Das Gedenken an den Holocaust steht vor einem Wandel. Denn wie kann Erinnerung funktionieren, auch über 80 Jahre nach dem Holocaust? Ein Blick in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Martin Sabrow zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz.
Auschwitz. Kein anderes Wort bezeichnet Schrecklicheres als der Name dieses Kainsmals der deutschen Geschichte, den die SS seit April 1940 nahe dem südpolnischen Krakau errichtete und zum größten Lagerkomplex der deutschen Verbrechensherrschaft ausbaute. 45 Zwangsarbeitsstätten und das Stammlager Birkenau, in dem die Gaskammern und Verbrennungsöfen standen, umfasste das Menschheitsverbrechen, durch das bis Februar 1945 das Äußerste geschah, was der Mensch dem Menschen antun kann.
I. Vergangenheit
Doch der Weg des Erinnerns war weit. In den ersten Jahren nach dem Untergang Nazideutschlands hatte das der von ihm verübte Menschheitsverbrechen keinen Namen und keinen Ort. Als Anfang 1945 sowjetische Soldaten der 1. Ukrainischen Front sich durch das besetzte Polen Richtung Westen vorkämpften und am 27. Januar die Gegend um Auschwitz erreichten, glaubten sie auf Industrieanlagen zu stoßen. in der riesigen Anzahl von Baracken - viele ohne Dächer – fanden die Befreier 7.500 hilflose Menschen auf Pritschen liegend, „Skelette schon, mit Haut überzogen und abwesendem Blick. Es war schwer, sie ins Leben zurückzuholen", wie sich ein russischer Kameramann der Roten Armee noch Jahrzehnte später erschüttert erinnerte, der das ganze Ausmaß des hier verübten Massenmords noch gar nicht ermessen konnte.
Die abziehende SS hatte die Gaskammern zerstört und Zehntausende von Häftlingen in hastiger Flucht auf Todesmärschen nach Westen getrieben und noch in der Nacht davor 10.000 von ihnen ermordet. „Die Nazis wollten nicht nur die Juden vernichten, sie wollten auch noch die Vernichtung selbst vernichten“, schrieb der französische Filmemacher Claude Lanzmann später.
Tatsächlich dauerte es Jahrzehnte, bis das unfassbare Mordgeschehen von Auschwitz einen Platz im öffentlichen Gedächtnis der Bundesrepublik fand. Wohl wurde Theodor Adornos apodiktische Feststellung von 1949, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, zu einem Dreh- und Angelpunkt der ästhetischen Verständigung in der Nachkriegszeit. Aber erst die Auschwitz-Prozesse 20 Jahre nach Kriegsende machten Ort und Geschehen in Deutschland allgemein bekannt, denn Gerichtsverfahren gegen insgesamt 700 Auschwitztäter hatten zuvor nur hinter dem Eisernen Vorhang in Polen stattgefunden. Mehr als 20.000 Zuschauer wohnten von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main dem Prozess bei, in dem nun auch in Deutschland die Akteure der Mordmaschinerie zur Verantwortung gezogen wurde, die in Auschwitz mehr als eine Million Menschen fabrikmäßig zu Tode gebracht hatte.
Die genaue Zahl der Ermordeten ist bis heute Gegenstand fachlicher Kontroversen; sie bleibt in jedem Fall unfassbar. Die Opfer waren in der Mehrzahl Juden aus all den Ländern, die Hitlerdeutschland besetzt oder beherrscht hatte, aber auch nicht-jüdische Polen, sowjetische Kriegsgefangene und damals so genannte „Zigeuner“, also Sinti und Roma. Wenngleich am Ende in allen um Auschwitz geführten Prozessen lediglich 49 des insgesamt 6.500 Personen umfassenden Lagerpersonals verurteilt wurden, rückte mit diesen Gerichtsverfahren doch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik für kurze Zeit in das Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit, um dann wieder weitgehend aus ihm zu verschwinden.
Erst mit der Ausstrahlung der sechsteiligen Holocaust-Serie im bundesdeutschen Fernsehen Anfang 1979 vollzog sich der Aufstieg von „Auschwitz“ zu einem universalen Symbol für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. Seither gilt Auschwitz mit Hannah Arendt als das „radikal Böse“, das „nicht hätte passieren dürfen“, weil es die Menschlichkeit des Menschen in einem ontologischen, einem seinsgeschichtlichen Sinn verneint.
In den Jahrzehnten danach wurden die Tötungsorte des Holocaust gegen manche Schwierigkeiten zu Gedenkorten, nicht nur in Auschwitz, Bełżec und Sobibor, sondern auch in Dachau, Buchenwald und Ravensbrück. Nach Jahrzehnten des Wegsehens und Stillschweigens begannen die Deutschen sich ihrer historischen Verantwortung zu stellen und nach der Schuld in der Mitte ihrer Gesellschaft zu fragen. Wenn es ein Datum gab, an dem hierzulande die gewachsene Bereitschaft zur Empathie mit den Opfern des deutschen Menschheitsverbrechens öffentlich sichtbar wurde, war es vielleicht der 50. Jahrestag des als Reichskristallnacht in das öffentliche Gedächtnis eingegangenen Judenpogroms vom November 1988. Zu diesem Tag hielt Bundesratspräsident Philipp Jenninger eine Gedenkrede, die scheinbar die Hitler-Begeisterung der Deutschen zu und ihre mörderische Judenfeindschaft zu rechtfertigen suchte. Die Entrüstung war wohl nicht gerecht, denn sie verkannte Jenningers analytische Fragestellung, aber sie war groß. Seine deplazierte Figurenrede kostete Jenninger das Amt und machte den zurückgelegten Weg sichtbar, der zur gesellschaftlichen Verankerung der Abscheu vor Hitlerdeutschland geführt hatte.
Der einem halben Jahrhundert erreichte Erinnerungskonsens zeigte sich in der Folgezeit im Publikumserfolg von Filmen wie „Schindlers Liste“ ebenso wie in der institutionellen Ausprägung einer NS-bezogenen Gedenkstättenlandschaft von hoher Professionalität. Er schlug sich 1996 in dem durch Bundespräsident Roman Herzog eingeführten Gedenktag nieder, an dem wir uns heute versammelt haben und in Deutschland nicht mehr der Geburtstag Kaiser Wilhelms II. gefeiert, sondern der Befreiung von Auschwitz gedacht wird.
Einen weiteren Schub für das Holocaust-Gedenken bedeutete das internationale Holocaust-Forum in Stockholm 2000, an dem Vertreter von 47 Staaten und unter ihnen 25 Staats- und Regierungschefs teilnahmen. Nach drei Konferenztagen verabschiedeten sie eine Abschlusserklärung, in der es hieß: „Der Holocaust (die Schoah) hat die Zivilisation in ihren Grundfesten erschüttert. In seiner Beispiellosigkeit wird der Holocaust für alle Zeit von universeller Bedeutung sein.“
Dass die Vereinten Nationen darauf mit der Einrichtung des Internationalen Holocaust-Gedenktags zum sechzigsten Jahrestag der Auschwitz-Befreiung 2005 reagierten, verdeutlicht, in welchem Maße Auschwitz zum negativen Gründungsmythos einer Welt geworden ist, die das Jahrhundert der Menschheitskatastrophen entschlossen hinter sich lassen wollte. Vor 1989 lag Auschwitz metaphorisch „auf deutschem Boden. Heute liegt es potenziell überall“, wie Franziska Augstein einmal schrieb.
Wie sehr Auschwitz in der Folge auch in den politischen Handlungsraum der Gegenwart eindrang, lehrt das Beispiel des damaligen Bundesaußenministers Joschka Fischer, der 1999 die Zustimmung seiner Partei zur deutschen Beteiligung am NATO-Einsatz im Kosovo mit dem Argument erkaufte, dass sich Auschwitz nicht wiederholen dürfe: „Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus.“ Diese Formel ist bis heute umstritten, aber aus ihr sprach das gesellschaftlich anerkannte Bewusstsein, dass nur wenige Jahrzehnte zuvor das Land der Dichter und Denker zum Land der Richter und Henker herabgesunken war. Ganz im Sinne Adornos konnte seither niemand über der Schönheit der klassischen Dichtung die Schrecken des KZ Buchenwald ganz verdrängen, das vom Ettersberg auf den Weimarer Musentempel schaute. Oder wie Bundespräsident Joachim Gauck vor zehn Jahren zum siebzigsten Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zum Ausdruck brachte: »Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.«
II. Gegenwart
So schien es ein Vierteljahrhundert lang. „Man streitet nicht mehr um das Ob, man lebt im Konsens“, mochte Jan Philipp Reemtsma 2010 noch über die den NS-Verbrechen gewidmete Gedenkstättenarbeit urteilen. Auschwitz war zum „Menschheitserbe (geworden), das über Zeit und Ort hinausreicht“ und den gebieterischen Ruf des „Nie wieder“ für alle Zukunft als die eine, die wichtigste Lehre aus der Geschichte festhielt. Dieser Ruf hat 25 Jahre lang nicht nur die Grenzen des Sagbaren definiert, wie man so leichthin sagt, sondern vor allem den Kern des Unsäglichen freigelegt. Aber lässt er sich heute noch so unvermittelt vortragen wie vor 25 und 30 Jahren, als im Zusammenspiel der den NS-Verbrechen gewidmeten Gedenkstätten ein „Läuterungsraum“ entstanden war, dessen aus Authentizität und Wissenschaftlichkeit gebildeter Aura sich kein Besucher entziehen konnte? Gibt es den Willen zur fortwährenden Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch noch, aus dem heraus das 1999 vom Deutschen Bundestag beschlossene Holocaust-Mahnmal erwuchs, das in der Mitte der Bundeshauptstadt mit einem steinernen Leichentuch aus 2711 grauen Stelen das Gedenken an die Ermordung der Juden Europas wachhält? Tatsächlich war dieser Wille war wohl immer nur der einer Minderheit, aber er beherrschte unangefochten den öffentlichen Raum. Heute jedoch hat er mit Herausforderungen zu kämpfen, von denen noch vor wenigen Jahren kaum die Rede war.
Der Aufstieg des europäischen Rechtspopulismus, der in den letzten zehn Jahren mit der Rückkehr eines überwunden geglaubten Nationalismus in Ost und West die liberale Demokratie überall in die Defensive drängt und etwa in Deutschland eine geschichtspolitische Wende um 180° fordert, stellt die offensichtlichste Kündigung des geschichtskulturellen Konsenses der liberalen Demokratie dar. Und er wirkt besonders bedrohlich im Wissen, dass die europäischen und transatlantischens Leitbilder sich zu wenden begonnen haben – der Rechtsruck, der von Europa bis Amerika durch die Welt geht, ist nicht mehr nur die Sache der unverbesserlichen Alten; er ist in erschreckendem Maße auch zu einem Jugendphänomen geworden, und der Zeitgeist unserer Tage steht gegen den müde gewordenen und abgenutzt wirkenden Liberalismus.
Eine Herausforderung ganz anderer Art ergibt sich aus dem demographischen Wandel: In unserer heutigen von Migration geprägten Gesellschaft trifft die NS-Aufarbeitung auf kulturell geschiedene Erfahrungshorizonte und Traditionen. Die allzu lange marginalisierte Erinnerung von Arbeitsmigranten und Flüchtlingen hat andere Fluchtpunkte der kulturellen Erinnerung als den Holocaust. Mit dieser Verschiebung des Erfahrungshorizonts drängt sich immer gebieterischer die Frage auf, warum der Genozid an den Armeniern, die Millionen Opfer des Stalinismus im sowjetischen Herrschaftsbereich, die blutigen Konflikte im zerfallenden Jugoslawien oder der Völkermord in Ruanda nicht dieselbe öffentliche und moralische Anerkennung verdienen sollen wie die Vernichtung der europäischen Juden. Public History und öffentliche Geschichtsvermittlung begegnen dieser Herausforderung mit dem Ruf nach einer multidirektionalen Erinnerung, die allen Opfergruppen gleichermaßen ihre Aufmerksamkeit zuwendet. Dies aber bringt zugleich das Problem einer Opferkonkurrenz mit sich, wie zuletzt der gescheiterte Versuch der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien vor Augen führte, die Gedenkstättenkonzeption des Bundes im Konsens aller Beteiligten zu aktualisieren.
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Die Erkenntnis ist unvermeidbar: Unsere vertraut gewordene Erinnerungskultur steht vor einem neuerlichen Umbruch. Die postkoloniale Wende der westlichen Geschichtskultur hat das lange verdrängte Unrecht der europäischen Vorherrschaft über die nichtweiße Welt mit einer Vehemenz zur Sprache gebracht, die sich der Harmonisierung entzieht. Mit ihr hat sich das so mühsam erkämpfte Wissen um die historische Einzigartigkeit des Holocaust wieder in die offene Frage zurückverwandelt, die den Historikerstreit der achtziger Jahre über den „kausalen Nexus“ von Stalinismus und Faschismus bewegt hatte und seither für endgültig entschieden galt.
Heute erfährt der Glaube an die Singularität des Holocaust neuen Widerspruch nicht nur aus der unheilvollen Kontinuität eines rechtsradikalen Milieus, in dem der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das kroch, wie es in Bertolt Brechts „Arturo Ui“ heißt, sondern auch aus einer weitreichenden Opfer-Täter-Umkehr: Bedient das Beharren auf der Einzigartigkeit des jüdischen Verfolgungsschicksals womöglich nur den tradierten kolonialen Blick, der in seiner Fixierung auf die Verfolgung von Juden, Sinti und Roma lediglich die weiße Vorherrschaft über die Welt verlängert? Das Auschwitzgedenken sieht sich heute mit einer grundsätzlichen Kritik an dem „heiligen Trauma“ des Holocaust konfrontiert, „das um keinen Preis durch andere Ereignisse – etwa durch nichtjüdische Opfer anderer Völkermorde – kontaminiert werden darf“. So urteilte 2021 der Historiker Dirk Moses und löste damit einen bis heute andauernden Streit um die Behauptung aus, dass der Holocaust zu einem förmlichen „Katechismus der Deutschen“ geworden sei, zu einem ein liebgewordenen Mythos, der die Augen für das Unrecht in der Welt nicht öffne, sondern im Gegenteil schließe.
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Der unbarmherzige Krieg gegen den militärischen Arm der palästinensischen Befreiungsbewegung, mit dem Israel auf den mörderischen Überfall der Hamas im Oktober 2023 antwortete, hat zugleich den Antisemitismus im muslimischen Milieu neu entfacht und radikalisiert. Daraus erwuchs eine Relativierung und Herabwürdigung des Auschwitzgedenkens, wie ihn der öffentliche Raum in Deutschland seit der Welle von Synagogenschmierereien Ende der 1950er Jahre nicht mehr erlebt hatte
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Dabei sind es sind keineswegs nur notorische Israelhasser, die auf propalästinensischen Demonstrationen judenfeindliche Parolen grölen, sondern ebenso auch verstörte Studierende, die die mitleidende Solidarität mit dem geschundenen Palästinensern im Gazastreifen zur Besetzung ihrer Universitäten treibt und ihnen dafür Zuspruch auch bei Hochschullehrern und Rektoraten einträgt. Wir müssen erkennen: Die Auseinandersetzung mit genozidalen Verbrechen, die sich im Begriff Auschwitz verdichtet, kann in der Gegenwart zu erschütternd gegensätzlichen Haltungen führen: zu bedingungslosem Schutz jüdischen Lebens ebenso wie zu dessen aggressiver Bedrohung.
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Die größte Herausforderung des Holocaust-Gedenkens in der Gegenwart aber kommt nicht von außen, sondern von innen, und sie besteht in der Trivialisierung unserer Auseinandersetzung mit einer Vergangenheit, die nicht hätte sein dürfen. Die Epoche der historischen Gesellschaftsaufklärung war die Epoche der Zeitzeugen, die Auskunft im Geschichtsunterricht gaben, die auf Gedenkveranstaltungen sprachen und Dokudramen beglaubigten. Der mittlerweile fast vollzogene Abschied von der Zeitzeugenschaft beraubt auch die Erinnerung an Auschwitz ihrer Lebendigkeit. Er hat die Träne im Auge des Überlebenden versiegen lassen und seine brüchige Stimme immer leiser und jetzt fast unhörbar werden lassen. Damit einher geht eine abstumpfende Ritualisierung des Gedenkens. Auschwitz ist zum Jubiläumsartikel geworden, der im geschäftigen Strom der medialen Verarbeitung mitfließt wie andere Jahrestage auch: Er erzeugt kurzzeitige Aufmerksamkeit, aber er erweckt deswegen keine Erschütterung mehr.
Im selben Maß, in dem die radikale Abgrenzung von der NS-Vergangenheit zum selbstverständlichen Fundament unserer politischen Kultur wurde, hat sie begonnen, ihr aufrüttelndes und tabubrechendes Potential einzubüßen. Mit dem nach langen Mühen erreichten Sieg der schmerzhaften Aufarbeitung über die bequeme Verdrängung hat sich der Anspruch auf kritische Bewältigung der Vergangenheit in die Realität einer historischen Legitimation der Gegenwart verwandelt. Das Projekt der historischen Aufklärung ist zur Routine einer historischen Selbstbestätigung geworden, die aus der Beschäftigung mit den Schrecken der Vergangenheit nicht mehr unbequeme und womöglich unwillkommene Erkenntnisse zieht, sondern vertraute Bilder immer wieder reproduziert.
III. Zukunft
Und dennoch markiert der 80 Jahrestag der Befreiung von Auschwitz nicht das Ende der historischen Aufklärung. Die Renaissance des Rechtsradikalismus sollte uns nicht dazu verleiten, Vergangenheitsaufarbeitung und Zeitgeschichtsschreibung schmähliches Versagen zu attestieren. Aber wir müssen anerkennen, dass aber sie veränderten Verhältnissen gegenüberstehen. Es bleibt der Auftrag aller historischen Wissensvermittlung, gegen die groteske Verzerrung gesicherter geschichtlicher Erkenntnis anzugehen, das die Herrschaft des Ungeheuerlichen von 1933 bis 1945 für einen „Vogelschiss“ erklärt und Hitler als „sozialistisch-kommunistischen Typ“ der politischen Linken meint zurechnen zu können oder den hochgerissenen rechten Arm eines amerikanischen Oligarchen als harmlosen Liebesgruß an die Menge hinstellen will.
In der Herausforderung des Gedenkens durch den unaufhörlich wachsenden Zeitabstand und durch die steigende Intoleranz in der Gesellschaft liegt zugleich die Chance, dass Ausschwitz nicht zur leeren Chiffre erstarrt, sondern auf neue Aneignung drängt.
Holocaust Memorials und NS-Gedenkstätten experimentieren mit virtuellen Zeitzeugen, deren Leidens- und Lebenserinnerungen digital so aufbereitet werden, dass sie als 3D-Hologramm-Interviewpartner zur Verfügung stehen. Andere didaktische Zugänge begreifen den Abschied von der Zeitzeugenschaft nicht nur als Verlust, sondern auch als Befreiung von bloßer Überwältigung und emotionaler Erschütterung, die kritisches Geschichtsbewusstsein eher verstellt als fördert und stattdessenvor allem das billige Wohlgefühl vermittelt, auf der richtigen Seite zu stehen. Auch ist die kathartische Konfrontation mit Leiderfahrung nicht an die Authentizität des Zeitzeugenbegegnung gebunden; sie kann nicht weniger tief aus einem Dokumentarfilm oder einer Videoaufzeichnung erwachsen.
Wohl aber zeichnet sich ab, dass der wachsende zeitliche Abstand immer stärker durch räumliche Annäherung kompensiert wird und der historische Ort in Zukunft allein die Aura des Authentischen transportieren muss, die zuvor die Zeitzeugenschaft vermittelte. Aus diesem Wandel ergibt sich die immer stärkere Aufmerksamkeit für die materiellen Zeugnisse, die in Gedenkstätten und Zeitgeschichtsmuseen ebenso wie im Stadtbild an den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch erinnern. Der Auschwitzüberlebende und spätere polnische Außenminister Władysław Bartoszewski hat 2009 eine Stiftung begründet, die sich den Erhalt aller Relikte von Auschwitz von der verfallsbedrohten Holzbaracke bis zum halbverrotteten Lederschuh und dem vergilbten hebräischen Gebetbuch zum Ziel setzt. Der jüngst verstorbene Zeithistoriker Habbo Knoch hat auf das Aufklärungspotential der vergessenen Außenräume aufmerksam gemacht, die als Außenlager oder Wirtschaftsbetriebe die Verflechtung der nationalsozialistischen Schreckensorte mit der deutschen Gesellschaft sichtbar machen.
Diese Beispiele machen Mut. Die Erinnerung wird auch 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz nicht versiegen, aber sie bahnt sich neue Wege. Und zumindest eines kann helfen, diesen Wandel zuversichtlich zu begleiten: Nur dort, wo der Weg der Erinnerung an den Holocaust auch auf kritische Nachfragen und neue Herausforderungen stößt, kann die wichtigste Einsicht gedeihen, die aus dieser Erinnerung zu gewinnen ist: dass Auschwitz nicht nur eine Last der Vergangenheit ist, sondern immer auch eine Möglichkeit der Moderne, gegen die jede Gegenwart sich neu zu wappnen hat.
Zitierweise: Martin Sabrow, „Das Gedenken an den Holocaust steht vor einem Wandel", in: Deutschland Archiv vom 27.01.2025. Der Text basiert auf einer Rede, die Prof. Martin Sabrow am 27.1.2025 vor dem Landesparlament von Baden-Württemberg gehalten hat. Link: www.bpb.de/558847. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
ist Professor em. für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und ehemaliger Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Er ist Sprecher des Leibniz-Forschungsverbunds „Wert der Vergangenheit“.