Inszenierung – er spricht etwa von der Spiegelung der Gnadenlosigkeit der westdeutschen Zuschreibung, aber auch von der Verdrängung und Folgenlosigkeit bisheriger differenzierender Positionen [ibid.: 20, vgl. 14, 151, 193, 200] –: Nichts Erläuterndes vermag diesen Widerspruch und die vorgenommene Selbstaufhebung seiner Kritik zu rechtfertigen: Die „Desidentifizierung“, Dekollektivierung und Heterogenisierung der Ostdeutschen, aber auch der Westdeutschen, findet in seinem Buch gerade nicht statt.
Die soziodemografische Ost-West-Dichotomie: Wen Oschmann (nicht) identifizieren will
Der Mangel an Differenzierungswillen zeigt sich bereits in aller Schärfe in soziodemografischer Hinsicht. Seine Dichotomisierung der Bevölkerung spart nicht nur jene (wachsende) Bevölkerungsgruppe aus, die eine gemischt ost-westdeutsche Herkunft (im Sinne der Elternschaft) und/oder ost-westdeutsche Biografie (mit Blick auf den Ort der Geburt und/oder des Aufwachsens) besitzt und heute um die fünf Millionen Personen umfassen dürfte. Er spricht auch mit keinem Wort über jene etwa 20 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung, die einen Migrationshintergrund aufweisen und von denen ganz sicher über 50 Prozent, also etwa sechs bis acht Millionen Menschen, sich weder „objektiv“ noch „subjektiv“, also im Sinne der Selbstidentifikation, in das dichotomische Schema West- versus Ostdeutsche pressen lassen. Oder will Oschmann ernsthaft behaupten, eine 20-jährige Deutsche mit syrischen Wurzeln könnte irgendetwas Sinnhaftes mit der deutschen Ost-West-Scheidung anfangen und würde sich darin zuordnen (lassen)?
Man kann darüber streiten, ob 1990 angesichts des noch deutlich geringeren Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund (rund 10 Prozent) und der gerade vollzogenen Vereinigung eine Zweiteilung, wie sie Oschmann vornimmt, zu legitimieren gewesen wäre. Unstrittig ist aber aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, dass diese Dichotomisierung im Jahr 2023 realitätsfern war und immer realitätsferner wird. Wie sollte – um ein weiteres Beispiel zu bemühen – das gemeinsame Kind eines Ostdeutschen, der 1993 zum Arbeiten in den Westen ging, und einer schon immer in Bottrop lebenden Westdeutschen, das ebendort aufgewachsen ist, aber seit seinem 22. Lebensjahr in Jena lebt, nach Oschmann klassifiziert werden – als Westdeutsche, als Ostdeutsche?
Um hier nicht missverstanden zu werden: Es gibt heute eine Mehrheit in Ost- und Westdeutschland, die sich in Bezug auf ihre familiäre Herkunft, ihren Geburtsort sowie der Region ihres Aufwachsens und jetzigen Lebens ganz unproblematisch als Ost- oder Westdeutsche identifizieren lässt und bei Bedarf auch selbst so bestimmt. Aber es verhält sich für mindestens 25 Prozent der Bevölkerung deutlich anders, womit diese Bevölkerungsgruppe sogar größer ist als die der Ostdeutschen. Sich gegenüber dieser wachsenden Gruppe ignorant zu verhalten und ihr – wie er es für die Ostdeutschen empört kritisiert – eine ost-westdeutsch gepolte Identitätsschablone zu oktroyieren, ist analytisch und gesellschaftspolitisch verfehlt.
Oschmann unterschlägt aber nicht nur diese Gruppe, sondern befasst sich auch nicht ernsthaft mit der hochgradig sozialstrukturell und kulturell differenzierten Fremd- und Selbstidentifikation der Ost- und Westdeutschen. Das schließt das Problem der eben angesprochenen (post-)migrantischen Sozialstruktur ein, reicht aber weit darüber hinaus und betrifft unter anderem die generationale Lage, die soziale Klassen- und Milieuzugehörigkeit, Bildung und Beruf, aber auch die Siedlungsform und geografische Situierung. Während – um hier nur zwei Dimensionen sozialer Identifikationsprozesse kurz anzuschneiden – schon seit Jahren erhoben wird, dass Angehörige der hochgebildeten ostdeutschen Ober- und oberen Mittelklasse sich typischerweise weniger mit Ostdeutschland identifizieren und sich auch in geringerem Maße als Ostdeutsche benachteiligt sehen als Mitglieder der unteren Mittelschichten und des gering qualifizierten Prekariats, ist auch bei den jüngeren Ostdeutschen die (Selbst-)Identifikation mit Ostdeutschland im Durchschnitt signifikant geringer ausgeprägt als bei Älteren, insbesondere bei den heute über 65-Jährigen. Wenn 2018 bei den 18- bis 29-jährigen Ostdeutschen 22 Prozent aussagten, dass sie sich eher als Ostdeutsche denn als Deutsche sehen, umgekehrt aber 68 Prozent der Befragten sich zuerst als Deutsche begreifen, dann darf, ja muss nach der Begründungsfähigkeit und empirischen Stützung der Dichotomie-These gefragt werden.
Damit will ich aber nicht behaupten, es gäbe keine ostdeutsche Identität. Es gibt sie, weil sie – und auch nicht nur von einer kleinen Gruppe – artikuliert wird. Ich kritisiere aber scharf die These einer ausnahmslosen, alle anderen dominierenden, dabei homogenen und dichotomisch interpretierten sozialen Identität als Ost- beziehungsweise Westdeutsche/r. Auch Ostdeutsche besitzen vielfältige soziale Identitäten, von denen die ostdeutsche nur eine ist, deren Selbstverständnis, Orientierungskraft und kommunikative Relevanz von zahlreichen strukturellen Bedingungen, biografischer Positionierung und situativen Herausforderungen geprägt ist.
Was Oschmann nicht wahrnimmt: Vereinigung als freier Beitritt mit Folgen
Aber bei dieser Simplifizierung bleibt es nicht. Kaum weniger verstörend ist die Blindheit gegenüber dem Modus der Vereinigung und dessen Folgen für die politischen Repräsentationsmöglichkeiten. Oschmann erwähnt nur zweimal den staatsrechtlichen Modus der Vereinigung, also den „Beitritt“ der neuen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG) nach dessen Artikel 23, wobei dies ausschließlich im Kontext ungleicher Diskurspositionen und semantischer Zuweisungen („der Osten“) passiert [Oschmann 2023: 16, 187].
Oschmann spart dabei zunächst vollständig aus, dass der Prozess der Aushandlung und Legitimierung des rechtlichen Beitritts und seiner vertraglichen Grundlagen (Einigungsvertrag) keineswegs als Moment westdeutscher Entmächtigungs- und Kolonialisierungspolitik gegenüber den Ostdeutschen verstanden werden kann – wie immer man die weitere Gestaltung des Vereinigungsprozesses nach dem 3. Oktober 1990 interpretieren mag. Denn der Beitritt der fünf neuen Länder und Ostberlins wurde durch die demokratisch gewählte Volkskammer mit großer Mehrheit am 23. August 1990 in freier demokratischer Entscheidung beschlossen; ein Beschluss, den – folgt man damaligen Umfragen – eine deutliche Mehrheit der DDR-Bevölkerung grundsätzlich mittrug.
Verfahren und Ergebnis sind schlicht das Gegenteil eines Kolonialisierungsaktes, denn die prinzipiell gleichberechtigten Partner der Verhandlungen erzielten ein Ergebnis, dem beide Parteien jeweils autonom zustimmten. Es gab keinen politischen oder gar militärischen Zwang einer Zustimmung zum ausgehandelten Beitritt. Wenn das Kolonialisierung ist, dann war nicht nur der Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik 1957 eine solche, sondern sind es auch alle Beitritte zur Europäischen Union. Soweit Oschmann suggeriert, der Beitritt wäre prozedural undemokratisch gewesen, weil er legitimatorisch zwingend auf dem Wege des Artikel 146 GG hätte erfolgen müssen und dann zu grundsätzlich anderen Resultaten geführt hätte [Oschmann 2023: 187], bleibt auch das unrichtig und irreführend.
Richtig ist freilich – und damit zum anderen Aspekt der Aussparung –, dass die Vereinigung auf dem Wege des Beitritts ganz wesentlich zu den Asymmetrien und sozialen Ungleichheiten zwischen Ost und West, der Dominanz westdeutscher Eliten und dem Anpassungsdruck für die Ostdeutschen führte, ja in wichtigen Dimensionen unausweichlich führen musste. Denn wer für einen staatsrechtlichen Beitritt zu einem viermal so großen Gemeinwesen votiert, mithin sich für die Übernahme der rechtlich gesetzten sozialen Ordnungen und daher „Inkorporation“ (K.U. Mayer) entscheidet, ist mit Handlungslagen konfrontiert, die ihn gegenüber dem aufnehmenden System und seinen Gesellschaftsmitgliedern – nicht nur kurzfristig – in das zweite Glied treten lassen.
Erstens erscheinen praktisch alle sozialen und rechtlichen Institutionenordnungen neu, ja fremd, und müssen kognitiv sowie normativ in einem längeren Prozess angeeignet werden. Das reicht vom Recht über die Wirtschaftsordnung bis zum Wissenschaftssystem und schließt ausdrücklich auch informelle Institutionen (wie Praktiken erfolgreichen Konkurrierens oder des Lobbyings) ein. Die neuen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger sind also Novizen des übernommenen Systems, machen Fehler, müssen lernen und sind zunächst weniger qualifiziert und leistungsfähig in den neuen Institutionenordnungen. Umgekehrt wurden gleichsam über Nacht ihre bisherigen Qualifikationen, Karrieren und Routinen und auch ihre beruflichen Netzwerke entwertet. Aus Etablierten werden – um eine Verhältniskonstellation von Norbert Elias und John Scotson (1990) aufzugreifen – Außenseiter (oder Neuankömmlinge), die auf Etablierte treffen und von diesen im Regelfall auch so behandelt werden.
Zweitens findet in einer freiheitlichen Gesellschaft kraft Beitritt eine Öffnung bisheriger sozialer Nischen und gesellschaftlicher Austauschbeziehungen statt. Waren, Menschen und Ideen können prinzipiell frei zwischen den beiden Teilgesellschaften wechseln. Wer willentlich einer Gesellschaft des demokratischen Wohlfahrtskapitalismus beitritt, muss nicht nur den Druck der Offenheit und die Kälte der Marktkonkurrenz aushalten (können), sondern auch den eigenen Wettbewerbsnachteil, der zunächst – wie eben angesprochen – vielfach unvermeidlich war.
Was Oschmann nicht begreifen will: Die Ostdeutschen als „Minderheit“
Auch eine dritte aus dem Beitrittsprozess folgende Lage wird von Oschmann schlicht ignoriert – oder richtiger: empörungskritisch umgedeutet. Die Ostdeutschen wurden mit dem 3. Oktober 1990 eben wegen der beiden erstgenannten Konstellationen nicht nur zu einer soziokulturellen oder quasi ethnischen Minderheit mit eigenen Wissens- und Erfahrungsbeständen, habituellen Mustern und sozialen Milieus, ohne den Status einer ethnischen oder anderweitig rechtlich schützenswerten Minderheit erhalten zu können – und dies nicht nur wegen der Auflösung der individuellen Zurechnungsmöglichkeiten. Sondern sie bilden kraft ihres Bevölkerungsanteils und der föderalen Ordnungsprinzipien (Bundesländer im Bundesrat) auch in politisch-repräsentativer Hinsicht eine (abstrakte) Minderheit.
Dieser Status der Ostdeutschen – die etwa ein Fünftel der politisch aktionsfähigen und stimmberechtigten Bürger und Bürgerinnen der Bundesrepublik stellen – folgt(e) zwingend aus dem Beitritt und ist so demokratisch wie der Minderheitsstatus so vieler, man darf formulieren: der allermeisten demografischen, regionalen, ethnischen sowie Ideen- oder sozioökonomischen Interessengruppen in sozial differenzierten und politisch-kulturell pluralen Gesellschaften. Es trifft nicht weniger auf alle Westfalen, Niedersachsen oder Bayern, auf alle Mitglieder bestimmter Religionen und Konfessionen (wie Muslime oder Katholiken), alle einzelnen Berufsverbände von den Artisten bis zu den Zahnärzten oder die Gruppen der Wohnungslosen, Milliardäre oder Kleinunternehmer zu.
Oschmann indes konstruiert aus dem selbstgewählten Beitritt und den skizzierten Folgebedingungen eine politische „Entmündigung“ [Oschmann 2023: 72], diagnostiziert einen „wirtschafts- und gesellschaftspolitische[n] Totalausschluss“ und behauptet in einer weiteren Formulierung, dass die Ostdeutschen „von der wirklichen Gestaltung und Mitgestaltung dieser Demokratie im Grunde ausgeschlossen [sind], weil es zwar formale, aber reell nur wenige Chancen auf Teilhabe (…) gibt“ [ibid.: 95]. Ein wesentliches Instrument der Exklusion identifiziert Oschmann dabei in der Unterrepräsentation der Ostdeutschen in den Eliten, die „derzeit“ nur einen Anteil von 1,7 Prozent in den Sektoren „Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz, Medien und Wirtschaft“ besäßen (ibid.: 93). In den Bundesministerien seien Ostdeutsche gar „nur mit unter ein(em) Prozent vertreten“ (ibid.: 96, vgl. 112f.). Und weil das alles seit 1990 so sei, weil „man sich nicht adäquat repräsentiert findet“, handele es sich für den Osten nicht um eine „repräsentative Demokratie“ [ibid: 96]. Korrekt müsse vielmehr von einer „Demokratiesimulation“ gesprochen werden [ibid.].
Was lässt sich in aller Kürze zu dieser brachialen These und ihrer Begründung sagen? Gegenüber dem „gesellschaftspolitischen Totalausschluss“ ist zunächst zu fragen: Gibt es Bundes- oder Landesgesetze, die einen solchen festschreiben? Dürfen Ostdeutsche auf irgendeiner politischen Systemebene – von der Gemeinde bis zum Europäischen Parlament – nicht wählen? Sind sie in ihrem passiven Wahlrecht beschnitten? Gibt es daher keine aus Ostdeutschland stammenden Parlamentarier oder Landräte? Dürfen Ostdeutsche keine Parteien, Verbände oder Vereine gründen, in solche eintreten, mitwirken oder für Ämter kandidieren? Ist Ostdeutschen das öffentliche Versammeln oder Demonstrieren – anders als Westdeutschen – verboten, oder werden ihnen diese Rechte beschnitten?
Alle Leserinnen und Leser, die auch nur wenige eigene Erfahrungen im politischen Raum als Staatsbürger*innen besitzen, wissen: keine dieser Fragen kann mit ja beantwortet werden. Man könnte sich angesichts dessen jeden weiteren Kommentar schenken, denn mit dieser Tatsachenfeststellung ist die markige Behauptung eigentlich schon ad absurdum geführt.
Nun werden aber vermutlich nicht wenige einwenden: Ja, ja, aber das ist nicht der Punkt; das hat Dirk Oschmann nicht gemeint. Der „Totalausschluss“ ist nur rhetorische Überspitzung. Er schreibt doch später selbst: „formal“ ja, aber „reell“ eben „nur wenige Chancen auf Teilhabe“. Ist es wirklich nur Rhetorik? Ich hoffe auch, dass Oschmann weiß, dass es den rechtlichen „Totalausschluss“ nicht gibt. Aber darum wird die – mit Verlaub – irrwitzige Aussage nicht weniger falsch, wie auch die von ihm vorgetragene Relationierung von „formal“ versus „reell“ in dieser Formulierung nicht trägt. Denn die formale Gleichheit der Teilhabechancen ist „reell“. Dass ich wählen darf und gewählt werden kann, ist keine Chimäre, ist weder abstrakt noch virtuell, sondern faktisches und praktiziertes Recht – und zwar grundgesetzlich verbrieftes Verfahrens- und Individualrecht der bundesdeutschen Demokratie. Nicht nur den Eindruck zu erwecken, sondern explizit zu statuieren, dass diese Rechte nicht existierten („Totalausschluss“) oder keine sozio-praktische Bedeutung besäßen, weil sie „nur formaler“ Natur sind, ist und bleibt absolut falsch.
Dabei konvergiert diese Kritik vollständig mit den klassischen Verurteilungen der sogenannten „bürgerlichen Demokratie“, wie sie seit über 200 Jahren von Links- und Rechtsradikalen oder -populisten in (diesbezüglich) trauter Gemeinsamkeit vorgetragen werden: Bürgerliche Demokratie sei doch nur formal eine Demokratie; in Wirklichkeit bleibe es eine Herrschaft sinistrer, abgehobener, „korrupter Eliten“, des „Großkapitals“, der „herrschenden Klasse“, „Brüsseler Bürokraten“ und so weiter und so fort. Auch wenn ich selbstverständlich nicht unterstelle, Oschmann würde sich mit diesen Bewegungen und ihren Ideologien gemein machen, so offensichtlich ist doch die Logik des Pfades, den Oschmann mit seinem Schreiben über den angeblichen „Totalausschluss“ beschritten hat.
Diese Logik wird variiert mit der relativierenden These der „reell“ nur „wenigen Chancen“ der Ostdeutschen „auf Teilhabe“ [ibid.: 95] und einer daraus resultierenden „Demokratiesimulation“ im Osten, nicht zuletzt wegen der drastischen Unterrepräsentation Ostdeutscher in den Eliten [ibid.: 95/96, vgl. 112f.]. Mit Blick auf die allgemeinen gesellschaftspolitischen Teilhabechancen handelt es sich – es kann nicht anders formuliert werden – um eine groteske Einschätzung. In den ostdeutschen Gemeinden und Kreisen werden (von den Metropolen abgesehen) die Mandate und Ämter fast ausschließlich von Bürgerinnen und Bürgern ostdeutscher Herkunft besetzt und aktiv wahrgenommen. Auch in den ostdeutschen Bundesländern beträgt der Anteil gebürtiger Ostdeutscher in den Landesparlamenten seit über 15 Jahren gesichert über 80 Prozent und entspricht damit weitgehend ihrem Bevölkerungsanteil. Analoges ist über den großen zivilgesellschaftlichen Sektor – Verbände und Vereine aller Art, vom Heimatverein bis zum Sozialverband oder den Kirchen – zu berichten: Es sind ganz überwiegend gebürtige Ostdeutsche, die hier engagiert sind. Das sind – in einem Satz – nicht „wenige Chancen“, sondern ist umfassende „reelle“ Teilhabe und demokratische Mitgestaltung.
Aber mehr noch und bezüglich der elitären Unterrepräsentationsthese: Falls es Dirk Oschmann noch nicht aufgefallen sein sollte, in den vier ostdeutschen Bundesländern (ohne Berlin) führen gegenwärtig (Dezember 2024) vier Ostdeutsche die jeweiligen Landesregierungen (2022/23 waren es drei) mit jeweils klarer Mehrheit von Ministern und Ministerinnen ostdeutscher Herkunft. Dieses deutliche Übergewicht ist keineswegs erst drei Jahre alt, sondern existiert bereits seit vielen Jahren. Darüber hinaus sollte auch Dirk Oschmann wissen, dass wir seit 2005 eine sechzehnjährige Kanzlerschaft und den achtzehnjährigen Parteivorsitz einer jedenfalls biografisch deutlich ostdeutsch geprägten CDU-Politikerin, nämlich Angela Merkel, ebenso miterleben durften wie einen ostdeutschen SPD-Vorsitz (Matthias Platzeck, 2005) oder die Besetzung des höchsten Staatsamtes durch einen Ostdeutschen, nämlich den Bundespräsidenten Joachim Gauck (2012-2017).
Und damit nicht – wie es Oschmann tut [ibid.: 183f.] – diese Ämter irrigerweise als Ausnahme der Regel beurteilt werden, ist anzufügen, dass schon seit Jahrzehnten für den Sektor der politischen Repräsentationseliten (Parteien, Parlamente, Regierungen) ein Anteil Ostdeutscher nachgewiesen wird, der ihrem Bevölkerungsanteil entspricht, teils sogar darüber liegt (zuletzt bei 20 Prozent). Auch in der Exekutive, also den Eliten der Bundes- und Länderverwaltungen, sind Ostdeutsche zwar bis heute unterrepräsentiert, aber nicht, wie Oschmann darstellt, auf einem Ein-Prozent-Niveau. Vielmehr handelt es sich seit etwa 10 Jahren um einen Anteil zwischen fünf und etwas über zehn Prozent [ibid.].
Oschmanns Versteigungen lassen insofern nur den Schluss zu, dass er nicht bereit ist, den Verlust eines gleichsam „sozial-natürlichen“ Mehrheitsstatus für die Ostdeutschen, wie sie ihn zu DDR-Zeiten besaßen, zu akzeptieren. Er scheint anzunehmen, dass die damit gegebene Minderung der Chance, ostdeutsche Interessen unproblematisch durchzusetzen, bereits den Tatbestand der politischen und dann weiter gesellschaftlichen Exklusion erfüllt. Daran ist nicht nur das Negieren all der existierenden gesellschaftspolitischen Teilhabe- und aktiven Mitgestaltungschancen der Ostdeutschen als Mehrheit in den ostdeutschen Regionen wie als regionale und soziokulturelle „Minderheit“ im Rahmen der Bundesrepublik und ihrer mehrheitsdemokratischen Ordnung falsch und nicht nachvollziehbar.
Falsch daran ist darüber hinaus auch, dass – ich erinnere an seine eigene Desidentifikations- und Heterogenisierungsabsicht – Ostdeutsche bestenfalls in wenigen Dimensionen bestimmte Interessenlagen und Handlungsorientierungen teilen, in den allermeisten hingegen substanziell divergieren – abhängig von sozioökonomischem Status, Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Milieuzugehörigkeit, regionaler Verortung und so weiter –, sodass eine übergreifende politische oder auch kulturelle Repräsentation „der Ostdeutschen“ im Sinne eines handlungsfähigen Kollektivsubjekts schlicht unmöglich und von den meisten Mitgliedern des „Kollektivs“ auch nicht gewollt ist.
Die Oschmannsche Fundamentalkritik an der formalen Demokratie abzuweisen, bedeutet freilich nicht, die vielfältigen Probleme ignorieren zu müssen, die unsere politische Institutionenordnung mit sich bringt. Es gibt selbst auf der formalen Ebene, vor allem aber infolge der Verfahrenslogiken und höchst unterschiedlicher Organisations- und Handlungschancen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, „reale“ politische Ungleichheiten. Nur exemplarisch kann hier auf die Notwendigkeit der deutschen Staatsbürgerschaft für die Teilnahme an Bundestagswahlen, insbesondere aber auf privilegierte (Zugangs-)Positionen im politischen-administrativen Aushandlungs- und Entscheidungsprozess (etwa für bestimmte Wirtschafts- oder Berufsverbände – zum Beispiel der Arbeitgeber, der Gewerkschaften oder Ärzte) oder auf die ungleichen Bildungs- und Zeitressourcen für Engagement, Karrieren und Einflussmöglichkeiten zwischen den sozialen Klassen und Milieus verwiesen werden.
Das gilt in einer spezifischen Ausprägung – worauf bereits hingewiesen wurde – auch für Ostdeutsche. Namentlich unter Berücksichtigung der für die ostdeutsche Bevölkerung und organisierten Akteure neuen, daher unvertrauten Regeln und Routinen sowie ihrer vielfach unvermeidlichen Organisations- und Vernetzungsschwächen in den (frühen) 1990er Jahren, kann mit guten Gründen von einer politischen Benachteiligung gesprochen werden – wohlgemerkt: Benachteiligung, nicht Ausschluss oder Simulation (Kollmorgen 2005). Diese hat im Zusammenhang mit der auch durch politische Grundsatzentscheidungen (etwa im Arbeits- oder Zivilrecht, etwa zu Eigentumsregelungen, oder in der Medienpolitik) forcierten Transformations- und Vereinigungskrise (1991-1993/94) erhebliche Folgewirkungen entfaltet. Diese betreffen nicht zuletzt die politische Kultur in Ostdeutschland, darunter Institutionenmisstrauen, Distanz und Entfremdung von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, ihren zentralen Organisationen und Führungskräften. Allerdings springt es deutlich zu kurz, diese partizipativen Ungleichheiten – wie Oschmann es tut [ibid.: etwa 96f.] – als die einzigen oder wesentlichen Gründe für die Stärke des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus zu identifizieren.
Wichtig ist aber hinsichtlich der partiellen Benachteiligungen nicht nur, dass diese eben auch andere Minderheiten der Bundesrepublik treffen (wie migrantische Gruppen, Unterschichtenmilieus oder Menschen mit gravierenden körperlichen Einschränkungen), sondern dass diese Nachteile in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren substanziell abgebaut wurden, wie im Übrigen Organisationserfolge und Interessendurchsetzungen von ostdeutschen Akteuren (zum Beispiel durch die Gruppe der ostdeutschen Bundesländer oder die PDS bis 2005) unterstreichen.
Zudem gilt: Politische Ungleichheiten darf man selbstverständlich kritisieren, wobei ich der Überzeugung bin, dass sie sich angesichts der freiheitlichen Pluralität sowie komplexen Sozialstruktur unserer Gesellschaften keineswegs vollständig vermeiden lassen. Bestenfalls sind Minderungen bestimmter politischer Ungleichheitsdimensionen – etwa durch Bildungsoffensiven, die Regulierung von Lobbying oder durch neue partizipative Formate jenseits klassischer Verfahren (wie die berühmten Bürgerräte) – erreichbar. Der Punkt aber ist, dass sich Oschmann für diese Dimensionen und Formen politischer Ungleichheit oder gar für andere soziale Gruppen bis auf ein paar Sentenzen zum Thema Stadt-Land-Gefälle, Populismus und „Post-Demokratie“ gar nicht interessiert – da alles vom Ost-West-Gegensatz überstrahlt wird.
Was Oschmann gerne übersieht: Finanzielle West-Ost-Transfers
Für Oschmann liegen die sachlichen und sozialen Effekte des politisch-repräsentativen Totalausschlusses der Ostdeutschen auf der Hand: Einerseits werden damit die diskursiven Schieflagen erklärbar, durch die der Osten und seine Bewohner*innen bis heute verunglimpft werden (dazu unten). Andererseits zeigen sie sich in den Enteignungen, Ausbeutungen und gravierenden sozialen Ungleichheiten zwischen Ost und West seit 1990, die von Löhnen und Renten bis zu Vermögen und Elitepositionen reichen. Diese beklagt er wortreich. Worüber sich hingegen kein Wort bei Oschmann findet, sind die finanziellen West-Ost-Transfers, also die westdeutsche Solidarität mit den Ostdeutschen. Stattdessen wird das komplexe Bundesprogramm „Aufbau Ost“ zwar nicht inhaltlich qualifiziert, wohl aber absurderweise als Nazi-Jargon denunziert und damit abgefertigt [Oschmann 2023: 53].
Es würde den vorliegenden Rahmen sprengen, sich die unterschiedlichen Programme, rechtlichen Regelungen, Institutionen und Mechanismen des finanziellen West-Ost-Transfers seit 1990 näher anzusehen, die vom „Fonds Deutsche Einheit“, „Solidaritätszuschlag“ und den Solidarpakten I und II über Fördermaßnahmen der Bundesministerien (zum Beispiel Stadtsanierungen) bis zu Transfers im Rahmen der Sozialversicherungen reichen. Ebenso muss ich aus Platzgründen auf eine Vorstellung der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion verzichten, die zu diesem Problem seit Ende der 1990er Jahre geführt wird.
Im Ergebnis lassen sich mindestens drei Perspektiven beziehungsweise ökonomische Messergebnisse anführen, die für mich einen außerordentlichen West-Ost-Transfer in den vergangenen fast 35 Jahren, vor allem in den ersten 25 Jahren nach 1991, empirisch unter Beweis stellen. Da wären zum einen die Umverteilungen der öffentlichen Finanzmittel im Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs.
Zwar erhielten (und erhalten) hier auch westdeutsche Länder Zuweisungen; die ostdeutschen waren aber bis 2005 in exorbitantem Maße Nutznießer des Umverteilungssystems: Sie erhielten pro Einwohner etwa viermal höhere Zuweisungen als die westdeutschen Länder (Hesse 2020). Zum anderen kann unter Bezug auf Berechnungen des DIW festgestellt werden, dass es bis heute in den ostdeutschen Ländern eine Lücke zwischen der eigenen Wirtschaftsleistung (Produktion) und den verbrauchten Gütern und Dienstleistungen (Konsum) gibt. Addiert man die jährlichen Differenzen, also den Konsumüberschuss, erhält man für den oben genannten Zeitraum eine Größenordnung von 1,5 Billionen Euro als zwingendes Transfervolumen.
Für mich am schlagendsten ist aber – drittens – der Augenscheinvergleich der Modernität und Leistungsfähigkeit öffentlicher Infrastrukturen (Städtebau, Straßen, Energie), des Wohlfahrtsstaates (Gesundheitsversorgung, Rentenniveau) sowie der Unternehmen zwischen Ostdeutschland und Ostmitteleuropa (namentlich: Tschechien und Slowenien). Angesichts eines vergleichbaren ökonomischen Ausgangszustandes 1989 blieben die bis heute offenkundig bestehenden gravierenden Unterschiede ohne die Wirkung der massiven Transfers unerklärlich – oder man müsste zu abenteuerlichen Argumenten zwischen Faulheit, politischer Unfähigkeit oder durchgängiger Misswirtschaft in den ostmitteleuropäischen Ländern Zuflucht nehmen.
Egal aber, ob sich der Netto-Transfer von West- nach Ostdeutschland, einschließlich aller Rückflüsse und Sekundäreffekte, allein zwischen 1991 und 2014 im Bereich von 300 Milliarden Euro oder auf (über) eine Billion Euro belief: Das ist in jedem Fall keine Marginalie. Die Größenordnung bewegt sich im Bereich von einem bis drei (jährlichen) Bundeshaushalten im genannten Zeitraum. Wie diese Tatsache zur Kolonialisierungs- und Ausbeutungspolitik des Westens passen soll, aber auch zur Nichtdurchsetzung ostdeutscher Interessen, müsste Oschmann erklären – was er wohlweislich unterlässt.
Wo Oschmann Halbwahrheiten verbreitet: Der Diskurs über den Osten
Schließlich erkennt Oschmann in den massenmedial-politischen Diskursformationen einen zentralen Ausdruck und zugleich ein wesentliches Medium der Ost-West-Ungleichheit, ja der „Erfindung“ des Ostens und anhaltenden westdeutschen Herrschaft.
Oschmann hat zunächst recht, wenn er argumentiert, dass es nach 1989/90 wirkmächtige öffentliche Diskurse in der Bundesrepublik gab, innerhalb derer und durch die Strategien und Praktiken der herkunftsbegründeten Markierung Ostdeutscher mit eindeutig abwertenden Semantiken – zwischen „faul“ und „jammernd“, „verloren“, „fordernd“ und „hilfebedürftig“ bis zu „vormodern“, „undemokratisch“ oder „dunkel(deutsch)“ – realisiert wurden [Oschmann 2023: 13ff., 74ff.]. Er hat ferner recht, wenn er behauptet, dass es diese Diskurse, welche die Ostdeutschen als vom westdeutschen „Normal Null“ (K.-S. Roth) abweichend etikettierten, in Teilen der (halb-)öffentlichen Kommunikation noch immer gibt.
Aber: Diese Diskurse waren weder in allen sozialen Feldern einheitlich oder wurden allein von Westdeutschen ins Werk gesetzt, noch sind sie in den vergangenen dreißig Jahren unverändert geblieben. Wie die von Oschmann angeführte sozialwissenschaftliche und linguistische Forschung vielmehr zeigen konnte, entfalte(te)n die Diskurse in unterschiedlichen sozialen Feldern (Politik, Massenmedien, Kunst und anderen mehr) unter je konkreten Machtverhältnissen je spezifische Zuweisungs- und Abwertungslogiken mit eigenen Formierungsrhythmen und differenten Wirkungen. So setzte der totalitarismus- oder modernisierungstheoretisch fundierte Markierungs- und Abwertungsdiskurs gegenüber den Ostdeutschen in den Sozialwissenschaften ab Anfang der 1990er Jahre ein und hatte seinen hegemonialen Höhepunkt Mitte/Ende der 1990er Jahre. Danach begann seine schrittweise Veränderung, und seit etwa 2002, spätestens seit 2009/2010, besitzt er eine substanziell veränderte Gestalt, die jene herkunftsbestimmte Dichotomie, vor allem aber die Idee eines allgemeinen Modernitätsdefizits weitgehend aufgehoben hat. Das reichte bis zur Figur eines avantgardistischen Ostens (und Ostdeutscher), etwa mit Blick auf Lebensführungsmuster, innovative Kunst- und Kulturszenen, aber auch industrienahe Wissenschaftscluster oder neoliberale Politikansätze.
Demgegenüber zeichnete sich der massenmediale Diskurs dadurch aus, dass ab Mitte der 1990er Jahre die Abwertungslogik eskalierte und bis Anfang der 2000er Jahre dominant blieb. Erst für die Zeit nach 2005 ließ sich in den hegemonialen Medien eine ernsthafte Veränderung diagnostizieren, die freilich die tradierten semantischen Markierungen, Nachrichtenwerte und Argumentationsbögen (Topoi) der Subalternisierung Ostdeutscher und Ostdeutschlands keineswegs einfach suspendierte, aber sukzessive relativierte oder in ihrer Verbreitung und Wirkung schwächte, teils unter Aufnahme der sozialwissenschaftlichen Diskussionen. Diese Verschiebung hält an.
Nach 2015 gab es im Zusammenhang mit der Fluchtmigration, Gewaltaktionen gegen Geflüchtete und dem Aufstieg der AfD eine neuerliche Wendung im Diskurs über Ostdeutschland, der ohne Frage auch auf alte, von einigen überwunden geglaubte „Stereotype“ und Urteilsschemata zurückgreift, sich aber keinesfalls darauf beschränkt. Das hat nicht nur mit den deutlich veränderten gesamtdeutschen Gesellschaftskontexten, sondern auch mit neuen Diskursakteuren zu tun, nicht zuletzt einer neue Generation starker Sprecher und Sprecherinnen aus Ostdeutschland (ob aus Medien, Publizistik, Kultur, Internet, Politik und anderen Bereichen mehr), die unter kritischer Reflexion gewachsener Ungleichheiten und ostdeutscher (Selbst-)Bestimmungen tradierte (nicht zuletzt: dichotomische) Muster und Mechanismen des Diskurses aufzubrechen versuchen.
Wie Oschmann zu behaupten, es gäbe es eine lineare Fortschreibung der allseitigen diskursiven, zerrbildhaften Konstruktion und Abwertung der Ostdeutschen seit 1990 ist angesichts all dessen nur eines: selbst ein Zerrbild sozialer Realität.
Empörungswelle und Erfolgswelle oder: Warum das Buch dennoch eine so große Leserschaft findet
Blickt man auf die sechs behandelten Themen und Thesen zurück, lässt sich die inhaltliche Substanz des Buches wie folgt bündeln: Erstens erweist sich die Argumentation aus sozialwissenschaftlicher Perspektive als empirisch wie logisch dünn (einschließlich dramatischer Leerstellen) – und als sich vielfach selbst widersprechend. Letzteres reicht von der „(Des-)Identifizierung“ der Ostdeutschen bis zu ihrem (doch nicht) „Totalausschluss“. Diese „Technik“ ermöglicht es Oschmann zweitens, nach fast 35 Jahren „die Ostdeutschen“ tatsächlich ein zweites Mal zu erfinden. Nicht nur, dass er – wie er selbst an der originalen „westdeutschen Erfindung“ hart kritisierte – sich ein ostdeutsches Kollektivsubjekt ausdenkt, wie es hinsichtlich Homogenität und (Selbst-)Identifikation womöglich nicht einmal in der Ursprungsfassung vorgestellt wurde.
Oschmann hält auch gegen die Realität der Differenzierungs- und (auch innovativen) Entwicklungsprozesse der ostdeutschen Gesellschaft in den vergangenen zwei Dekaden (wie der westdeutschen und deren komplexen wechselseitigen Beeinflussungs- und Durchdringungsdynamiken) nicht nur an den Markierungen der 1990er Jahre fest, sondern radikalisiert sie – kontraintendiert – auch.
Drittens aber präsentiert Oschmann dabei die Ostdeutschen keineswegs als Subjekte ihrer eigenen Geschichte, sondern vielmehr als Kollektivobjekt des von westdeutschen Subjekten gestalteten Vereinigungsprozesses. Den Ostdeutschen kann als Kolonialisierten keinerlei (politische) Handlungsverantwortung zugewiesen werden. Auch damit greift er – erneut kontraintendiert – genau jene hegemonialen Diskurse der 1990er Jahre auf, in denen allein „die Westdeutschen“ als aktiv und gestaltend erscheinen, wohingegen die Ostdeutschen spiegelbildlich als „passiv“, „erleidend“ und „hilfebedürftig“ stigmatisiert wurden.
Viertens endlich bescheidet sich Oschmann hinsichtlich einer positiven Kritik des Bestehenden auf wenige Sätze, die teils Plattitüden sind, teils unsinnig oder einfach falsch. Denn wen und was soll der Appell „gleiche Löhne für gleiche Arbeit“ in einer kapitalistischen Marktwirtschaft mit autonomen Tarifpartnern eigentlich adressieren und was die Forderung „gleicher Renten“ bedeuten [Oschmann 2023: 199]? Beides gab es in der Bundesrepublik noch nie und wird es – ganz unabhängig vom Ost-West-Verhältnis – angesichts der bestehenden ökonomischen und wohlfahrtsstaatlichen Institutionenordnung auch absehbar nicht geben (können), wobei anzufügen ist, dass die ostdeutschen Rentner*innen im Regelfall – nicht zuletzt wegen der oben angesprochenen Transfers – gegenüber den westdeutschen ausdrücklich nicht benachteiligt wurden. Und was haben „adäquate Erbschafts- und Vermögenssteuern“ (Oschmann 2023: 199) mit Ost und West zu tun, so als ob es in Westdeutschland nicht massenhaft ärmere Menschen gäbe und die Debatte dort nicht bereits seit mindestens 50 Jahren intensiv geführt würde?
Mit diesem grundsätzlich kritischen Resümee der Wahrnehmungsperspektive, der Argumentationsweise und dem Problematisierungsstil Oschmanns behaupte ich gleichwohl inhaltlich nicht das einfache Gegenteil. Ich hoffe, hinreichend verdeutlicht zu haben, dass mit der Vereinigung auf dem Wege des Beitritts und also Akteur- und Institutionentransfers ein Wandlungs- und Integrationsprozess begann, der insbesondere in den ersten etwa fünfzehn Jahren (vor allem organisierte) westdeutsche Akteure in ihrer (politisch-administrativen wie ökonomischen) Handlungsmacht erheblich bevorteilte, in praktisch allen sozialen Feldern Ostdeutsche typischerweise ressourcenärmer platzierte und westdeutsche Hegemonien begründete sowie den Ostdeutschen die (auch: psychische) Hauptlast der Umbau- und Anpassungsprozesse aufbürdete. Insofern richtet sich mein zentrales Kritikargument – jenseits empirisch falscher Thesen und logischer Widersprüche – gegen Oschmanns empörungs- wie effektgeleitete, dabei oft in der Vergangenheit steckenbleibende, hoch selektive sowie simplifizierende Wahrnehmung und Beurteilung gesellschaftlicher Verhältnisse und Entwicklungsprozesse.
Diese Gesamtbeurteilung lässt abschließend fragen, wieso das Buch mit diesen offensichtlichen Schwächen dennoch im Osten so erfolgreich ist. Warum – ich berichte hier auch aus persönlichen Erfahrungen– reagieren so viele Ostdeutsche vor allem der heute zwischen 55- und 75-Jährigen derart positiv, unterstützend, ja begeistert auf Oschmanns Einschätzungen und Thesen?
(1) Zunächst verdankt sich der Erfolg den tatsächlichen Herrschaftspraktiken, sozialen Ungleichheiten und Missachtungen, die Ostdeutsche nach 1990 erfahren haben. Namentlich die frühen und oft radikalsten Subalternisierungserfahrungen schlugen Wunden, erzeugten Langzeitfolgen und wurden bis vor Kurzem politisch nur unzureichend gesamtdeutsch kritisch reflektiert.
(2) Oschmann ist es mit seinem Buch und dessen diskutierter Dichotomisierung, Generalisierung wie Radikalisierung der Anklage nicht nur gelungen, die bereits bisher dafür empfänglichen Gruppen (wie Angehörige der alten Dienstklasse und klassische Verlierergruppen im Wirtschaftsumbau) anzusprechen, sondern mit seiner Fundamentalkritik der bundesdeutschen Demokratie („Totalausschluss“, korrupte Eliten) auch die rechts- wie linkspopulistischen Systemverächter in AfD, LINKE oder BSW für sein Pamphlet zu gewinnen. Aber mehr noch: Oschmanns ungeschminkte, „zornige“ und empörungsgeleitete, zugleich aber rhetorisch gekonnte Artikulation hat ihm auch Unterstützung aus dem bislang eher zurückhaltenden ostdeutschen Bildungs(klein)bürgertum (aus Pädagogik, Wissenschaft und Kunst) eingebracht.
Das alles hängt auch mit der Sozialgeschichte und einer großen Gruppe jener Generation(en) zusammen, die 1989/90 noch relativ jung waren (zwischen etwa 20 und 40 Jahre alt) und lange hofften, mit ihren westdeutschen Pendants gleichzuziehen, von ihnen als Gleiche akzeptiert zu werden. Für viele fand das aber nie statt. Nun, da sie bereits in den Ruhestand getreten sind oder kurz davor stehen, fragen sie mit dem Blick zurück, was ihr Mangelempfinden, ihre Unzufriedenheiten vor allem verursacht(e). Nachgerade als Antwort auf die aufkommende – auch bei Oschmann so deutlich benannte – Scham, bisher eher geschwiegen, sich kaum kritisch mit den empfundenen westdeutschen Herrschaftsgebaren und Ungerechtigkeiten auseinandergesetzt, die Stimme erhoben oder gar praktischen politischen Widerstand geleistet zu haben, wird ihnen das Buch gereicht – das so plastische, wortmächtige und plausible Antworten liefert.
(3) Diese Antworten stimulieren zeitgleich lautstarke Empörung wie wunderbare Beruhigung, da sie einerseits die Ostdeutschen vermeintlich wieder zusammenführen, ja eine neue alte Schicksalsgemeinschaft stiften und andererseits den Adressaten der Empörung und die Schuldigen für all die Ungerechtigkeit eineindeutig benennen lassen: die Westdeutschen und vor allem ihre Eliten. Wir wurden unterdrückt; wir hatten keine Chance – dort, im Westen, sitzen die Schuldigen. Dummerweise vergisst das zwei eigentlich banale Fakten: Nicht nur, dass es sich hier um eine „imaginierte Gemeinschaft“ (B. Anderson) handelt, die realiter in den vergangenen 35 Jahren nicht existierte. Es gibt eben auch massenhaft ostdeutsche Profiteure und Exploiteure sowie generell heterogenste Ideen und Interessen im Vereinigungsprozess. Vor allem aber verdrängt es das (freilich höchst differenzierte) Subjektsein der Ostdeutschen, ihre Mitverantwortung für die Gestaltung der Einheit – weil es weder einen „Totalausschluss“ gab noch ein allgemeines Durchsetzungsdefizit spezifischer ostdeutscher Interessen (wie den Transfer). Manche erkennen insbesondere für die vergangenen zehn Jahre sogar das Gegenteil.
(4) Insofern kann, ja muss zusammenfassend formuliert werden: Oschmanns Argumentationslogik und Kommunikationsstil sind in der beschriebenen Dichotomisierung, Homogenisierung und Petrifizierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Akteure sowie in ihrem feindbildorientierten Empörungsgestus ein klassischer Fall populistischer Anklage- und Erbauungsliteratur. Und eben weil das Buch genau so verfasst wurde, funktioniert es in unserer deutlich populistisch formierten politisch-literarischen Öffentlichkeit so gut, ist es so attraktiv und erntet so breite Zustimmung im Osten. Die allermeisten Rezipienten und Rezipientinnen erkennen sich in ihren (heimlichen) Gedanken und Empörungen wieder, entdecken neue und so scheinbar klare Gründe für ihre Unzufriedenheit, politische Enttäuschung oder gar Zorn auf „die Mächtigen“. Damit wird nicht nur eine differenzierende und abwägende Wahrnehmung und Urteilsbildung unterlassen (siehe das Thema Ost-West-Transfers). Vor allem wird den Ostdeutschen eine selbstkritische Befragung und Reflexion des eigenen (Nicht-)Handelns erspart sowie ein ernsthafter Perspektivenwechsel hin zu den anderen, den (im Sinne Oschmanns) nicht ostdeutschen Akteuren und deren Handlungsgründen.
Insofern ist Oschmanns Buch für mich in erster Linie Anlass, erneut eine kritische Selbstreflexion und Debatte der Ostdeutschen hinsichtlich ihres Subjektseins im Transformations- und Vereinigungsprozess anzuregen. Wie haben wir eigentlich warum (nicht, aber auch so unterschiedlich) gehandelt? Wo kommen wir her, was haben wir erwartet, was haben wir (nicht) gemeinsam (nicht) getan – und wie uns und andere bewertet? Wie hätten wir eigentlich gehandelt, wären wir Westdeutsche (gewesen)? Und wie sehen und verstehen wir uns als Ostdeutsche gegenüber den Mittel- und Osteuropäern sowie Migrantinnen und Migranten aus dem globalen Süden – sind wir deren „Westdeutsche“?
Schließlich auch: Wo liegen eigentlich die Grenzen für Empörungs- und Beschuldigungsfragen in derart komplexen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen? Wie verhalten wir uns zu Fehlern in und zum Scheitern von Transformationen? Was lässt sich daraus für das Heute und Morgen lernen? Dazu und zu vielen weiteren Fragen wünschte ich mir eine intensive Auseinandersetzung – nicht nur mit Dirk Oschmann selbst, sondern auch mit all jenen, die seinen Befunden und Urteilen folgen.
Zitierweise: Raj Kollmorgen, „Zerrbilder. Dirk Oschmanns Erfindung des Ostens. Eine Entgegnung", in: Deutschland Archiv, 01.02.2025, Link: www.bpb.de/558993. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der bpb dar. (hk)
Weitere Beitragsvorschläge zu diesem Thema sind willkommen. Schreiben Sie an E-Mail Link: deutschlandarchiv@bpb.de. Thema: "Einheit? Zweiheit? Vielheit?:Ostwestdeutsches - eine Bilanz nach 35 Jahren".
Interner Link: Mehr Osten verstehen. 80 Autoren und Autorinnen über (Ost)Deutschlands Weg. Zwei e-books herausgegeben vom Deutschland Archiv, online seit 3.9.2024.
Prof. Raj Kollmorgen ist gebürtiger Leipziger und Sozialwissenschaftler an der Hochschule Zittau/Görlitz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört der Soziale Wandel, die postsozialistische Transformationen in Osteuropa und die deutsche Vereinigung und ihre Folgen. Er ist Professor für das Management sozialen Wandels und Co-Leiter des "Elitenmonitors": Er ist Mitherausgeber von Bänden wie "Ferne Eliten. Die Unterrepräsentation von Ostdeutschen und Menschen mit Migrationshintergrund" (Wiesbaden 2024), "Nachhaltige Kommunalentwicklung im Strukturwandel" (Dessau 2023), "Deutschland ist eins: vieles. Bilanz und Perspektiven von Vereinigung und Transformation" (Frankfurt/M. 2021), "Die neue Mitte? Ideologie und Praxis der populistischen und extremen Rechten" (Weimar 2021), und Mitautor des bpb-Schriftenreihe-Bandes "(Ost)Deutschlands Weg. 45 Studien & Essays zur Lage des Landes, Bonn 2021/22.