Ina Rumiantseva ist 1976 in Ostberlin geboren, sie war also 13 Jahre alt, als die Mauer fiel, sie ist, aus einem in der Bürgerrechtsbewegung engagierten Elternhaus kommend gleichsam in die friedliche Revolution hineingewachsen, war früh in der neuentstehenden Schülervertretung und in der Jungen Gemeinde aktiv. Nach ihrem Abitur studierte sie zuerst an der TU Berlin und machte bei ihrem ersten Aufenthalt in Minsk im Jahre 2000 Bekanntschaft mit dem Charakter des Regimes Lukaschenka – es war die Zeit der Todesschwadrone, des Verschwindenlassens von Oppositionellen, sie lernte die Lebensverhältnisse vor Ort kennen. Zurück in Deutschland war sie – inzwischen mit eigener Familie – verantwortlich für den Schwerpunkt Belarus im Rahmen des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft.
Nach der Besetzung der Krim 2014 orientierte sie sich auf die Unterstützung der Ukraine und Belarus. Zusammen mit anderen initiierte sie die Belarus-Andacht in der Gethsemane-Kirche, ab Oktober 2020 baute sie mit anderen den Verein Razam e.V. auf als die erste Interessenvertretung der in Deutschland lebenden Belarussen und Belarussinnen, verbunden mit Aktionen, Demos, Vorträgen, Ausstellungen und Hilfe für die Menschen die Belarus verlassen mussten. Es sind weitere Aktivitäten dazugekommen, die die Belarus-Diaspora in Deutschland sichtbar machten – ein Arbeitskreis Belarus, die Hilfe für bedrohte Wissenschaftler in „Science at Risk“, die Gründung einer Task Force Belarus, die in der letzten Zeit vor allem den Kampf für die Freilassung der politischen Gefangenen , die sich in lebensbedrohlichen Situationen befinden, aufgenommen hat.
Um würdigen zu können, worum es bei dieser hier allzu knapp skizzierten Arbeit geht, die nunmehr mit dem
Angesichts von Russlands Krieg gegen die Ukraine: Die Ohnmacht Westeuropas
Es hat eines voll entfalteten Krieges bedurft, um ein Land, eine Nation, die es bis dahin in unserem Horizont – in der Regel jedenfalls - nicht gegeben hatte, zur Kenntnis zu nehmen, ein großes Land und eine große Geschichte. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine haben wir dazugelernt, die Namen von Städten, von deren Existenz wir bis dahin keine Vorstellung hatten, von einer Sprache und Kultur, mit deren Besonderheiten wir uns erst jetzt vertraut gemacht haben. Seit die aus der Ukraine Vertriebenen und zu uns Geflüchteten in den Zügen, in der U-Bahn neben uns sitzen, nehmen wir wahr, dass Krieg in der Nachbarschaft herrscht, Krieg nicht als Fernsehbild, sondern in Wirklichkeit. Mit Hunderttausenden von Toten und Verwundeten, in Metrostationen verlegtem Schul-Unterricht, rund um die Uhr Raketenalarm, Unterbrechung von Strom, Licht, Wasser, apokalyptischen Szenen.
Bilder über drei Jahre hin – genauer: es sind ja schon 10 Jahre – nun macht sich Ermüdung breit, die Aufmerksamkeitsökonomie, wie es heißt, kommt an ihre Grenzen, der Krieg und die Zerstörung in der Mitte Europas rückt an den Rand, fast ins Aus. Ein Gefühl der Ohnmacht, man will in Ruhe gelassen werden, man hat selber Sorgen genug, die Ukrainer sollen Ruhe geben. Man will irgendwie wieder zur Tagesordnung übergehen, wo doch gerade die Zeitenwende ausgerufen wurde.
Belarus – inzwischen eine Diktatur abseits der öffentlichen Wahrnehmung
Im Widerschein des russischen Krieges ist der andere Krieg, der uns vor Jahren in Atem gehalten hat, fast gänzlich aus unserem Blickfeld verschwunden, Bilder von solcher Grausamkeit, dass wir dachten, sie würden uns bis ans Ende unseres Leben nicht aus dem Kopf gehen. Die Schläger der Sondereinsatzkommandos der OMON, die im Sommer 2020 ausschwärmten, um die friedlichen Demonstranten auf den Straßen von Minsk und Grodno zusammenzuschlagen, der Diktator in Uniform mit seinem Sohn im Helikopter hoch über der Stadt, die Erstürmung von Wohnungen, den Angriffen auf schutzlose Frauen, Kinder und Alte. Alexander Tarajkowskij auf offener Straße erschossen, obwohl der mit erhobenen Händen auf die anrückende OMON zugegangen war. Berichte von sadistischen Grausamkeiten, die sich hinter den Mauern der Gefängnisse und Lager von Zodzina oder Okrestina abspielten. Szenen des Krieges der Diktatur gegen das eigene Volk.
Obwohl Belarus schon drei Jahrzehnte ein unabhängiger Staat geworden war, wer wusste schon etwas von diesem Land, seinen Menschen, seiner Geschichte! Die Katastrophe von Tschernobyl hatte das Land ins Bewusstsein der Westeuropäer gerückt, es war durch die Aufnahme von Zehntausenden von Tschernobyl-Kindern sogar so etwas wie ein enges, fast familiäres Netzwerk über die Grenzen hinweg entstanden, und dennoch:
Wir mussten noch einmal in die Schule gehen: Wer wusste schon etwas von diesem Land, seinen Bewohnern, seiner Geschichte! Belarus war – wie die Ukraine zuvor - terra incognita, man war sich nicht einmal sicher, wie man Land und Volk nennen sollte oder durfte. Weißrussland, Belorussland, Belarus, vielleicht sogar Weißruthenien – eine jede Bezeichnung, hinter deren Semantik sich etwas Vages verbirgt: die Vorstellung von einem russischen Stamm, eigentlich ohne eigene Geschichte und meistens unter fremder Herrschaft: im Großfürstentum Litauen, in der Polnisch-litauischen Adelsrepublik, im Zarenreich und im Sowjetimperium, die Jahre des deutschen Besatzungsterrors nicht zu vergessen. War es bloß eine Region innerhalb des Imperiums oder doch ein eigener Staat und eine Nation im Werden? Man hatte eine Vorstellung eigentlich nur, wenn man sich selber eine Anschauung verschafft hatte: aber auch dann war auf den Weg nach war es meist nur Durchgangsland, Vorhof oder Hinterhof des Sowjetlandes, ohne Sehenswürdigkeiten, die es wert gewesen wären, sich dort länger aufzuhalten – nur weites, gleichförmiges Land, durchzogen von Flüssen, Wäldern und den Sümpfen am Pripjat.
Das Schicksal eines Volkes, das im 20.Jahrundert nicht zu eigener Staatlichkeit gefunden hat oder genauer: das immer wieder daran gehindert wurde, sich als staatliche Nation zu konstituieren. Für Reisende gab es die Grenze, das Ritual der Grenzüberschreitung, wenn der Paris-Moskau-Zug kurz nach der Überquerung des Bug den Bahnhof von Brest erreicht hatte: Zwei Stunden Aufenthalt. Spurwechsel der Gleise, ein symbolisch aufgeladener Vorgang, von Reisenden von mehr als einer Generation immer wieder beobachtet und kommentiert, Einfahrt in das Sowjetreich, da sich bis zum Pazifik erstreckte.
Im Visier der deutschen Wehrmacht
Jetzt erstreckt sich dort die befestigte Grenze, die den von Lukaschenka gegen die Europäische Union gelenkten Migrantenstrom aufhalten soll. Dort war auch die Festung Brest mit dem heldenhaften Kampf der Verteidiger gegen die deutsche Wehrmacht. Von Belarus wusste man vielleicht, dass es dort den einzigen Urwald in Kontinentaleuropa gab, Bjelowescha mit Wisenten in freier Wildbahn und dem Jagdschloss, auf dem im Dezember 1991 die Auflösung der Sowjetunion beschlossen worden war. Minsk tauchte dann immer wieder auf in den Zeitungen und im Fernsehen – als Ort der Verhandlungen, die den Krieg im Donbass beenden sollten, aber ihn doch nur verlängerten. In den Marmor gefließten Foyers von Minsk trafen sich zu nachtlangen Sitzungen die Verhandlungsdelegationen, ohne Erfolg – vielleicht besteht nun wieder die Hoffnung, dass Minsk noch einmal ins Zentrum der Nachrichtenwelt rückt – hoffentlich nicht für ein Minsk III.
Von deutschen Soldaten niedergebranntes Haus nahe Charkiw 1942. (© picture-alliance/akg)
Von deutschen Soldaten niedergebranntes Haus nahe Charkiw 1942. (© picture-alliance/akg)
Wer auf der Durchreise in Minsk einen Zwischenstopp einlegte, und wer die Stadt mit Photos von 1945 verglich, konnte nicht begreifen, wie es möglich war, dass diese Stadt am Ende des Krieges dem Erdboden gleich gemacht aber dann doch wieder oder neu gebaut worden ist. Es gab freilich auch Städte in Belarus, für die sich Historiker und Kunstbeflissene interessierten; die gewaltige Burgruine von Lida, Pinsk, aus dem Rydzard Kapuscinski stammte, oder Witebsk (einst Partnerstadt von Frankfurt an der Oder), einer der Geburtsorte der europäischen Moderne mit Namen wie Chagall, Malewitsch, Michail Bachtin – oder Grodno, dessen Stadtbild man sogleich die Zugehörigkeit zur polnisch-katholischen Welt anmerkte.
Aber um sich wirklich ein Bild zu machen, hätte es eines längeren Bleibens bedurft, nicht bloß der Durchfahrt auf der Trasse Berlin-Warschau-Minsk-Moskau. Man musste dorthin gehen, wo nach 1941 die Deportationszüge mit den Juden aus Wien und Hamburg endeten, im Getto Minsk und im Vernichtungslager Trostinez. Und man war wahrscheinlich erst in Belarus angekommen, wenn man aufs Land, das Land der Tausend verbrannten Dörfer, der „Feuerdörfer“ hinausging, verkörpert in der Memorialanlage von Chatyn, oder zu den Ende der 1980er Jahren entdeckten Massengräbern der vom NKWD Ermordeten in Kuropaty. Belarus ist nicht die Leerstelle, der weiße Fleck, sondern das von geschichtlichen Großkatastrophen kontaminierte Gelände mitten in Europa – noch mehr als die Ukraine.
Hier kreuzen sich nicht nur die alten Handelswege, die über die Flüsse ins Baltische und Schwarze Meer führen, sondern auch die Marschkolonnen der Eroberer, die über die Ebene hinwegzogen, die Religionen – das östliche und das westliche Christentum, die Juden des Shtetl und sogar die Muslime, die Sphäre des Magdeburger Rechts und der Imperien. Belarus, die werdende Nation, nach dem Ersten Weltkrieg kurz ausgerufen als Volksrepublik, geriet im 20. Jahrhundert zwischen die Fronten des Weltbürgerkrieges wie kein anderes. Es ist als würde alle von außen hereinbrechende Gewalt auf der weiten, endlos sich erstreckenden Ebene entfesselt: die Umsiedlungen und Vertreibungen der beiden Weltkriege, die Menschenverluste der Kollektivierung, des Großen Terrors in der Stalinzeit, die vollständige Vernichtung des Judentums, die Ausradierung von Tausenden von Dörfern, die in Flammen aufgingen, die Menschenjagd, die Hunderttausende zur Zwangsarbeit ins Nazireich schaffte, mit beispiellosen Opferzahlen – über zwei Millionen Toten, dem Hungertod von Hunderttausenden von sowjetischen Kriegsgefangenen auf belarussischem Territorium, eine demographische Katstrophe, von der sich Belarus zahlenmäßig gesehen erst Anfang der 1970er Jahre hat erholen können.
Wie hat eine derart dezimierte, entwurzelte, ausgepowerte, um ihre widerstandsfähigsten Kräfte gebrachte Gesellschaft je überhaupt wieder zu Kräften kommen können, all das nimmt sich aus wie ein Wunder. Auch wissen die wenigsten, dass es auf belarusischem Boden die in Europa stärkste Widerstands- und Partisanenbewegung gegen die deutsche Besatzung gegeben hat. Es war nicht nur die Zensur in sowjetischen Zeiten, die die Geschichte der unermesslichen Leiden hinter einer Erzählung des reinen Heldentums fast hat verschwinden lassen. Es war das Verstummen im Angesicht der unsäglichen Grausamkeiten, für die es lange keine Sprache gab, und wir verdanken es den großen der Literatur des Landes, dass sie doch irgendwann aufgezeichnet und zu Gehör gebracht wurden – allen voran Ales Adamowitsch, Wassyl Bykau, und Swetlana Alexiejwitsch, die hier unter uns weilt.