„Wir haben nicht lange überlegt, sondern einfach angefangen!“ Die Augen meines Gesprächspartners leuchteten noch immer, als ich mit ihm vor einiger Zeit in seinem Haus in Heiligenhaus in Nordrhein-Westfalen zusammensaß. Er erzählte mir, wie es damals mit der Siedlung begann. Wie sie Holzpflöcke in den Ackerboden stemmten, um die Baugrube zu markieren, wie er sich eine rostige Spitzhacke nahm und sie in den Boden rammte. Da war Josef Taborsky gerade mal 21 Jahre alt, seine Freunde nannten ihn kurz „Jupp“. Dabei blieb es auch später, als der Former in der Eisengießerei Hitzbleck bis zur Rente im Akkord arbeiten ging. „Jupp“ gehörte Anfang der fünfziger Jahre zur Schar junger Leute, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine neue Heimat aufbauen wollten und nicht darauf warteten, dass andere dies für sie erledigten.
60 Jahre später erzählt er mir von seiner Flucht-Odyssee aus der DDR. Es ging von Aue über Stralsund und Nordhausen in die Nähe von Düsseldorf, wo er mit Geschwistern und Eltern „eng wie die Heringe“ auf dem Speicher eines Bauernhofes wohnte, sofort aber begann, ihn auszubauen. Ich habe ihn beim Tapezieren seines Wohnzimmers angetroffen, er will für das Gespräch nur eine kleine Pause machen und sagt: „Ich muss halt immer selbst die Initiative ergreifen und etwas zu tun haben. Das war damals so, und das ist auch mein Leben lang so geblieben.“
Er war 1952 volljährig geworden, hatte sich in eine junge Frau verliebt und wollte sich mit ihr eine eigene Zukunft aufbauen. Nachdem er von der Möglichkeit gehört hatte, in Heiligenhaus ein eigenes Heim mit aufzubauen, meldete sich der junge Mann bei der Stadtverwaltung und beim Siedlerbund Rheinland als „Anwärter“ auf eine eigene Wohnung im eigenen Haus. Die musste aber erst noch gebaut werden, und zwar, mit anderen gemeinsam, eigenhändig – immerhin war kein Eigenkapital nötig. Eine Neugründung auf freiem Feld, per Eigenleistung.
Links und rechts einer lehmigen Baustraße zog Josef Taborsky mit einem Dutzend weiterer „Anwärter“ Haus für Haus der Reihe nach hoch, ohne zu wissen, in welches Haus er später einziehen würde. So wurde von den zufällig zusammengesetzten Bautrupps überall gleich sorgfältig gearbeitet. Erst als alle Häuser in der Straße so gut wie fertig waren, ging es an die Verteilung. Der Lehmweg erhielt den Namen Gerhart-Hauptmann-Straße und wurde erst 10 Jahre später geteert. Ein Anschluss an die Kanalisation erfolgte nach 25 Jahren. Der Strom kam lange Zeit über Freileitungen in die Häuser, die an Holzmasten befestigt waren.
„Hilfe zur Selbsthilfe“ hieß das Projekt, über das ich nun – nach vielen Jahren der Gespräche mit meinen ehemaligen Nachbarn – berichten kann. Sie ließen mich zudem in ihre Schubladen und Kisten mit Fotos, Briefen und Dokumenten hineinschauen, die alles wieder lebendig machen. Die Familiengeschichten sind eng verwoben mit der deutschen Geschichte. Es geht um Krieg und Frieden, um Faschismus und Stalinismus, Demokratie und Diktatur, um die Spätfolgen traumatischer Fluchterlebnisse, um Verständnis und Hilfe – aber manchmal auch um den Zwist zwischen Einheimischen und Fremden, Menschen mit einem anderen Akzent, anderem Glauben oder anderer Mentalität. Es sind Geschichten, die sich so ähnlich auch in anderen Orten der Bundesrepublik zutrugen.
Die Sehnsucht nach einem eigenen Dach über dem Kopf
Manchmal geht es auch nur um Pragmatismus als beste Lösung für Probleme. Der damals Anfang 20-jährige Ernst Spitzlei erinnert sich noch gut an diese für ihn aufregende Zeit: „Es ging uns schlicht darum, endlich ein eigenes Dach über dem Kopf zu haben, um ins Leben starten zu können. Wir waren jung, wir wollten unabhängig sein, uns eine eigene, neue Welt schaffen. Da bekamen wir eine Riesenchance geboten, ohne Kapital ein Siedlungshaus zu bauen. Aber als ich damals zum ersten Mal von der Heiligenhauser Hauptstraße abbog und einen schmalen Weg den Hügel hinunter ging, war ich zunächst schon ein bisschen ernüchtert. Zur linken war ein wogendes Kornfeld, hinter der Bahnlinie sah ich nur einen Kartoffelacker, ziemlich steil abfallend. Aha, dachte ich, eine Hanglage, nun ja, nicht ganz ideal…“ So ging es auch den meisten anderen, in etwa Gleichaltrigen, im ersten Moment. Doch am nächsten Morgen sagte sich der heute 97-jährige Ernst Spitzlei: „Das wird schon, das muss doch zu schaffen sein. Also erstmal einfach mal ran ans Ausschachten!“ Dafür standen seiner Baugruppe, mal acht, mal zwölf Leuten, weder Bagger noch andere Maschinen zur Verfügung. „Schaufel, Spaten, Spitzhacke – wir legten einfach los. Alle gemeinsam, Baugrube für Baugrube. Irgendwie machte es auch Spaß, bei Null anzufangen und eine Straße wachsen zu sehen.“
Es war auch ein Stück weit Abenteuer für die Beteiligten. Angesichts der heute oft beklagten überbordenden Bürokratie, Normen und langwieriger Genehmigungsverfahren erscheint eine solche Initiative so nicht mehr denkbar. Allein schon die Baugerüste auf den alten Fotos sehen nach heutigen Maßstäben und Sicherheitsvorschriften unerlaubt und mehr als waghalsig aus. An die Pläne des Architekten wurde sich auch nicht überall gehalten. Aber die Häuser stehen noch, sind im Wert von ein paar Tausend auf Hundertausende heute gestiegen. In manchen leben die Kinder und Enkel der Baupioniere von damals, in andere sind längst wieder neue Nachbarn eingezogen.
Gemeinschaftlich aktiv auch beim Dachstuhlbau. (© Archiv P. Wensierski)
Gemeinschaftlich aktiv auch beim Dachstuhlbau. (© Archiv P. Wensierski)
Friedhelm Temme war mit 17 Jahren als Jüngster 1952 mit dabei, um seinen älteren Bruder Heinz-Günther zu unterstützen. Der war gerade 20 geworden (mit 21 Jahren war man damals überhaupt erst volljährig). Auch Vater Temme baute mit, der den Traum teilte, endlich anzukommen und einen Platz für die ganze Familie zu schaffen. Von nun an verbrachten alle „Anwärter“ zwei Jahre lang jede freie Minute auf der Baustelle, und all das neben einer 48-Stunden-Arbeitswoche in den nahegelegenen Fabriken, denn auch der Samstag war damals noch ein normaler Arbeitstag. „Wir haben nur zu Feiertagen, zu Ostern und Pfingsten, mal einen Tag ausgesetzt, aber ansonsten wurde immer durchgearbeitet, solange es hell war.“
Denn die Situation auf dem Wohnungsmarkt war schon seinerzeit schlicht katastrophal. Durch den von Deutschland begonnenen Weltkrieg waren nach 12 Jahren Herrschaft der Nationalsozialisten die meisten Städte zerstört. Es gab rund 12 Millionen Flüchtlinge und Heimatvertriebene aus dem Osten Deutschlands, die Richtung Westen geflohen waren. Eine ziemliche Herausforderung. Sie lebten zunächst meist in Notunterkünften, auf engstem Raum bei Verwandten oder einquartiert bei Wildfremden.
So wie Josef Taborsky und Ernst Spitzlei kamen diese Flüchtlinge von weither, aus Ostpreußen, Schlesien, dem Sudetenland, aus Dresden, Leipzig oder Danzig. Sogenannten „Nissenhütten“, provisorische Flüchtlingsbaracken, gab es wie überall im Land auch in dem zwischen Essen und Düsseldorf nahe der Ruhr gelegenen Heiligenhaus gleich an mehreren Stellen der Stadt. Das war aber natürlich keine Dauerlösung. Zudem kamen ja nicht nur Flüchtlinge hereingeströmt, sondern in den umliegenden Städten waren zehntausende von Wohnungen zerstört worden, deren einstige Bewohner ebenso dringend neuen Wohnraum brauchten. Die Wohnungsknappheit war enorm. Woche für Woche trafen Anfang 1947 in Heiligenhaus mit den „Transporten aus dem Osten“ rund 120 Flüchtlinge neu ein, dazu 419 „Evakuierte“ aus Essen. Soldaten wie Offiziere der Briten und Amerikaner belegten ebenfalls Wohnungen.
In der Statistik des Stadtarchivs ist von den 13.248 Einwohnern im September 1950 jeder zehnte als „heimatvertrieben“ erfasst. Von 1.000 Einwohnern stammen nur 619 aus Heiligenhaus. Fünf Jahre nach Kriegsende existierten noch 76 Wohnbaracken oder „Nissenhütten“ im Ort, neun Familien lebten in „Gebäuderesten“. Es gab „Volksküchen“ und „Wärmestuben“, es war eine harte Zeit. Aber es war auch eine Zeit voller Zuversicht. Viele der neuen Siedler in der Gerhart-Hauptmann-Straße waren noch Kinder, als der Krieg begann; nun waren sie um die 20 Jahre alt.
Unterstützung von Stadt und Kirche
In dieser Situation entstanden verblüffend unbürokratische und zugleich soziale Ideen. Wer also, fragte ich bei Armin Merta nach, dem langjährigen Vorsitzenden der heutigen Siedlergemeinschaft, unterstützte damals die Siedler der Gerhart-Hauptmann-Straße, von denen eigentlich keiner genug Geld für ein Haus besaß? Seine Recherchen ergaben:
Dem drängenden Wunsch vieler nach einem eigenen Heim kam die Stadt Heiligenhaus in Kooperation mit der Gemeinnützigen Siedlungsgesellschaft des Hilfswerks der Evangelischen Kirche in Düsseldorf als Bauträger entgegen. Den Anstoß gab der „Siedlerbund Rheinland“ mit Programmen namens „Hilfe zur Selbsthilfe“ und „Wohneigentum nicht nur für Wohlhabende“.
Der Bauplan für die Gerhart-Hauptmann-Straße. (© Archiv P. Wensierski)
Der Bauplan für die Gerhart-Hauptmann-Straße. (© Archiv P. Wensierski)
„Interessierte junge Leute konnten sich 1950/51 praktisch voraussetzungslos als Anwärter auf eine Siedlerstelle bewerben“, berichtet der pensionierte Mathematiklehrer Merta, der eine Chronik der Straße in seinem Archiv hat. „Sie konnten zunächst einmal losbauen, ohne als Eigentümer ins Grundbuch eingetragen zu werden. Die Grundstücke dafür stellte die Stadt gegen eine geringe jährliche Pacht vorläufig zur Verfügung. Sie hatte zuvor Kartoffelacker und Kornfeld günstig vom Bauern als Bauland erworben.“ Erst fünf Jahre nach dem ersten Spatenstich gingen die Häuser und Grundstücke ins Eigentum der „Anwärter“ über. Erst 1957, fünf Jahre nach Baubeginn, mussten die Rechnungen für das 1951/52 vorgestreckt gelieferte Baumaterial beglichen werden. So ermöglichte die „Hilfe zur Selbsthilfe“ den jungen Leuten, die nichts besaßen außer ihrer Arbeitskraft und ihrem Willen, etwas aufzubauen und sich eigenhändig eine Zukunft zu erschaffen.
Der Durchhaltewillen vieler war trotz harter Arbeit groß. Nur wenige stiegen aus dem Projekt aus. Nachdem das Ausschachten geschafft und die Keller fertig waren, folgten Betondecken, Schornsteine, Dachstühle und Sickerschächte. Ein gelernter Polier und ein Zimmermann genügten als fachliche Berater für die ungeübten Bauanfänger und Bauanfängerinnen, die aus ihren Reihen einen Obmann wählten, der die Verbindung zu Stadt, Siedlerbund und Hilfswerk hielt. Gearbeitet wurde nach dem Plan eines Architekten aus dem Nachbarort Mettmann, der die unterkellerten zweistöckigen Doppelhäuser mit rund 70 qm Wohnfläche (Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, Toilette, Flur plus Kellerräume) entworfen hatte -.
Geschossdecken in Handarbeit. (© Archiv P. Wensierski)
Geschossdecken in Handarbeit. (© Archiv P. Wensierski)
Die Stadt lieferte Split, Rheinsand und Zement an, alles wurde von Hand gemischt und in die ausgehobenen Fundamentgräben geschüttet. Sämtliche Steine für die Außenmauern wurden selbst hergestellt. Dazu wurden in Holzformen eine hinsichtlich ihrer Feuchtigkeit ausgeklügelte Betonmischung hineingepresst und das Ergebnis dann zum Trocknen auf Holzpaletten gestapelt. Bis zu 1000 dank Hohlraumkonstruktion sogar wärmeisolierende Dreiecksteine pro Tag kamen so zustande.
Zuteilung nach fairem Prinzip
Als die Häuser so gut wie fertig waren, ging es im Frühjahr 1952 an die Verteilung. Wer die meisten Arbeitsstunden geleistet hatte, durfte zuerst auswählen. Dabei wurden die Stunden helfender Familienmitglieder mitgezählt, die Stunden der unter 21-jährigen allerdings nur zur Hälfte. Die Frauen und Freundinnen halfen vor allem bei den Holzarbeiten und beim Innenausbau mit und legten die Gärten mit Gemüse und Obst an, dazu gab es Kaninchen- und Hühnerställe. In einem Schuppen hielt eine Familie sich anfangs sogar noch ein Schwein. Der Siedlerbund stiftete jeweils den Hühnerstall und vier Obstbäume: Apfel, Zwetschge, Sauerkirsche und Mirabelle.
In die Keller kamen große, runde, kohlebeheizte Waschkessel, in denen den ganzen Waschtag lang die Wäsche per Hand „gestampft“ und dann vielfach gespült wurde, bis die weißen Laken und Handtücher an der Sonne gebleicht und getrocknet wurden – eine langwierige, kräftezehrende Arbeit. In den Bädern gab es zunächst nur Toiletten und Waschbecken. Badewannen wurden erst sehr viel später selbst eingebaut, und zur Modernisierung wurde natürlich auch selbst gekachelt. Gebadet wurden die Kinder bis dahin in den Zinkwannen der Waschküche. Die großen Wannen dienten ihnen im Sommer auch als Planschbecken im Hof. Eigene Kinderzimmer gab es lange nicht, gespielt wurde nach der Schule „draußen“, die Straße war lange Zeit so gut wie autofrei.
Gärten als Blumen- und Selbstversorgungswunder
Unter der Regie der Frauen entwickelten sich die Obst- und Gemüsegärten zum Blumen- und Selbstversorgungswunder, angesichts der niedrigen Löhne in den fünfziger Jahren von unschätzbarem Wert. Die Gemüsebeete nahmen einen Großteil der Gartenlandschaft ein. Außer Kartoffeln gab es lange Reihen von Möhren, Buschbohnen, Sellerie, Lauch, Kohl, ein paar Radieschen und damals noch wenige Kräutern wie Petersilie, Schnittlauch und Dill. Natürlich auch Erdbeeren, Johannisbeeren, Brombeeren, Rhabarber. Die lehmige Erde wurde durch ständiges Umgraben verbessert, zum Kochen wurde alles frisch geerntet und verarbeitet.