Bald drei Jahre dauert nun schon Putins Krieg gegen die gesamte Ukraine. Stark verändert hat das auch den Alltag in Russland, besonders von Frauen. Sie sollen viele Kinder bekommen und nicht widersprechen – weder der Gewalt ihrer Männer noch dem übermächtigen Staat. Einige Mutige setzen sich zur Wehr, auch hier von Deutschland aus, das zu einem Fluchtort für engagierte Russinnen geworden ist.
Es waren Frauen, die in Russland vielfältigen Protest organisierten: gegen den Überfall auf die Ukraine, diesen neuerlichen Ausbruch von Gewalt und das sinnlose Sterben. Sie überklebten Preisschilder in Supermärkten mit Nachrichten von der Front, warfen Flugblätter in Briefkästen und informierten junge Männer vor Einberufungsämtern darüber, wie sie der Mobilisierung entgehen können. Sie bespritzten Kuscheltiere mit roter Farbe und ließen sie an öffentlichen Plätzen liegen, um an das Leid ukrainischer Kinder zu erinnern. Mehr als Zehntausend von ihnen schlossen sich zur Bewegung „Der Weg nach Hause“ zusammen, um ihre Männer und Brüder von der Front zurückzuholen, bis ihre Organisation im Juni 2024 als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt wurde. Andere produzieren heimlich eine Zeitung im Untergrund, die online verschickt und von einigen Unerschrockenen ausgedruckt und verteilt wird.
Wer sind diese Frauen, die trotz erheblicher Gefahren und angesichts einer oft hoffnungslos erscheinenden Situation nicht schweigen? Die im Untergrund solidarische Netzwerke bilden, einander helfen und den Glauben an eine demokratische Zukunft nicht verlieren?
Gegen die „chauvinistische Bedrohung“
Viele von ihnen leben heute im Exil, auch in Deutschland – aus Angst um ihr Leben oder das ihrer Kinder. Gemeinsam mit denen, die in Russland geblieben sind, kämpfen sie gegen das, was die Politikwissenschaftlerin Sabine Fischer in ihrem gleichnamigen Buch die „chauvinistische Bedrohung“ nennt: einen Staat, in dem ein extremes Patriarchat und imperialer Nationalismus zu einem Gewaltregime verschmelzen, das Frauen so wenig achtet wie all jene, die anders denken, leben oder lieben als die vermeintliche Norm. Fischer beschreibt, wie unmittelbar Putins Herrschaft nationalistische und frauenfeindliche Ideen verbindet und so eine Gesellschaft hervorbringt, die einen aggressiven Imperialismus verherrlicht, während sie liberale und demokratische Ideen als verweichlicht und verkommen ablehnt.
„Ich war eigentlich nie Aktivistin, auch keine Feministin“, sagt Katja, die ihren Nachnamen auch im Exil lieber nicht öffentlich macht. „Ich war einfach eine ganz normale Bürgerin, die zu Straßenprotesten ging.“ Die 44-jährige Kunsthistorikerin aus Moskau lebt heute mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn in Berlin. Sie ist aktive Mitstreiterin im Feministischen Antikriegswiderstand, zu dem sich unmittelbar nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 diverse feministische Gruppen zusammengeschlossen haben.
Es ist ein horizontales Netzwerk, das ohne zentrale Strukturen auskommt und so weniger angreifbar ist. Eher zufällig entdeckte Katja die Initiative, über deren Telegram-Kanal schnell mehr als 30.000 Menschen Nachrichten, Ideen für Protestaktionen und Sicherheitshinweise austauschten. Für Katja wurde der Kanal zur wichtigsten Stütze in den ersten Wochen nach dem Großangriff. „Es half, zu wissen, dass ich nicht allein bin, dass es andere gibt, die unter der Situation genauso leiden wie ich“, erzählt sie.
Kleine Zeichen des Widerstands
Trotz der strengen Zensur drangen damals, im März 2022, Nachrichten über die Belagerung von Mariupol nach Russland: Bilder von zerbombten Wohnhäusern, von hungernden Menschen und von Angehörigen, die ihre Nächsten in den Innenhöfen ihrer Häuser begruben, direkt neben den Spielplätzen der Kinder, weil sie nicht auf die Friedhöfe kamen. Katja erinnert sich zurück an die Zeit in Moskau: an ihren Schmerz, als sie diese Nachrichten las – und an ein lähmendes Gefühl der Ohnmacht. „Ich saß mit meinem kleinen Sohn zuhause, was konnte ich tun?“
Sie nahm eine Kinderschippe und einen Pinsel, band sie zu einem Kreuz zusammen und schrieb „Mariupol“ darauf. „Ich wollte es im Buddelkasten bei uns im Hof aufstellen. Die Erde war gefroren und ich brauchte lange, um auch nur ein kleines Loch zu graben. Die ganze Zeit dachte ich an die Menschen in der Ukraine, die in genauso gefrorener Erde ganze Gräber ausheben müssen.“ Ein Foto von ihrem Kreuz schickte sie an den Telegram-Kanal des Feministischen Antikriegswiderstands.
Und irgendwo am anderen Ende Russlands hatte jemand zur gleichen Zeit dieselbe Idee: Anfang April 2022 rief der Feministische Antikriegswiderstand für die Aktion „Mariupol 5000“ dazu auf, selbstgemachte Kreuze in Hinterhöfen und Hauseingängen aufzustellen, um an die etwa 5.000 zivilen Opfer in der besetzten ukrainischen Stadt zu erinnern. Katjas Kreuz wurde zum ersten der Aktion, hunderte weitere folgten.
Als wenig später in Odessa eine russische Bombe in ein Wohnhaus einschlug und acht Menschen tötete, darunter eine 27-jährige Frau und ihr drei Monate altes Baby, ging ein anderes Bild von Katja viral: ein Babybody auf einem kleinen Kleiderbügel, aufgehängt an einer Häuserwand in Moskau. In blutroten Buchstaben hatte sie darauf geschrieben: „Odessa, 28.04.2022“. Das Foto wurde hundertfach in sozialen Netzwerken geteilt, ein britisches Magazin hob es auf die Titelseite. „Das hat mir gezeigt: Auch so eine kleine, unbedeutende Geste, die vielleicht nur ein paar Menschen auf der Straße bemerken, kann dazu beitragen, die öffentliche Meinung zu formen und zu zeigen, dass nicht alle Menschen in Russland diesen Krieg mittragen“, sagt die Künstlerin.
Mehr als 600.000 Menschen verlassen das Land
Katja gehört zu den Hunderttausenden, die nicht mit Putin und dessen autoritärer, gewalttätiger Politik einverstanden sind und ihr Land wegen der immer stärkeren Unterdrückung verlassen haben. Viele gingen schon im Dezember 2021, als die Behörden vermehrt Organisationen, Journalistinnen und Aktivisten zu vermeintlichen „ausländischen Agenten“ erklärten und ihnen mit bürokratischen Schikanen bis hin zur Strafverfolgung drohten. Hunderte weitere flohen Hals über Kopf in den ersten Tagen nach dem Großangriff und Anfang März 2022, als der Staat eine strenge Militärzensur einführte und den letzten regimekritischen Medien die Lizenz entzog. Die Kämpfe in der Ukraine durften nicht als „Krieg“ bezeichnet werden, und die Medien sollten nur noch offizielle Mitteilungen des Verteidigungsministeriums verbreiten, das bis heute von einer „militärischen Spezialoperation“ spricht.
Als Wladimir Putin nach Erfolgen der ukrainischen Armee am 21. September 2022 eine Teilmobilmachung mit sofortiger Wirkung befahl, verließen auch Katja und ihr Mann mit dem zweijährigen Sohn das Land. „In der Eile vergaßen wir das Geld, das wir für die Flucht zurückgelegt hatten“, erinnert sie sich, „aber wir kehrten nicht mehr um, aus Angst, es könnte zu spät sein“. Zahlreiche Menschen versuchten damals, Russland über das Baltikum, den Südkaukasus oder Zentralasien zu verlassen, um nicht an die Front zu müssen; an manchem Grenzübergang stauten sich die Autos. „Jedes Mal, wenn der Schlagbaum vor uns runterging, dachten wir, es ist für immer“, erzählt Katja. Sie schaffte es und kam mit ihrer Familie über Skandinavien nach Deutschland.
Fast 650.000 Menschen, hat das exilrussische Onlinemedium The Bell recherchiert, haben Russland 2022 und 2023 verlassen – vor allem gut ausgebildete Männer und Frauen zwischen 20 und 40 Jahren. Verlässliche Zahlen für 2024 stehen noch aus. Die meisten leben jetzt in Nachbarstaaten wie Armenien, Kasachstan und Georgien, andere gingen nach Israel und in die USA. Etwa 36.000 Russinnen und Russen kamen nach Deutschland – mehr als in jedes andere Land der Europäischen Union. Viele reisten zunächst mit einem touristischen Visum ein und konnten dann, so sie eine Arbeit fanden, eine Aufenthaltserlaubnis beantragen. Einen Asylantrag stellten die wenigsten – zu groß sind die bürokratischen Hürden, zu gering die Aussichten auf Erfolg.
Einige wenige erhalten „humanitäre Visa“
Mitte 2022 schuf die Bundesregierung für Menschen aus Russland die Möglichkeit, mit einem „humanitären Visum“ nach Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes nach Deutschland zu kommen – allerdings nur für diejenigen, die „in besonders herausragender und langjähriger Weise in der Menschenrechts- beziehungsweise Oppositionsarbeit aktiv waren“ und dadurch „einer massiven Gefährdung ihrer körperlichen Unversehrtheit“ ausgesetzt sind. Etwas mehr als 2.000 Menschen wurden bisher auf diese Weise aufgenommen – viel zu wenige, kritisieren Menschenrechtsgruppen.
Die Lokalpolitikerin Olga Galkina aus St. Petersburg war im September 2022 eine der ersten, die über dieses Programm Schutz in Deutschland fanden. Wenige Tage nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine waren maskierte, bewaffnete Sicherheitsleute in ihre Wohnung eingedrungen und hatten sämtliche Zimmer durchsucht – im Beisein ihrer Kinder, die damals sechs und neun Jahre alt waren. Gegen Galkina wurde ein Strafverfahren eröffnet: Sie stifte andere zum Terrorismus an, so der Vorwurf.
„Ich war zerrissen zwischen meinen Pflichten als Politikerin und als Mutter“, erzählt sie. „Als Politikerin ist mein Platz in Russland. Zeit meines Lebens habe ich dafür gekämpft, dass die Menschen mitbestimmen, dass wir gemeinsam die Zukunft unserer Stadt gestalten. Und wir haben das geschafft, in St. Petersburg gab es eine sehr lebendige und aktive Zivilgesellschaft. Was soll ich im Exil?“ Sie habe das Land wegen ihrer Kinder verlassen, „damit sie nicht noch mehr verstört werden“.
Gespräche mit Putin-Fans in der Nachbarschaft
Eine Wohnung gefunden hat ihre Familie nun ausgerechnet in Berlin-Marzahn – einem Stadtbezirk mit einem hohen Anteil russischstämmiger Menschen, von denen viele die Politik Wladimir Putins gutheißen. „Anfangs begegnen mir diese Menschen oft ablehnend“, berichtet Galkina. „Aber ich erzähle ihnen meine Geschichte – und es kann jeder verstehen, wie schlimm es ist, wenn deine Wohnung von Bewaffneten durchsucht wird, während die Kinder danebenstehen. Dann frage ich sie: ‚Sehe ich aus wie eine Terroristin? Das ist es, was Putin behauptet.‘ Die meisten werden dann nachdenklich – und das ist unsere wichtigste Aufgabe: der russischen Desinformation etwas entgegenzusetzen.“ Die 43-Jährige sieht es als Übung in Demokratie, mit ihren Nachbarinnen zu reden. „Wenn wir zurück in Russland sind, werden wir sehr viele Menschen von freiheitlichen Werten überzeugen müssen“, sagt sie.
Olga Galkina war vor ihrer Flucht nie in Deutschland. Sie hilft sich mit dem Gedanken, auf einer Dienstreise zu sein – wenn auch einer sehr langen. „Ich will die Zeit so gut nutzen, wie es geht, und von den Institutionen hier lernen, wie Demokratie praktisch funktioniert“, sagt sie. Zurzeit leitet die ehemalige Abgeordnete des St. Petersburger Stadtparlaments in Berlin den Reforum Space, eine Anlaufstelle für Russinnen und Russen im Exil. Sie finden dort Unterstützung beim Kampf mit den bürokratischen Hürden des deutschen Aufenthaltsrechts, in Steuer- und Rechtsfragen oder in psychischen Krisensituationen. Journalistinnen können im Keller ein Tonstudio nutzen, Aktivisten treffen sich im Reforum Space für Workshops oder um Briefe an politische Gefangene zu schreiben.
„Wir dürfen uns nicht spalten lassen“
Daneben versucht Galkina, die politische Arbeit in ihrer Heimat weiterzuführen. Im Herbst 2023 hat sie die Bewegung „Europäisches Petersburg“ mitgegründet, die den europäischen Ursprung der Stadt betont und sich zum Ziel gesetzt hat, die ersten demokratischen Wahlen dort zu gewinnen – in wie naher oder ferner Zukunft auch immer. Mitglieder sind unter anderem die 76-jährige Natalija Jewdokimowa, Exekutivsekretärin des Petersburger Menschenrechtsrats, der seine Arbeit bis heute fortführt, sowie die international bekannte, 83 Jahre alte Ljudmilla Wassiljewa, die als kleines Kind die Leningrader Blockade miterlebte und Russlands Krieg gegen die Ukraine allen Verboten zum Trotz immer noch unerschrocken beim Namen nennt. Im Sommer 2024 versuchte sie – vergeblich –, bei den Gouverneurswahlen als Kandidatin anzutreten.
Menschen wie diese will Galkina von Deutschland aus unterstützen. „Wir alle haben ein Ziel: ein freies und demokratisches Russland, ein Russland ohne Putin. Die Debatten über die Uneinigkeit der Opposition nützen nur dem herrschenden Regime“, sagt sie. „Wir dürfen uns nicht spalten lassen, sondern jeder muss dort, wo er ist, tun was möglich ist. In Russland engagieren sich viele Menschen weiter im Untergrund – wir hier im Ausland können internationale Aufmerksamkeit für ihre Situation schaffen. Wir können die Stimme derer sein, die im Land geblieben sind.“
Viele äußern sich nur noch anonym
Wenn Alla, eine Aktivistin aus Jekaterinburg, so etwas hört, runzelt sie die Stirn. Sie setzt sich in ihrer Heimat für die Rechte von Frauen und LGBT+-Personen ein. „Ich finde es problematisch, dass momentan vor allem die Russinnen und Russen zu Wort kommen, die nicht mehr im Land leben“, sagt sie. „Sie sollten nicht für uns sprechen, sondern ihre Möglichkeiten und Kontakte nutzen, um internationale Journalistinnen, Politiker und Entscheiderinnen mit uns in Kontakt zu bringen.“ Die 40-Jährige seufzt, denn sie ist sich der Logik des Mediensystems und der Aufmerksamkeitsökonomie bewusst: Viele Aktivistinnen und Aktivisten in Russland äußern sich aus Sicherheitsgründen nur noch anonym – und das funktioniert schlecht in einer Informationswelt, die auf Emotionen, Gesichter und persönliche Geschichten setzt.
Dabei wäre es so wichtig, Menschen wie Alla zuzuhören. Gerade Frauen stehen in Russland seit dem Großangriff auf die Ukraine enorm unter Druck. Sie sind nicht nur einem brutalen Staatsapparat ausgeliefert, sondern auch der allgegenwärtigen und durch den Krieg weiter zunehmenden Gewalt in den Familien. „Er schlägt dich, also liebt er dich“, lautet ein verbreitetes russisches Sprichwort. Seit 2017 ist häusliche Gewalt in Russland nicht mehr strafbar und wird nur noch mit einem minimalen Bußgeld geahndet – wenn überhaupt. Polizei und Gerichte schützen meist eher die Täter als die betroffenen Frauen. Und die Männer, die jetzt von der Front zurückkehren, tragen die Gewalt, die sie dort erleben, zurück in die Familien. Mehr als zweitausend Frauen wurden dem russischen Projekt Algoritm Sveta zufolge in den ersten zwei Jahren nach dem Großangriff auf die Ukraine von ihren Männern ermordet.
Extra-Geld für junge Mütter in Russland
Gleichzeitig setzt der Staat Frauen und alle, deren Lebensentwurf von traditioneller und vor allem kinderreicher Heterosexualität abweicht, mit Gesetzen und Verordnungen unter Druck. Ende November 2023 erklärte er eine fiktive „internationale LGBT-Bewegung“ für extremistisch und verbot jede neutrale oder wertschätzende Äußerung über dieses Thema. In mehreren Regionen führen Privatkliniken inzwischen keine Abtreibungen mehr durch. Und die in staatlichen Kliniken verpflichtenden „Beratungsgespräche“ werden immer aggressiver.
Seit Herbst 2023 können Frauen Medikamente zur Notfallverhütung („Pille danach“) nicht mehr anonym in der Apotheke kaufen. In Teilen Russlands erhalten sie hingegen erhebliche Sonderzahlungen, wenn sie in möglichst jungem Alter Kinder gebären. Im November 2024 verbot die Staatsduma per Gesetz sogenannte Childfree-Propaganda, also Äußerungen über die Vorteile eines Lebens ohne Kinder – wobei die orthodoxe Kirche davon ausgenommen ist. Für ein Leben im Kloster darf weiterhin geworben werden. Aktivistinnen reagieren auf diese Entwicklung mit Solidarität und Engagement. Es sind Initiativen entstanden, die Frauen helfen, Kliniken für eine mögliche Abtreibung zu finden und die Reisekosten aufzubringen. Ein „Fonds für Notfallverhütung“ verteilt Medikamente, für die engagierte Gynäkologinnen Rezepte ausstellen und die von Spenden bezahlt werden – viele von denen, die sich per Telegram an die Graswurzelinitiative wenden, sind jünger als 15 Jahre.
Russische Aktivistin: „Ladet uns weiter ein!“
Der Feministische Antikriegswiderstand, zu dem heute in Russland Aktivistinnen aus rund 80 Städten gehören, hat eine Petition für das Recht auf Abtreibung initiiert, die mehr als 55.000 Menschen unterzeichneten. „Wir leben, lieben und gebären Kinder nicht für eure demografischen Tabellen und politischen Ambitionen“, heißt es darin. „Ihr führt selbst Krieg – dann gebärt auch selbst.“ Eine landesweite Notfall-Hotline gegen häusliche Gewalt arbeitet weiter, auch wenn die Organisation dahinter seit 2020 als „ausländischer Agent“ gilt und ihre Gründerin inzwischen im Exil lebt.
„Aber ganz viele von uns sind noch hier“, sagt Alla aus Jekaterinburg, „wir machen weiter, wir sind aktiv. Wir arbeiten verdeckt, wir setzen unsere Namen nicht mehr unter die Aktionen und Projekte – das macht uns natürlich in gewisser Hinsicht unsichtbar.“ Ihre eindringliche Bitte: „Hört uns weiter zu, ladet uns weiter zu Workshops und Konferenzen ein, auch wenn das jetzt viel komplizierter geworden ist.“
Von Berlin aus gegen Putins Regime
In Deutschland versucht Natalia Ivanova, diejenigen zu vereinen und sichtbar zu machen, die sich für ein demokratisches Russland einsetzen. Im Frühjahr 2021 hat sie in Berlin die Initiative Demokrati-JA mitgegründet und seither rund 50 Kundgebungen, Protestaktionen und Demonstrationen organisiert. Die Leute von Demokrati-JA gehörten zu den ersten, die Ende Februar 2022 vor der russischen Botschaft gegen den Großangriff auf die Ukraine protestierten. Zwei Jahre später stellten sie dort Blumen und Kerzen auf, nachdem Alexej Nawalny in einer Strafkolonie getötet worden war. Am 17. März 2024 – dem Tag, an dem Wladimir Putin sich abermals als Präsident bestätigen ließ, ohne dem Volk wirklich eine Wahl zu lassen – versammelten sie sich um 12 Uhr mittags vor dem Wahllokal in Berlin, um zusammen mit anderen Oppositionellen weltweit zu zeigen, dass viele Menschen mit Putins Herrschaft nicht einverstanden sind.
Am 9. Mai 2024 – an diesem Tag wird das Ende des Zweiten Weltkriegs in Russland traditionell mit pompösen Militärparaden gefeiert – organsierte Demokrati-JA am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park eine Informations- und Gedenkveranstaltung, um dem staatlichen russischen Siegeskult etwas entgegenzusetzen. Das Programm erinnerte nicht nur an diejenigen, die vor 80 Jahren im Kampf gegen den deutschen Faschismus ihr Leben verloren haben. Es machte vor allem deutlich, wie die russische Staatspropaganda diese Geschichte heute missbraucht, um unter absurder Verdrehung der Tatsachen den brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine zu rechtfertigen.
Protest gegen die „falschen Pazifistinnen“
Die Unterstützung des überfallenen Landes ist Natalia Ivanova ein zentrales Anliegen. Was in Russland passiert, sei für sie derzeit nur von Bedeutung, sofern es zur militärischen Niederlage der Besatzerarmee oder zum Sturz des diktatorischen Regimes beitrage, sagt sie. „Wichtig ist jetzt zuallererst, dass der Krieg endet und die russischen Truppen abziehen.“ Demokrati-JA sammelt Spenden für tragbare Kraftwerke, die Schulen und Krankenhäusern über den Winter helfen sollen, nachdem russische Bomben die Energieinfrastruktur in der Ukraine weitgehend zerstört haben. Der Verein erweitert ausdrücklich die Forderungen von Julia Nawalnaja und anderen Oppositionellen, die im November 2024 zur Großdemonstration in Berlin aufriefen. Während jene forderten, Putin als Kriegsverbrecher zu verurteilen und politische Gefangene freizulassen, wandte Demokrati-JA sich an die politische Führung in Deutschland und fügte hinzu: Die Ukraine müsse unbedingt stärker militärisch unterstützt werden, und in der Kommunikation mit dem Kreml dürfe es kein Appeasement geben.
Immer wieder ruft der Verein zum Protest auf „gegen die falschen Pazifistinnen und Pazifisten in Deutschland, die für einen angeblichen Frieden die Ukraine zur Kapitulation auffordern, Russland aber komischerweise nicht dazu auffordern, seine Truppen abzuziehen und die zivile ukrainische Bevölkerung und Infrastruktur nicht zu bombardieren“. Nur ein paar Dutzend Menschen folgten am 3. Oktober 2024 diesem Aufruf und kamen zum Brandenburger Tor – während sich unweit davon rund zehntausend Menschen zu einer „Friedensdemo“ versammelten und einen Redner ausbuhten, der den Überfall Russlands als „Angriffskrieg“ bezeichnete.
„Im Vergleich dazu war unsere Demo natürlich mini“, erinnert sich Natalia Ivanova. Die 50-jährige Software-Entwicklerin sieht ernst aus, aber nicht resigniert. Woher nimmt sie die Kraft, so unermüdlich und unbeirrt weiterzumachen – angesichts der andauernden Kämpfe in der Ukraine, der weit verbreiteten Ermüdung in der exilrussischen Gemeinschaft und dem Gegenwind in Deutschland? „Nawalny hat gesagt, wir dürfen nicht aufgeben“, sagt sie ohne nachzudenken. Und fügt hinzu: „Ich kann es mir leisten. Ich habe Arbeit und keine finanziellen Sorgen, meine Kinder sind nicht mehr klein.“ Für diejenigen, die Russland erst nach dem Großangriff verlassen haben, sei die Situation ungleich schwieriger: Sie müssten an einem neuen Ort Fuß fassen, mit Papieren und Bürokratie kämpfen, Arbeit und Wohnung suchen, eine neue Sprache lernen – und gleichzeitig das Leid in der Ukraine und in der Heimat verarbeiten, dazu oft Risse in ihren Familien.
„Demokratie fällt nicht vom Himmel“
Natalia Ivanova redet nicht viel, sie macht einfach. Wie 2022, wenige Monate nach dem russischen Überfall: Ihr Orchester – sie spielt Geige in ihrer Freizeit – plante das jährliche Konzert, ausgewählt waren ausgerechnet Werke russischer Meister. Ivanova versuchte, daraus wenigstens ein Benefizkonzert für die Ukraine zu machen, stieß aber auf taube Ohren. Also stellte sie sich beim öffentlichen Vorkonzert kurzerhand selbst mit ihrem Geigenkasten auf und sammelte Geld für die Menschen im Krieg, mehrere hundert Euro kamen zusammen. Oder im Februar 2024 nach der Ermordung Nawalnys, als Demokrati-JA innerhalb weniger Tage eine Petition aufsetzte und forderte, die Straße vor dem russischen Konsulat in Nawalny-Straße umzubenennen. Fast 50.000 Menschen unterschrieben in kürzester Zeit. Zeitungen der Springer-Mediengruppe schalteten Anzeigen, die Millionen von Menschen erreichten. Aus der Berliner Politik kamen wortreiche Sympathiebekundungen, seither liegt das Vorhaben auf Eis.
Auf nahezu jeder Veranstaltung von Demokrati-JA bauen Natalia Ivanova und ihr kleines Team eine Ausstellung auf. „Putins Geiseln“ heißt sie und stellt beispielhaft politische Häftlinge vor. Die Tafeln zeigen Männer wie Frauen – genauso viele aus Russland wie aus der Ukraine. Da ist zum Beispiel die 53-jährige Sarema Musajewa aus dem tschetschenischen Grosny, verurteilt zu fünfeinhalb Jahren Haft, weil ihre Söhne Alleinherrscher Ramsan Kadyrow kritisierten. Oder Olga Smirnowa, 54, Architektin aus St. Petersburg, verurteilt zu sechs Jahren Gefängnis, weil sie den Krieg in der Ukraine ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nannte. Oder Galina Dowgopola, eine 68-jährige Rentnerin von der Krim, schon 2019 verurteilt zu zwölf Jahren Haft, weil sie die russische Besetzung der ukrainischen Halbinsel kritisiert hatte. „Demokratie fällt nicht vom Himmel“, sagt Natalia Ivanova, „sie muss erkämpft und beschützt werden. Sie lebt durch jede von uns, durch einfache Menschen und engagierte Bürgerinnen – nicht nur durch Berufspolitiker. Als Russin, die in Deutschland lebt, empfinde ich besonders schmerzhaft, wie die Konfrontation von Demokratie und Diktatur heute eskaliert.“
Natalia Ivanova und die Exil-Politikerin Olga Galkina, die Aktivistin Alla aus Jekaterinburg und die Künstlerin Katja aus Moskau: Sie alle engagieren sich gegen das Regime von Wladimir Putin, den Autokraten, der selbstherrlich über ihre Heimat herrscht, und gegen dessen kriegerische Politik. Sie kämpfen für Mitbestimmung und das Recht, ihre Meinung zu äußern. Dafür, dass Frauen selbst entscheiden dürfen, wen sie lieben und ob sie Kinder bekommen möchten. Dabei vereint sie ein Ziel, das so demokratisch wie feministisch ist: eine Gesellschaft, in der die Würde jeder einzelnen Person respektiert und geschützt wird und in der niemand ungefragt über andere bestimmt – schon gar nicht mit Gewalt.
Zitierweise: Ulrike Gruska, „Russische Frauen im Widerstand", in: Deutschland Archiv, 2.1.2025, www.bpb.de/558020. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Karl Schlögel, Gestrandet auf der Sandbank der Zeit: oder wie man lernt, sein Russlandbild neu zusammenzusetzen, voraussichtlich Deutschlandarchiv vom 6.1.2025.
Die Journalistin und Politologin Ulrike Gruska beobachtet Russland seit mehr als 20 Jahren und hat den autoritären Rückfall des Landes dokumentiert: als freie Korrespondentin für Tageszeitungen und Magazine und als langjährige Osteuropa-Referentin der Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen. Weitere Informationen unter www.ulrikegruska.de
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