Robert Ide: Herr Herzberg, einer Ihrer bekanntesten Hits mit der Band "Pankow" heißt „Externer Link: Aufruhr in den Augen“. Geht der Aufruhr einem irgendwann verloren?
André Herzberg: Als Musiker bin ich wie ein Bauarbeiter, der neue Häuser baut. Ich muss ständig neue Lieder schreiben. Auf der Bühne kann ich sein, wie ich sonst gern wäre: ein selbstbewusster Held. Im sonstigen Leben zweifle ich oft an mir, finde nicht den richtigen Weg. Erst die Bühne lässt mich strahlen, die Arme ausbreiten und schreien.
In der DDR waren Sie ein Star, danach sind Sie ins Nichts gefallen. Nun geht’s auf Abschiedstour mit Ihrer Band „Pankow“. Ist das auch ein Abschied von der DDR?
Die DDR wird man nie ganz los. Das Polizeigebäude am S-Bahnhof Pankow ist dasselbe wie damals, nur der ABV mit seinem Hund geht nicht mehr rum. Vergangenheit ist schön und schmerzlich. Aber es tut gut, sich umzudrehen und weiterzugehen. Mit „Pankow“ verabschieden wir uns auf unsere Weise. Ich will nicht unter der Erde liegen, und dann halten falsche Freunde eine Grabrede, bei der man aus der Erde springen will, um ihnen eine zu scheuern. Wenn ich etwas von meinem stalinistischen Vater gelernt habe, dann das: Er schrieb sich seine Grabrede selber.
Sie kommen aus gutsozialistischem Elternhaus. Ihre Mutter war Staatsanwältin, Ihr Vater Chefredakteur beim DDR-Rundfunk. Wie wird man da zum aufmüpfigen Sänger?
Meine Mutter wollte immer, dass ich meine Meinung sage. Die Mutter meiner Mutter war als Jüdin ermordet worden. Nach dem Exil wollten meine Eltern die DDR als neuen Staat aufbauen. Als kleiner Junge sah ich das Bild in der Kinderzeitschrift: Auf dem Laufband der Geschichte fahren wir bis zum Kommunismus. Aber spätestens als Lehrling kollidierte ich mit der Wirklichkeit. Mein Vater wollte mich auf seine Weise erziehen. Später, in seiner Grabrede, hat er mich um Entschuldigung gebeten.
Wofür genau?
Er hatte mich während meiner Armeezeit denunziert bei meinem Vorgesetzten. Er hatte ihnen gesagt: Mein Sohn ist politisch unzuverlässig, der soll hart angefasst werden. Die Volksarmee war ein Knast im Knast. Neben den Befehlen und dem ständigen Laufschritt habe ich die DDR hier als sehr krass erlebt: den Alkoholkonsum meiner Kameraden, den offene Antisemitismus, dieser unausgesprochene Wehrmachts-Kult. Ich weiß noch, wie wir aus Holz-Wäscheklammern Bierkrüge zusammenbastelten. Da rief einer: Der Leim ist aus den Knochen toter Juden – es war als Witz gemeint. Ich wusste ja, dass meine Großmutter in Auschwitz umgebracht wurde. Ich konnte aber mit niemanden drüber reden.
Was haben Sie getan?
Ich habe einen Selbstmord versucht. Die Schlaftabletten hatte ich gesammelt. Ich hatte auch mein Gesundheitsbuch, darin entdeckte ich den Eintrag nach einem Armeebesuch meines Vaters: André soll hart angefasst werden. Die ganze Zeit hatte ich meinen Vater in Briefen angefleht, er möge mich da rausholen. Nun merkte ich: Ich kann mit gar nichts rechnen. Nach meinem Selbstmordversuch wurde ich bestraft wegen unerlaubter Entfernung von der Armee, kam in den Knast. Suizid gab es ja offiziell nicht in der DDR.
Trotzdem sind Sie in der DDR einer der erfolgreichsten Musiker geworden.
Vor der Armee war ich in einer Lehre als Bauarbeiter, dahin wollte ich keinesfalls zurück. Ich wollte unbedingt Musik machen. Meine ältere Schwester war Schauspielerin und half mir, mein Bruder schrieb die ersten Texte. Ich hatte dann an der Uni eine eigene Band. Plötzlich fragte mich die schon berühmte Veronika Fischer Band, ob ich nicht bei ihr einsteigen wolle, weil Veronika Fischer in den Westen abgehauen war. Wir waren Gleichgesinnte, schrieben schnell „Paule Panke“, unser erstes Rock-Musical. Darin sangen wir über die ganz alltägliche Arbeit in den Fabriken, übers Tanzen im Park. Die Platte wurde zwar verboten, aber wir spielten uns live durchs ganze Land, stundenlang in jedem Dorf und die Leute staunten: Was die sich trauen!
Pankow galt als sehr experimentierfreudig. Neben Sexliedern wie „Externer Link: Inge Pawelczik“ gab es ein Benefizkonzert für die Berliner Synagoge, aber auch provokante Auftritte mit Wehrmachtsuniform im Palast der Republik. Wie war das Leben als Star in der DDR?
Wir hatten kaum internationale Konkurrenz und viele Fans. Andererseits gab es immer wieder Verbote. Das tägliche Leben war billig, jedenfalls die Miete. Aber ich war selten zu Hause. Wir haben in jedem Kaff gespielt, manchmal mehrere Konzerte am Tag. Ich dachte am Anfang: Wir machen eine Revolution.
Der Schlagzeuger ist bei einer Tour im Westen geblieben. Gitarrist Jürgen Ehle war IM der Stasi, wie sich Jahre später herausstellte. War „Pankow“ am Ende nicht doch nur ein Abbild der DDR?
Es gab von Anfang an sehr unterschiedliche Interessen in der Band. Für mich war es oft ein Riesenkampf, bestimmte Textzeilen durchzusetzen. Am Ende haben wir uns immer zusammengerauft. Klar waren wir ein Abbild der DDR, vor allem aber eine Band mit all ihren Aufs und Abs.
„Dasselbe Land zu lange gesehen, dieselbe Sprache zu lange gehört, zu lange gewartet, zu lange gehofft, zu lange die alten Männer verehrt“ – im DDR-Radio durfte der Oppositionshit Externer Link: „Langeweile“ nicht gespielt werden.
Da haben wir ihn eben live gespielt. „Langeweile“ war gar nicht so politisch gemeint, aber beschrieb das Gefühl, für immer in diesem Land zu versauern. Mit dem Fall der Mauer entblätterte sich auch die Geschichte unserer Band. Hinter der Bühne liefen Geschichten im Zwielicht, die mir verborgen geblieben waren. Das war schmerzhaft. Dass die Stasi wie ein Krake die Gesellschaft durchsetzt hatte, ahnte ich – aber so eng an mir dran? Hätte ich damals gewusst wie die DDR wirklich war, wäre ich auch im Westen geblieben. Aber ich hatte meine Illusionen und mich eingerichtet. Wie der Grenzer am Bahnhof Friedrichstraße, der meinen Ausweis abstempelte. Der stand genau vor dem Strich und hätte nur einen Schritt tun müssen.
Wie war das erste West-Konzert?
Es war Dezember 1984, wie spielten im Quartier Latin, dem heutigen Wintergarten an der Potsdamer Straße. Schon an der Grenze war alles wahnsinnig bunt, am Moritzplatz sah ich einen Blumenladen - Blumen in allen Farben, kurz vor Weihnachten. Ich stieg aus dem Auto, um dran zu riechen: Sind die echt? Im Quartier Latin stand an der Bar eine kleine Büste von Lenin – auf die hatte jemand eine rote Nase gemalt. Ich dachte: Hier ist die große Welt. Aber im Publikum saßen nur geflohene Ossis, die sich an ihre Heimat erinnern wollten.
Was sah die frühere Heimat von André Herzberg aus?
Sehr klein, aber unübersichtlich. Ich erinnere mich an ein Erlebnis in der Schule, da war ich zwölf: Es ging um einen Solibasar für das für den Sozialismus kämpfende vietnamesische Volk. Da wurden Kuchen gebacken und das Wort „Solidarität“ mit Lötkolben in Holzbretter gebrannt. Ich war noch mit dem Herzen dabei, viele meiner Mitschüler aber nicht. Die ließ das kämpfende vietnamesische Volk kalt. Nun ging es darum, dass jemand aus der Klasse über unsere Aktion im Rundfunk der DDR berichtet…
… wo Ihr Vater Chefredakteur war …
…wir fuhren also in diese Ideologiefabrik, in der tausende Werktätige damit beschäftigt waren, die Überlegenheit des Sozialismus zu beweisen. Ich saß mit einer Reporterin im Studio, es lief ein riesiges Tonbandgerät, und sagte also: Ich habe den Eindruck, manchmal kommt die Solidarität mit dem vietnamesischen Volk nicht ganz vom Herzen. Ich hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da stoppte sie die Aufnahme und spulte zurück – nochmal. Wir machten fünf, sechs Versuche, bis sie alles abbrach. Ich lief ins Büro meines Vaters, um ihm zu fragen: Vater, warum darf ich nicht die Wahrheit sagen?
Wie hat er reagiert?
Er hielt mir ein Referat über den Klassenfeind – dass der immer mithören würde und es deswegen nicht so einfach sei mit der Wahrheit. Das hat mich traurig gemacht. Auf der Rückfahrt zischte mir mein FDJ-Sekretär zu: In der Schule kannst du dich frisch machen.
Muss nicht jeder Mensch manchmal Sachen machen, die nicht aus tiefstem Herzen kommen?
Mir fällt das schwer. Neulich habe ich Reinhard Mey bei Helene Fischer auftreten sehen in der großen Show. Ich bin froh, dass ich nicht in jeder Schlagersendung mitmachen muss – andererseits sitze ich manchmal zu Hause und weine, weil das Telefon nicht klingelt.
Kann man als Künstler überhaupt frei sein?
Ich bin jetzt fast 70, bekomme Rente vom Staat. Mein Lieblingsort bleibt die Bühne. Ein Publikum, was einen liebt ist besser als ein Chef vor der Nase, der diktiert, wo es lang geht. Aber Kunstmachen heißt auch, es ist zuweilen ein verdammter Job.
Beim Streaming bleibt für Künstlerinnen und Künstler wenig übrig. Hätte André Herzberg heute noch eine Chance?
Vor kurzem ist ein alter Hit von mir in einer Netflix-Serie aufgeploppt: „Die wundersame Geschichte von Gabi“. Ich kriegte eine Abrechnung, aber nur einen kleineren Teil davon. Um damals im Westen zu veröffentlichen, mussten wir einem DDR-Verlag 40 Prozent der Rechte abtreten. Dieser Verlag ist später im Westen aufgekauft worden, durch den Einigungsvertrag hat das weiter Bestand. Heißt also: Ein Verlag in Hamburg kassiert 40 Prozent meines Honorars, weil bei denen im Keller ein alter DDR-Vertrag von mir verstaubt.
Ist ostdeutsche Musik heute Teil der gesamtdeutschen Musikgeschichte?
Tja. Vielleicht wünscht sich ein Teil meines Ichs, auch bei Helene Fischer Anerkennung zu bekommen. Aber beim Fall der Mauer denken viele Leute musikalisch an „looking for freedom“ von diesem Rettungsschwimmer.
Sie meinen David Hasselhoff.
In Amerika glauben viele: Der Typ mit der roten Badehose hat die Mauer zum Einsturz gebracht. Das ist ungerecht. Andererseits hat sich bei uns auch keiner für die Musik aus Osteuropa interessiert.
Wie haben Sie den Mauerfall erlebt?
Ich fühlte mich wie ein Sandkorn am Meer, das von einer riesigen Welle gespült wird. Ich wurde völlig durcheinandergewirbelt. Aber ich blieb dasselbe Korn, das ich vorher war.
Wie war der Neuanfang als Sandkorn?
Sehr schwer und deprimierend. Ich habe viele Jahre gebraucht, um mich zurecht zu finden. Ich schrieb Lieder, die keiner hören wollte: „Jeder gegen Jeden“. Ich war in New York und kam mir noch kleiner vor zwischen den Wolkenkratzern. Ich war Sozialhilfeempfänger und begann, Prosa zu schreiben. Aber die inhaltliche Verbindung mit dem Publikum, mit der Welt, mit mir selbst habe ich erst gefunden, als ich meine jüdische Identität bearbeitet habe. Ich habe mich gefragt, warum meine Eltern sie in der DDR so verleugnet haben. Ich habe mich intensiv mit meinem Kollegen Jürgen beschäftigt, mit seiner Stasi-Akte über mich, mit der DDR als Diktatur.
Jürgen Ehle meinte hinterher, er habe Sie beschützen wollen. Sagen IMs das nicht immer?
Er hatte seine Motive, ich hatte meine Motive. Wir wollten alle durchkommen auf unsere Art. Als es raus war, haben wir offen geredet. Aber vorher gesagt hat er nichts.
Sie waren auch als Wachmann bei der Wehrmachtsausstellung tätig, die in den Neunzigerjahren die Verbrechen der Wehrmacht zeigte. Was haben Sie dort gelernt?
Es gab einen Raum mit der Geschichte von drei Wehrmachtssoldaten, die den Befehl hatten, Juden umzubringen. Der eine hat es sofort gemacht, der andere hat noch einmal nachgefragt, ob er das wirklich machen soll. Und der dritte hat es nicht getan. Er hatte keine Nachteile. Es ist nicht so, dass man nie eine Wahl hat. Jede Diktatur hat ihre Grautöne. So war es auch in der DDR. Ich musste mir das erst eingestehen: Wir haben in der DDR als Band keine Revolution gemacht, sondern ich habe mir auch Privilegien gefallen lassen. In dem Sinne bin ich wie alle: Ich will ein schönes Leben, immer genug Geld haben, um kreativ zu sein. Dafür liebe ich meinen Beruf bis heute. Und meine wunderbare Familie, auf die ich mich verlassen kann.
Würden Sie Ihrer zwölfjährigen Tochter raten, Musikerin zu werden?
Musik als Beruf trägt Abgründe in sich. Was ist, wenn niemand deine Lieder hören will und aus deinem goldenen Mikrofon im Kinderzimmer wieder ein Springseil wird? Dann wirst du alt und merkst, dass alles nur ein Traum in deinem Kopf war.
Nach vielen Jahren in Pankow leben Sie wieder in Pankow. Was macht den Bezirk aus?
Berlin ist für mich eine Anhäufung von vielen Dörfern. Das Dorf Pankow ist meistens eine Baustelle, andauernd stößt man an Baken. Es ist gut, dass sich viel verändert und hier viele Kinder sind – aber die Provinzialität bleibt. Es gibt noch immer den Wochenmarkt mit seinen komischen Klamottenständen, da laufen noch immer die wütenden alten Männer rüber. Übrigens, vorm Rathaus Schöneberg, wo Kennedy einst die Welt nach Berlin rief, sieht der Wochenmarkt genauso aus. Vom Alexanderplatz will ich gar nicht reden.
Doch, gerne.
Berlin ist immer noch so wie in Alfred Döblins großartigen Roman. In der Verfilmung steht der alte George auf dem Alex und hält in seiner Hand ein Stehaufmännchen: Sehen Sie, meine Damen und Herren, er steht immer wieder auf! So sind die Berliner: ein bisschen traurig und melancholisch – aber immer mit dem Trotz, weiterzumachen. Ruppig und doch liebevoll. Ein bisschen wie unsere Musik.
Welche Spuren bleiben von André Herzberg in Berlin?
An der Schönhauser Allee liegt ein Stolperstein für meine Oma. Ihre Ermordung war ein schreckliches Trauma für meine Mutter, das sie an mich weitergegeben hat. Aber später habe ich auch verstanden, wie reich die jüdische Kultur ist, die Feste, die Musik, die Traditionen, all das funkelt wie eine Truhe Edelsteine.
Wie erleben Sie den wachsenden Antisemitismus auf Berlins Straßen?
Unsere Erfahrung als Juden ist, dass wir immer bedroht sind. Inzwischen gibt es Israel als sicheren Staat – und wenn der angegriffen wird, haut er eben zurück. Die quatschen nicht, die wehren sich mit allen Mitteln, weil sie sonst umgebracht werden. In Berlin lässt man die antisemitischen Dumpfbacken sogar in die Unis rein, und die Rektorin ausgerechnet der Alice-Salomon-Hochschule steht noch Spalier und schickt die Polizei weg. Das ist irre.
Musikalisch sind Sie noch immer viel in Ostdeutschland unterwegs. Merken Sie über die Jahre eine Veränderung beim Publikum?
Viele Menschen haben Angst. Demokratie ist unheimlich mühselig. Es macht keinen Spaß, mit jedem Idioten über jedes Gesetz zu diskutieren. Wer wünscht sich die Welt nicht einfach? Freiheit ist für viele Menschen nicht erstrebenswert. Dafür können sie sich nichts kaufen. Sie wollen ihre Scholle und ihre Ruhe haben.
Schreiben Sie sich Ihre Grabrede auch einmal selber?
Manchmal bin ich mit meiner Frau in Pankow auf Friedhöfen spazieren und sie fragt: Wie wäre es hier? Welchen von den Steinen willst du? Da müssen wir lachen. Aber klar, das Ende kommt näher. Deshalb gestalten wir als Band unseren Abschied, wie wir ihn wollen, so lange wir noch können. So heißt es auch in unserem letzten Lied „Externer Link: Bis zuletzt“. "Wir haben gelacht und uns gestritten, waren getrennt und mal vereint. In guten wie in schlechten Tagen. Es war immer ernst gemeint".
Zitierweise: André Herzberg, befragt von Robert Ide, "Die DDR wird man nie ganz los", Deutschland Archiv 21.1.2025, www.bpb.de/558630. Die Erstveröffentlichung erfolgte am 18.1.2025 im Berliner Tagesspiegel unter dem Link: https://www.tagesspiegel.de/berlin/pankow-sanger-andre-herzberg-musik-als-beruf-tragt-abgrunde-in-sich-13020100.html. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.