Warum in Russland kaum jemand Putin widerspricht. Lev Gudkov und sein Beitrag zur Erforschung repressiver politischer Ordnungen. Woher kommen Gleichgültigkeit, Indifferenz und bewusster Verzicht auf wahrnehmbare oppositionelle Haltungen in autoritär geführten Staaten wie Russland, insbesondere seit Beginn von Putins Ukrainekrieg? Eine Analyse von Anna Schor-Tschudnowskaja, Soziologin und Psychologin an der Anna-Freud Universität in Wien am Beispiel der Thesen des russischen Soziologen Lev Gudkov über die Auswirkungen des russischen Autoritarismus.
Wenn die Rede von totalitären oder autoritären Ordnungen ist, wenn es darum geht, zu begreifen, was in solchen Gesellschaften mit Menschen, die darin leben, geschieht, fallen gewöhnlich viel diskutierte Begriffe wie „Überzeugungstäter“, „Dissidenten“ oder die „Banalität des Bösen“. Hinter diesen und weiteren schwierigen Begriffen verstecken sich Fragen, die bis heute weitgehend unbeantwortet geblieben sind. Wie leben Menschen in Unfreiheit: Gern oder ungern, freiwillig oder nicht? Unterstützen sie die Verbrechen der Machthaber, oder sehen sie weg und wollen nichts davon wissen? Glauben sie das, was die Machthaber sagen, und statten sie so bewusst mit Legitimität aus – oder leben sie als gleichgültige oder gar zynische Konformisten? Sind sie vielleicht gar Komplizen des Regimes oder ausnahmslos seine hilflosen Geiseln?
Diese Fragen sind keine rein historischen, sondern sie sind nach wie vor eng mit der politischen Gegenwart verbunden. Wer wachsam nach Russland schaut und wahrnimmt, wie intensiv viele Menschen gegenwärtig Putins Kriegspolitik privat verurteilen, sie aber scheinbar widerstandslos öffentlich mittragen, begreift, wie sehr „Doppeldenken“ die russische Gesellschaft prägt.
Im Folgenden möchte ich in einer ersten Annährung die theoretischen Überlegungen eines Soziologen vorstellen, der seit Jahrzehnten eine unfreie politische Ordnung aus ihrem Inneren heraus erforscht, mit Blick auf genau dieses Doppeldenken (und auch Doppelsprechen), das im Kalten Krieg schon so viele autoritär geführte Gesellschaften prägte. Diese Art der Autoritarismusforschung unterscheidet sich von vielen anderen Ansätzen auf diesem Gebiet, denn sie entsteht selbst unter den Bedingungen autoritärer Machtverhältnisse und studiert sie nicht nur aus der nächsten Nähe, sondern auch bei unmittelbarer persönlicher Betroffenheit.
Der russische Soziologe Lev Gudkov, von dem hier die Rede ist, ist jenseits von Russland vor allem als Empiriker und Meinungsforscher bekannt, in den vergangenen Jahren vorrangig als Direktor des renommierten Moskauer Umfrageinstituts „Levada-Zentrum“, das ursprünglich als WZIOM („Allrussisches Meinungsforschungszentrum“) mitten in der Zeit der Perestrojka (1988) gegründet worden ist. Unter Wladimir Putin war es dann zunehmendem Druck ausgesetzt, 2016 wurde es vom russischen Justizministerium sogar auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt.
Gudkov ist allerdings viel mehr als ein Meinungsforscher. Er ist nicht nur Autor mehrerer Bücher sowie zahlreicher Aufsätze und Vorträge, sondern vor allem ein Theoretiker, dessen Konzepte auf dem Gebiet der Theorie autoritärer gesellschaftlicher Verhältnisse mehr Aufmerksamkeit verdienen.
Beinahe bei jeder Gelegenheit unterstreicht Gudkov, wie viel er seinem Lehrer, Jurij Levada, zu verdanken hat. Levada war seit 1992 Direktor von WZIOM, später, bis zu seinem plötzlichen Tod 2006, Direktor des Levada-Zentrums; nach 2006 hatte Gudkov diesen Posten inne. Nach dem Tod von Levada wurden seine zahlreichen Texte von Gudkov und Kollegen in mehreren Bänden sorgfältig lektoriert und kommentiert herausgegeben, was allerdings kaum etwas daran änderte, dass die meisten Ideen und Konzepte von Levada nicht nur jenseits von Russland, sondern auch in den russischen soziologischen Fachkreisen kaum bekannt sind.
Die Tradition des „Homo soveticus“
Gudkov betont beständig, wie sehr ihn die Überlegungen und Einsichten von Levada, dem wohl herausragendsten sowjetischen Soziologen – der in der Sowjetunion gleichwohl immer wieder Verfolgungen ausgesetzt war – beeindruckt und nachhaltig beeinflusst haben. Darunter auch die Einsicht, dass die westlichen Theorien der totalitären und autoritären Ordnungen für das Erforschen der sowjetischen gesellschaftlichen Realität nicht viel taugten, weil sie gesellschaftliche Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesse axiomatisch annahmen, die für die sowjetischen Gesellschaften nicht oder nicht in gleichem Maße vorausgesetzt werden konnten.
Genau diese andere sozial-historische Herkunft sollte auch die These vom „listigen Menschen“ würdigen, die im Rahmen des 1989 gestarteten Forschungsprojektes zum „Homo sovieticus“ von Levada formuliert wurde. Tatsächlich ist Levada wohl vor allem durch diese auch jenseits der Fachkreise populär gewordene Bezeichnung bekannt geworden. 1993 erschien sein Buch „Der einfache Sowjetmensch“, das sich ganz dem Problem widmete, wer der „Homo sovieticus“ eigentlich sei. Diese „besondere sozial-anthropologische Erscheinung“, so Levada, gebe es etwa seit Mitte der 1920er Jahre.
Nach dem Modell von „Homo ludens“ oder „Homo oeconomicus“ wollte Levada damit eine idealtypische Konstruktion mit hohem analytischen Potenzial bieten, die für autoritäre und totalitäre Ordnungen jenseits der westlichen Modernisierung gedacht war. Die Bezeichnung „Homo sovieticus“ war freilich als analytische Kategorie und gesellschaftliche Dominante aufzufassen; sie bedeutet nicht, dass alle Bürger der UdSSR diesem Bild empirisch in etwa gleich gut entsprochen hätten.
In Bezug auf die sowjetische Gesellschaft interessierte sich Levada, wie auch viele andere sowjetische Intellektuelle, für die Wirkungsmacht der Ideen, Visionen und Utopien, aber auch der Ideologie als eines Herrschaftsinstrumentes. Die Frage, woran Sowjetmenschen aufrichtig glauben, interessierte paradoxerweise sowohl die Herrschenden als auch die oppositionell Gesinnten: Aufrichtigkeit galt für beide Seiten als ein wichtiger Wert. Daher war ein besonders wichtiges Thema für Levada die nur sichtbar gemachte – also demonstrative – Einhaltung der gesellschaftlichen Normen, deren Inhalt prinzipiell nicht mehr wichtig war.
Diese „demonstrative Loyalität“ bezeichnete er mit dem schwer übersetzbaren russischen Wort lukawstwo (deutsch: List, Schlauheit, Hinterhältigkeit, Schelmerei) und behauptete, dass die Einwohner der UdSSR weniger darauf bedacht waren, Sowjetmenschen zu sein denn als solche zu erscheinen: „Eine totalitäre Gesellschaft kommt nicht ohne einen listigen Menschen aus.“
Levada starb, noch bevor das Regime von Putin immer mehr Merkmale einer Diktatur annahm, obwohl er intuitiv voraussah, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln würden. Gudkov dagegen beschreibt in den vergangenen 25 Jahren penibel genau das postsowjetische Regime und setzt an dem Konzept des „listigen Menschen“ von Levada an. Er etablierte allerdings seinen eigenen Begriff für das Putin‘sche Russland, eben den des Doppeldenkens. Dabei sind nicht nur Bezüge auf Arbeiten seines Lehrers sondern auch auf den Roman von George Orwell offensichtlich. Gudkov versucht nicht nur, das Doppeldenken zu einer umfassenden soziologischen These auszubauen, sondern er widerspricht auch dem Bild, das Orwell erschaffen hat.
Bekanntlich wurde das englische Wort „Doublethink“ aus dem 1949 erschienen Roman „1984“ zunächst als „Zwiedenken“ übersetzt, erst später setzte sich dafür das deutsche Wort „Doppeldenk“ durch. In einer älteren deutschen Übersetzung beschreibt Orwell diesen Zustand folgendermaßen:
„Zu wissen und nicht zu wissen, sich des vollständigen Vertrauens seiner Hörer bewußt zu sein, während man sorgfältig konstruierte Lügen erzählte, gleichzeitig zwei einander ausschließende Meinungen aufrechtzuerhalten, zu wissen, daß sie einander widersprachen, und an beide zu glauben; die Logik gegen die Logik ins Feld zu führen; die Moral zu verwerfen, während man sie für sich in Anspruch nahm; zu glauben, Demokratie sei unmöglich, die Partei jedoch die Hüterin der Demokratie; zu vergessen, was zu vergessen von einem gefordert wurde, um es sich dann, wenn man es brauchte, wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, und es hierauf erneut prompt wieder zu vergessen; und vor allem, dem Verfahren selbst gegenüber wiederum das gleiche Verfahren anzuwenden. Das war die äußerste Spitzfindigkeit: bewußt die Unbewußtheit vorzuschieben und dann noch einmal sich des eben vollzogenen Hypnoseaktes nicht bewußt zu werden.“
Doppeldenk bei Orwell ist damit eine radikale Veränderung der menschlichen Kognition, eine totale Kontrolle von Erinnern, Aufmerksamkeit, Denken, sprich: des gesamten Bewusstseins. Es versteht sich von selbst, dass diese absolute Plastizität des Bewusstseins und seine totale Kontrollierbarkeit eine Hyperbel ist. Diese Hyperbel stiftete allerdings zahlreiche intellektuelle und theoretische Bemühungen um das Verständnis dessen, was mit Menschen unter den Bedingungen einer totalitären oder autoritären Herrschaft geschieht. Auch Gudkov greift diese Hyperbel auf, widerspricht allerdings genau der Vorstellung, Doppeldenken sei das Resultat eines Hypnoseakts, eine Art Trancezustand oder schizophrene Bewusstlosigkeit.
Im Gegenteil: Für Gudkov ist Doppeldenken eine durchaus nüchterne, adaptive Strategie, und zwar nicht nur die der Herrschenden. Sie basiert auf der dominierenden Art der sozialen Beziehungen, die durch grassierende Machtwillkür gekennzeichnet sind. Das gesellschaftliche Doppeldenken nach Gudkov kennt also keine Hypnotiseure, sondern erfasst alle, Beherrschten wie die Herrschenden, gleichermaßen.
Gudkov widerspricht Orwell auch darin, dass das Doppeldenken die Fähigkeit bedeute, zwei sich ausschließende Meinungen gleichzeitig und aufrichtig zu vertreten. Beinah kann man sagen, dass das Doppeldenken ein eher ungünstiger Begriff für das ist, was Gudkov meint. Denn es geht ihm nicht um das Denken, sondern um soziales Handeln, um gesellschaftlich dominante Beziehungsmuster und soziale Institutionen. In verschiedenen Texten bemüht er sich um begriffliche Klärung dessen, was er als zentrale Merkmale der gegenwärtigen russländischen Gesellschaft erkennt. Den historischen Kontext für seine Bemühungen stellen postutopische Enttäuschungen über zuversichtliche Idealen und Zukunftserwartungen, Konformismus als soziale Praxis innerhalb einer dauerhaft autoritären Herrschaftsstruktur und das Geschehenlassen von Gewalt (oder anders formuliert: Gewalt, die keinen Widerstand hervorruft) dar. Aus diesem Kontext heraus formuliert nun Gudkov seine idealtypische Konstruktion:
„Das ist ein Mensch, der sich mit dem Staat identifiziert, ein Imperialist, der zugleich aber auch versteht, dass der Staat ihn beständig betrügt und ausbeutet, dass der Staat ein System von Gewalt ist und dass man daher der Kontrolle seitens des Staates ausweichen muss. Das ist ein listiger, doppeldenkender Mensch, er ist ständig auf der Hut, denn sein ganzes Leben wird von Zwang und Gewalt geprägt“.
Der Verlust von Verantwortungsethik
Unter den beschriebenen Bedingungen sind Menschen in ihrem Handeln gezwungen, sich an die repressive Herrschaftssituation anzupassen und die Vorstellung von individueller normativer Integrität und wertebasierter Autonomie fallen zu lassen. Öffentliches soziales Handeln kann dann gänzlich dem privaten widersprechen, die Idee einer Verantwortungsethik ist in diesem Falle nicht möglich. Es entsteht eine paradoxe Situation: Subjekte passen sich den bestehenden gesellschaftlichen Spielregeln an und nehmen sie zugleich nicht ernst.
Konkret interessiert sich Gudkov also für eine gesellschaftliche Situation und ein politisches System, in denen leere Phrasen und Imitationen, „fakes“ und Lügen die Herrschaftsbeziehungen charakterisieren, aber auch soziale Beziehungen an sich und den Raum der Öffentlichkeit. Eine Situation also, in der man loyal einem repressiven Herrschaftsregime gegenüber sein muss, das beständig seine eigenen Worte nicht ernst nimmt und eigens propagierten normativen Anforderungen infolge der Gewaltwillkür widerspricht. In dieser Situation, folgt man Gudkov, kann paradoxerweise selbst eine Loyalität nicht entwickelt werden beziehungsweise wird untergraben.
Loyalität kann folglich nur noch imitiert werden. Individuelles Überleben und Fortkommen ist nur möglich, wenn man nicht einfach der herrschenden Ideologie oder den vorgegebenen Deutungsmustern und Weltbildern gegenüber loyal ist, sondern grundsätzlich an keine standfesten Werte und wahre Überzeugungen glaubt, Loyalität also eher vortäuscht als die proklamierten Inhalte, die sowieso nur leere Hülsen sind, zu verinnerlichen. Eine weitere Paradoxie besteht darin, dass das Doppeldenken als Loyalität und Widerstand zugleich gedeutet werden kann.
Für Gudkov ist diese Situation einer inneren Spaltung und Korruption von Werten deswegen soziologisch so bedeutsam, weil sie die Grundlagen für gesellschaftliche Solidarität und Moral unterwandert. Doppeldenken siedelt sich jenseits von Utopien, Glauben und Fanatismus an, es ist eine Strategie der Anpassung in einer Sozialität, die durch starke Repressivität einerseits und fehlende Werte und verinnerlichte Glaubenssätze beziehungsweise starke moralische Desorientierung andererseits gekennzeichnet ist.
Nicht zufällig taucht in diesem Kontext die berühmte Verantwortungsethik von Max Weber auf, die unter den Bedingungen des Doppeldenkens nicht realistisch ist: Gudkov ist ein bekennender Weberianer, die Problematik der Werte interessiert ihn im Werk von Weber wie auch in der gegenwärtigen sozialen Praxis im besonderen Maße. Auch der Begriff der Gesellschaft selbst, mit dem Gudkov argumentiert, ist ein theoretischer, wenn nicht utopischer Entwurf großer deutscher Denker. „Gesellschaft“, „Wertebewusstsein“ und „Doppeldenken“ stehen damit bei Gudkov in einem konzeptionellen Zusammenhang, der allerdings noch einer eingehenden Klärung bedarf.
Festgehalten werden kann, dass das Doppeldenken für Gudkov keine geistige oder kognitive, sondern eine moralische Kategorie ist. Sie beschreibt Motive und Mechanismen des sozialen Handelns, das heißt der sozialen Beziehungen unter den Menschen – und das heißt wiederum: Machtbeziehungen. Es ist wichtig festzuhalten, dass nach Gudkov eine jede soziale Ordnung repressiv und für eine jede das Doppeldenken in einem bestimmten Maße charakteristisch ist! Freilich variiert der Charakter der Repressivität bei sozialen Beziehungen je nach politischen Rahmenbedingungen und Herrschaftsstrukturen erheblich – in ihrer Form und dem Grad der Ausprägung beziehungsweise in der Intensität der Repressivität.
Das Doppeldenken wird von Gudkov also nicht als ein Merkmal von ausschließlich totalitären oder autoritären politischen Ordnungen und Diktaturen verstanden. Vielmehr schlägt er vor, es als eine soziologische beziehungsweise analytische Kategorie zu behandeln, die man in einer jeden Gesellschaft anwenden könnte – und die er grundsätzlich in der klassischen theoretischen Soziologie verorten möchte. Er will sie von der Aura der Orwellschen Hyperbel befreien und sie für die empirische Analyse von sozialen Beziehungen, insbesondere in unfreien Gesellschaften, etablieren. Für das Studium der postutopischen autoritären Verhältnisse in Russland eigne sich diese Kategorie ganz besonders.
Nicht nur in diesem Kontext korrespondieren die Thesen von Gudkov mit jenen von Hannah Arendt, insbesondere mit ihren Thesen zur politischen Bedeutung der Urteilskraft, wo sie zum Beispiel schrieb: „Ich versuchte zu zeigen, daß unsere Entscheidungen über Recht und Unrecht von der Wahl unserer Gesellschaft, von der Wahl derjenigen, mit denen wir unser Leben zu verbringen wünschen, abhängig werden.“ Die Banalität des Bösen tritt dann auf, wenn „jemand kommt und zu uns sagt, es sei ihm egal, jede Gesellschaft wäre ihm gut genug. Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist“, so Arendt.
Wenn Fakten und Fiktion nicht mehr voneinander trennbar sind
Auch Arendt war es, die unmissverständlich festgehalten hat: Der ideale Untertan totalitärer Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder engagierte Kommunist, sondern Menschen, für die der Unterschied zwischen Fakten und Fiktion, wahr und falsch, nicht länger existiert. Arendt führte in ihren Studien zum Totalitarismus den Begriff der Fiktion ein, der in gewisser Hinsicht mit dem des Doppeldenkens von Gudkov korrespondiert, obwohl auch diese konzeptionelle Parallele noch einer eingehenden Prüfung bedarf.
Gleichgültigkeit, Indifferenz, mehr oder weniger bewusster Verzicht auf das Urteilen haben nach Arendt besonders gravierende politische Folgen, und Gudkov greift genau diese Situation als Soziologe auf und versucht, sie für die soziale Praxis und die Formen der sozialen Beziehungen beziehungsweise der sozialen Integration auszubuchstabieren. Der Zusammenhang hier ist alles andere als trivial, denn das Verhältnis zwischen Indifferenz, die Arendt beschreibt, und der Repressivität der Herrschaft, wie sie von den Subjekten wahrgenommen wird – beziehungsweise ihre Anfälligkeit für Manipulation und Propaganda –, ist nicht linear; beide bedingen sich eher gegenseitig.
Mit anderen Worten ist Indifferenz sowohl ein Produkt von als auch eine Voraussetzung für politische Manipulationen und kann durchaus mit strategischer Verinnerlichung von Propaganda einhergehen, die als nüchterne Anpassungsstrategie erfolgt. Es entsteht eine soziale und kulturelle Atmosphäre – eine politische Kultur – einer unausweichlichen Anpassung, bei der Konformisten und Non-Konformisten, wenn überhaupt, nur situativ zu unterscheiden sind. Genau diesem „doppelten“ Charakter der unfreien Sozialität widmet Gudkov viel Platz.
Diesem Erklärungsmuster ist unverkennbar eine totalisierende Tendenz eigen, wonach es unter den Bedingungen eines dauerhaft autoritären Regimes schlicht keine Nicht-Konformisten geben kann. Die ständige Bereitschaft, auf Repressivität durch Anpassung zu reagieren (oder sie sogar vorwegzunehmen), mündet in einer ganz spezifischen Subjektivität: Sie wird herausgebildet in einer sozialen Praxis, in der das Recht des Stärkeren gewinnt, womit Machtwillkür und Unterwerfung alle Ebenen des Sozialen konstituieren, nicht nur die der Staatsspitze.
Damit ist das Konzept des Doppeldenkens nach Gudkov eines der Machtlosigkeit und Unmündigkeit, aber auch eines, das die positive Achtung der Würde des Menschen in der erforschten Gesellschaft vermisst: In einer dauerhaft autoritären gesellschaftlichen Ordnung adaptieren sich Subjekte an die eigene rechtliche und institutionelle Machtlosigkeit, das heißt, sie bilden Verhaltensnormen und Weltbilder heraus, die der Machtwillkür der Herrschenden entsprechen.
Doppeldenken meint damit auch eine nicht zu überwindende Abhängigkeit, unter deren Bedingung (eigene) Werte und Prinzipien für immer sekundär bleiben. Es ist eine soziale Situation mit doppeltem Boden: Woran man auch immer glaubt, die Willkür der Machthaber wird entscheiden, ob und inwiefern man daran glaubt oder nicht. In einer solchen gesellschaftlichen Situation bleiben Werte nur noch leicht auswechselbare Instrumente der Machtspiele: Sich behaupten kann nur die Macht, kein Wert.
Stehen gebliebene Zeit des Konformismus
Eine solche Situation ist politisch konservativ, denn die Willkür der Herrschenden bleibt unabhängig davon, wer konkret gerade die Regierung bildet. „Der listige Mensch“ denke nur noch daran, wie er unter jedem Machthaber überleben oder gar gut leben kann. Er ist erfinderisch und psychologisch sehr flexibel, aber was er nicht kann, ist, die institutionellen Rahmenbedingungen seines Lebens zu verändern.
Eine solche politische Kultur zeichnet sich durch eine „stehen gebliebene Zeit“ aus, denn darin sind grundsätzlich keine auf die Zukunft gerichteten politischen Programme oder (utopischen) Entwürfe möglich; und auch die Vergangenheit kann keine Orientierungen bieten, denn sie wird beständig, je nach aktueller Herrschaftskonjunktur, neu erfunden. Mehrfach betont Gudkov den die Solidarität zersetzenden und äußerst konservativen Charakter des Doppeldenkens.
Die theoretischen Entwürfe innerhalb der sowjetischen und später russischen Soziologie, die vielfach den Konformismus und die fehlende politische Mündigkeit thematisieren, korrespondieren bemerkenswerterweise mit postmodernen und gegenwärtigen Motiven in der westeuropäischen Soziologie. Denn diese neueren Theorien zweifeln immer mehr an, dass es das Soziale wie auch die Subjektivität jenseits des Konformismus überhaupt gibt:
„Die Poststrukturalisten betonen, daß die Wissensordnungen, welche Subjektivität und Identität definieren und instituieren, sich nicht außerhalb von Macht und Herrschaft bewegen, sondern daß vielmehr das Subjekt, das sich selber am Ende möglicherweise autonom und selbstkontrolliert vorkommt, zu einem solchen nur in Unterwerfung unter die akzeptablen Formen von Subjektivität zu werden vermag“.
Verwirft man die irreführende strikte Unterscheidung zwischen autoritären und freien Gesellschaften und betrachtet jede moderne Gesellschaft als eine, die Variationen von Autoritarismus und Freiheit kennt und von dem einen mehr, von dem anderen weniger aufweist, ist Konformismus jenes Maß, mit welchem man das Wesen einer jeden Sozialität betrachten kann. Der Begriff Konformismus stammt bekanntlich von dem lateinischen conformis, das „ähnlich“ oder auch „gleichförmig“ meint. Die Neigung, sich der Umgebung anzupassen, sich ihr anzugleichen, wird erst dann verwerflich, wenn darunter ein Verrat an eigenen Überzeugungen und Werthaltungen verstanden wird, eine prinzipienlose Bereitschaft, den eigenen Standpunkt je nach Situation und sozialer Umgebung zu verändern beziehungsweise gar nicht erst einen Standpunkt zu haben.
Die interessante Frage, die dabei offen bleibt, ist, wie sehr Menschen in der Lage sind, sich bewusst zu verstellen und wie sehr auch ihr aufrichtiges Handeln dennoch ein konformes sein kann. Zugespitzt formuliert kann man fragen, wie konformistisch und heuchlerisch das Soziale an sich ist und inwieweit wir tatsächlich in der Lage sind, das Verstellen und die Heuchelei zu steuern und zu kontrollieren. Neuere Veröffentlichungen in der westlichen Soziologie prägen immer stärker diese Denkrichtung und Rehabilitieren den Begriff der Anpassung innerhalb der theoretischen Soziologie. Offen bleibt aber immer noch die prinzipielle Frage, wie sich durchaus qualitativ verschiedene Anpassungsstrategien mit sozialen Institutionen und der vorherrschenden Politischen Kultur verhalten.
Die Wiederbelebung totalitärer Praktiken
In der gegenwärtigen Realität, die Gudkov erforscht, erlebt das postsowjetische Russland eine bemerkenswerte Wiederbelebung von totalitären Praktiken. Die intellektuellen Debatten – vorranging unter denen, die Russland verlassen haben, aber teilweise auch unter dort gebliebenen Kulturschaffenden und Intellektuellen – kreisen um diese schmerzhafte Frage: Hat es überhaupt einen Sinn, sich nicht den Gegebenheiten anzupassen? Die schweigende Opposition, die im Lande geblieben ist und die Farbe nicht mehr bekennen darf, besteht immer noch darauf, dass Verstellen und Überleben an sich einen Wert haben. Gudkov sieht darin nicht nur eine doppeldenkerische, sondern auch eine zynische und gerade deswegen eine politisch ohnmächtige Position.
Den Thesen von Gudkov ist zweifelsohne eine besondere Nüchternheit eigen, wenn nicht eine pessimistische Haltung. Rückblickend muss man allerdings dieser Haltung Recht geben. Es war Gudkov, der bereits zu Beginn der 2000er Jahre auf das Scheitern der politischen Transformation im postsowjetischen Russland hingewiesen hat, als noch weltweit viele Russlandforscher sehr zuversichtlich ihre „Transformationsstudien“ betrieben haben, darunter auch ich selbst.
Tatsächlich will Gudkov auf die tief verankerte und sehr komplexe Natur des russischen Autoritarismus hinweisen. Aber nicht nur darauf, ebenso geht es ihm um die langfristige historische Bedingtheit der westlichen Demokratie, die ebenfalls viel zu lange zu oberflächlich und zu zuversichtlich betrachtet wurde. Denn Demokratie, das sind keine Meinungen und Stimmungen, sondern über Jahrhunderte herausgebildete und in langwierigen Prozessen institutionell verankerte Begriffe von Subjektivität, Macht und Gewalt.
Ihnen zugrunde liegen auch bestimmte Werte, deren Anerkennung eine Bedingung für demokratische Machtverhältnisse ist. Eben dieses Bild dient für Gudkov als Kontrastfolie bei seiner Erforschung einer Gesellschaft, die unter dauerhaft autoritären Bedingungen lebt und entsprechende nachhaltige Anpassungsstrategien entwickelt.
Zitierweise: Anna Schor-Tschudnowskaja, „Doppeldenken als soziale adaptive Strategie", in: Deutschland Archiv, 11.1.2025, www.bpb.de/558322. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Karl Schlögel, Gestrandet auf der Sandbank der Zeit: oder wie man lernt, sein Russlandbild neu zusammenzusetzen, voraussichtlich Deutschlandarchiv vom 6.1.2025.
Dr. Anna Schor-Tschudnowskaja, Diplom-Psychologin und Soziologin, geboren in Kyiv (damals UdSSR), aufgewachsen in Sankt Petersburg, studierte und promovierte in Deutschland. Zurzeit ist sie Assistenzprofessorin an der psychologischen Fakultät der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen vor allem politische Kultur und gesellschaftliches Selbstbewusstsein in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland. Ihr jüngstes Forschungsprojekt (FWF) widmete sich den Deutungsmustern im Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit. Gegenwärtig ist sie Leiterin eines Robert-Bosch-geförderten Forschungsprojektes zum Geschichtsverständnis bei jungen Menschen in Russland. In der bpb ist 2016 bereits von ihr erschienen: Interner Link: www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/stasi/234596/kgb-wurzeln und 2022 Externer Link: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/345507/der-friedensnobelpreis-2022-fuer-memorial/.
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