Gestrandet auf der Sandbank der Zeit: oder wie man lernt, sein Russlandbild neu zusammenzusetzen
Karl Schlögel
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Im dritten Jahr der "Zeitenwende": Deutschlands unglücklich langsames Lernen aus Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Rehttps://redaktion.bpb.de/node/558018/edit#edit-group-inhaltde des Osteuropahistorikers Karl Schlögel aus Anlass der Verleihung des Gerda-Henkel-Preises am 25. November 2024 in Düsseldorf. Ein Denkanstoß.
Nichts scheint einfacher zu sein als in einer Zeit, die als Zeitenwende bezeichnet wird, das beim Namen zu nennen, was der Fall ist, zu beschreiben, was unter unseren Augen geschieht. Es gibt ein Davor und ein Danach. Es gibt den Augenblick, in dem es einem wie Schuppen von den Augen fällt, weil die Unterscheidung Täter und Opfer so klar und eindeutig ist wie die zwischen Solidarität und Verrat. Der Krieg als Prisma. Wie von einem Blitz ist die ganze Szenerie in grelles Licht getaucht. Wir wissen, woran wird sind. So sah es jedenfalls nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Frühjahr 2014 aus, oder für jene, die es erst später wahrgenommen haben, am 24. Februar 2022.
Aber die am meisten gebrauchten Vokabeln in diesen Augenblicken lauteten: das konnten wir uns nicht vorstellen, wir sind fassungslos, sprachlos. Nun sind aber zehn Jahre seit der Besetzung der Krim vergangen, wir befinden uns im dritten Jahr eines voll entfalteten Krieges Russlands gegen die Ukraine – wir haben genug gesehen und müssen uns nichts mehr nur vorstellen, wir hatten Zeit genug, um eine Sprache zu finden und zu beschreiben, was da passiert. Wir müssen keine Gräuel imaginieren, denn sie haben stattgefunden auf offener Strasse in Irpin und Butscha, wir müssen Putin nicht dämonisieren, denn er hat alles in den Schatten gestellt, was man nicht einmal einem Dämon zutraut. Das letzte Bild, das mir in den Sinn kommt, ist jenes von den Drohnen, mit denen Putins Soldaten Jagd machen auf die Einwohner in den Strassen von Cherson, Menschen-Safari nennen sie das. Steigerungen der Grausamkeit sind aber jederzeit denkbar. Wir können nicht glauben, was geschieht, wir trauen, wie man so sagt, unseren Augen nicht.
Das ist der Augenblick, in dem wir innehalten und uns fragen, ob uns nicht etwas entgangen ist, ob wir nicht in einer Welt gelebt haben, die sich gleichsam hinterrücks und ohne, dass wir es merkten, bis zur Kenntlichkeit verändert hat. Das muss sich besonders jemand fragen, der ein Leben lang sich in diesem Raum bewegt, diesen beschrieben und erforscht hat, und der für ein Werk anerkannt und ausgezeichnet worden ist, das nun, wie man meinen könnte, in Scherben liegt. Es könnte der Augenblick gekommen sein, in dem man Rückschau halten muss, der Augenblick einer Selbstprüfung, der Revision des Bildes, das man sich von der Welt gemacht hat, für die man zuständig war oder erklärt wurde. Das könnte, wie man so sagt, die Stunde der Wahrheit, das Eingeständnis einer Selbstillusion und eines pathetischen Mea culpa, mea culpa werden. Aber es geht nicht um eine Abrechnung, sondern um ein Stück Selbstaufklärung. Und das ist für mich als jemand, der das Glück hatte, teilzuhaben an einem unwahrscheinlichen Aufbruch in eine neue Zeit, die nun im Albtraum eines neuen Krieges geendet ist, nicht einfach.
Man wird nicht als Russland-Historiker geboren
Es wäre naheliegend, jedenfalls nicht abwegig, in einem Vortrag über Russlandbilder mit der Ahnengalerie zu beginnen, in der auch unsereins, ob man will oder nicht, steht oder sich einreiht. Wir bewegen uns ja nicht in einem luftleeren Raum, sondern fügen der Galerie, die über Generationen hinweg gewachsen ist, nur weitere, unsere Bilder hinzu. In diesem Depot der Russlandbilder finden sich grosse Namen und Themen, Berichte von Reisen und Tagebüchern, ethnographische Exkursionen, Landesbeschreibungen, die ganze Welt der Literatur, die unsere Vorstellung von der russischen Welt geformt hat, Klischees von „russischer Seele“ einbegriffen. Von Leibniz‘ Vorstellung von Russland als dem „weissen Blatt Papier“, auf das die neue Welt der Aufklärung eingezeichnet werden würde, bis Thomas Manns Faszination für den russischen Roman, von Sigismund von Herbersteins „Rerum Mocoviticarum Comentarii“ bis Walter Benjamins Moskauer Tagebuch, von Alexander von Humboldts Bericht über seine Zentralasienreise bis zu den heutigen Fernsehdokumentationen über die grossen Ströme.
Aber ausschlaggebend für ein lebenslanges Interesse am östlichen Europa und auch an der russischen Welt war für mich dann doch die eigene unmittelbare Erfahrung. Man wird nicht als Russland-Historiker oder Osteuropa-Experte geboren. Es müssen, jedenfalls wenn keine direkten Bezüge wie Herkunft und Familie gegeben sind, Dinge zusammenkommen, die einen auf diese Bahn geführt haben. In meinem Fall: Die auf dem elterlichen Hof einquartierten Flüchtlinge aus dem Osten; ein Benediktinerinternat in Bayern, in dem man Anfang der 1960er Jahre Russisch lernen konnte, was dort eher die Ausnahme war (der Lehrer, Displaced Person aus Ostpolen, der in die amerikanische Zone geflohen war), Mathematik- und Lateinlehrer, die von dem, was sie an der Ostfront gesehen hatten, schwiegen, wohl aber im Kriegsgefangenen-Russisch von ihrer Zeit in den Lagern erzählten, die sie ohne das Mitleid, das sie erfuhren, nicht überlebt hätten.
Ich habe noch Jewgeni Jewtuschenko, der in München sein Poem „Babij Jar“ vorgetragen hatte, im Ohr und ich erinnere mich, dass mein Brief an Nikita Chruschtschow mit einem dicken Bücherpaket aus Mos kau beantwortet worden ist; es folgte 1966 eine Klassenfahrt, die über Budapest, Lemberg, Kiew, Charkow nach Moskau führte, mit Begegnungen auf den Campingplätzen, auf denen Kriegsveteranen einen willkommen hießen, wo man auf den Straßen der Städte – der Krieg lag erst 20 Jahre zurück – noch Kriegsversehrten auf ihren hölzernen Wägelchen begegnete. Die Reise auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs, noch vor der Einleitung einer neuen Ostpolitik war eine grosse und prägende Erfahrung: dass es jenseits der westdeutschen Provinz noch eine andere Welt gab, die bei allen äußeren Hindernissen - bürokratische Schikanen, Visa, Valuta - aufregend war, Neuland, nicht Feindesland, Ort der Begegnung mit Menschen, nicht dem System. Interessanter vielleicht als Reisen nach Italien oder Frankreich, wie ich damals fand. Das galt erst recht für die frühe Reise nach Prag: die Entdeckung der unvergleichlichen Metropole in der Mitte Europas und das Erlebnis eines anderen „1968“.
Für 1968er Aktivisten wie mich war der real existierende Sozialismus der Sowjetunion, noch dazu in nächster Nähe verkörpert in der DDR, abschreckend, und es trieb einen eher die Frage um, wie es zur „Entartung der Revolution“ hatte kommen können. Mein Bezugspunkt waren die sowjetischen Dissidenten im Exil. Es ist für Außenstehende und von heute aus gesehen schwer nachvollziehbar, mit welcher Inbrunst und welchem wohl nur bei Sekten anzutreffenden Eifer Probleme des nach-revolutionären Russland durchbuchstabiert worden sind: Positionen und Namen von historischen Figuren, mit denen heute Studierende schon nichts mehr anfangen können. Es gab wohl kaum eine Zeit, in der es eine so intensive Beschäftigung mit Russland gegeben hatte, mit Raubdrucken, Ausstellungen zu Futurismus und Konstruktivismus, Peter Steins Schaubühnen-Inszenierung der „Sommergäste“. Im Studium durchlief man so ziemliche alle Schulen und theoretischen Modelle - Totalitarismus, Erziehungsdiktatur, Rückständigkeit, Modernisierung, bürokratische Entartung -, die allesamt bald von der geschichtlichen Bewegung eingeholt und überholt werden sollten.
Aber wer in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhundert zum Osteuropa- und Russlandhistoriker wurde, wurde – ganz unverdient – eines Vorteils, ja eines Privilegs teilhaftig, nämlich: der Abenteuer der Zeitgenossenschaft und der Öffnung eines Raumes, der bis dahin verschlossen war: der „Ostblock“. Jede Reise wurde zur Zeitreise. Man konnte, wenn man sich zur rechten Zeit am rechten Ort befand, zum Zeugen „historischer Augenblicke“ werden, aber inmitten der Schwindel erregenden Ereignisse - „Dunkel des gelebten Augenblicks“ nannte Ernst Bloch die Gegenwart - auch alle Orientierung verlieren:
Aufbruch und Zusehen bei der Verfertigung der Geschichte
Es war zwar auch in den kältesten Zeiten des Kalten Krieges möglich, sich auf der anderen Seite der Mauer umzusehen, aber was mit dem Ende der Teilung möglich wurde, war doch etwas ganz anderes. Sichtbar wurden Landschaften, die sich durch Krieg und Nachkriegsgrenzen fremd geworden waren und nun wieder aufeinander zu rückten. Orte, die keiner mehr nennt, so ein Buchtitel der Zeit, waren wieder aufgetaucht. Der ganze Horizont mitsamt den Grenzen verschob sich, nicht frei von neuen Gefahren, wie die bald sichtbar werdenden Ambitionen der wieder geborenen Nationalismen zeigen sollten.
Es bildeten sich neue Städteachsen, Zonen der Beschleunigung und Zonen, die abgehängt wurden. Der alte Stadt-Land- Gegensatz meldete sich zurück. Von der neuen Entgrenzung und Reisefreiheit profitierten nicht nur die Bewohner des ehemaligen Ostblocks. Der Raum wurde zum Schauplatz ungeheurer Bewegungen und Erschütterungen. „Geschichte fand statt“, buchstäblich und im übertragenen Sinn. Man konnte historische Schauplätze aufsuchen, die man bis dahin nur vom Hören-Sagen oder aus der Literatur kannte. Man bewegte sich auf Spuren, auf denen immer schon andere vor einem unterwegs gewesen waren – in den Netzwerken eines kosmopolitischen Mitteleuropa oder auf den Linien, auf denen die Deportationszüge unterwegs gewesen waren. Städte, die man bis dahin nur aus Memoiren der vor Hitler und Stalin Geflohenen oder aus Wehrmachtsberichten kannte, lagen nun offen da. Die Karten im Kopf wurden neu gezeichnet. Prag lag nicht im Osten, sondern westlich von Wien. Auf Strassen, die ins Aus geführt hatten, kam es nun zum Stau, und Brücken, die gesprengt worden waren, wurden wieder instand gesetzt.
Die Losung der Zeit hiess für mich: Hinaus in die Welt! Hinaus aus der Universität! Hinaus auf Humboldts Schiff! Die Exkursion mit Studierenden war so eben nicht nur jenes romantische Abenteuer am abendlichen Lagerfeuer, sondern das Erkunden einer bis dahin fremden Welt, das Abtasten von Schauplätzen, archäologische Grabung, Spurensicherung, Sammeln von unendlich viel Stoff für Analyse und Reflexion. Solche Reisen im Raum können natürlich auch schief gehen, aber wenn sie gelingen, gehören sie zu den beglückendsten, inspirierendsten Erlebnissen – nicht nur wissenschaftlich, intellektuell. Wer etwa das Studium der Geschichte der russischen Klöster und der Stalinschen Lager gemeinsam mit den Freunden von Memorial mit einer Reise am Weissmeer-Ostsee-Kanal entlang und auf der Klosterinsel der Solovki im Weissen Meer beschliesst, der wird dies für sein ganzes, nicht nur sein wissenschaftliches Leben, nicht vergessen.
Reisen im Raum sind auch Reisen in die Zeit. Ortsbeschreibungen können auch zu Zeitdiagnosen werden. Die Ortsbeschreibung hält fest, wie sich das Grau der Städte im ehemaligen Ostblocks auflöst. Die Basare sagen etwas über die Wiedergeburt von Markt und die Kundgebungen auf dem Marktplatz etwas über die Inbesitznahme des öffentlichen Raums, die Umbenennung von Strassen sagt etwas über das Tempo der Transformation, vielleicht aber auch über die Beharrungskraft der alten Zeit.
Die Demontage oder die Errichtung neuer Denkmäler sagt etwas über neues Geschichtsbewußtsein, vielleicht aber auch über neue Mythenbildung. An Mode oder dem Drang, die eigene Wohnung gänzlich neu einzurichten zu müssen, zeigt sich die Flucht aus der alten Zeit, vielleicht aber auch nur der Unterschied von gutem oder schlechtem Geschmack. Beobachtung und Beschreibung sind Schulung der Sinne, unerlässlich für jeden, der sich bemüht, in die Welt der Anderen oder in den Horizont von Generationen einzudringen, die uns unerreichbar fern gerückt sind.
Die Themenkreise und Knoten, die mich beschäftigt haben und die sich gleichsam in den Buchtiteln niedergeschlagen haben, sind nicht so sehr von Desideraten oder einer „Logik der Forschung“ bestimmt gewesen, sondern waren eher generiert aus dem Erfahrungs- und Erwartungshorizont (so Reinhardt Koselleck) der Generation, der ich angehörte: Der endlich möglich gewordenen Erkundung des mittleren und östlichen Europa; der Faszination für die Strahlkraft und die Tragödie der russischen revolutionären Intelligenz; der Frage, wie man sich die Selbstzerstörung Russlands im Stalinismus erklären kann oder die unbewältigte Geschichte der Vertreibungen im „Jahrhundert der Extreme“ – alles Themen, von denen man seinerzeit annahm, dass sie aufgearbeitet, bewältigt, erledigt sein würden. Wie wir heute wissen, ist dies nicht der Fall. Vieles, was damals als antiquarische Geschichte bearbeitet worden war, taucht nun wieder auf in einem erschreckenden Deja vu:
Die Generation, der ich angehöre, hatte das Glück, in ihrer Lebensspanne gleich mehrere Zeiten, genauer: Zeitbrüche zu durchleben: 1968, 1989/90, 9/11, manchmal sogar ganz nah am Geschehen: Fall der Mauer, Gorbatschows und Sacharows Auftritt im sowjetischen Volkskongress, August-Putsch 1991, Beschiessung des Weissen Hauses in Moskau 1993 mit dem in der Luft liegenden Bürgerkrieg. Es war die Erfahrung unterschiedlicher Zeiten, der verlangsamten, bleiernen Zeit der späten Sowjetunion und der sich überstürzenden, rasend beschleunigten Zeit der Perestrojka und der „Zeit der Wirren“ in den 1990er Jahren. Auf engstem Raum koexistierten unterschiedliche Zeiten und Zeitmasse, man fand sich jederzeit wieder in jener „Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit“, von der ansonsten nur die Philosophie handelt. Das Tempo der Warteschlange neben der neu eröffneten Fluglinie nach Dubai. Man genoss den historischen Augenblick, in dem an einem einzigen Tag geschieht, was sonst Monate, Jahre, Jahrzehnte braucht.
Überrascht, überrollt zu werden von den Ereignissen, hineingezogen zu werden in den Wirbel der Ereignisse, im selben Moment auf die Höhe des 21. Jahrhunderts katapultiert zu werden und zugleich in vormoderne Zeiten zurückzufallen, hat, so denke ich, Folgen auch für die Ausbildung des historischen Sinns. Solche Erfahrung macht einen empfänglich für die Heillosigkeit historischer Konstellationen, läßt einen herabsteigen vom Hochsitz der Strategen, die den Überblick auch dann noch bewahren, wenn sich die Welt im Tumult verliert. Die Sicht on the ground macht bescheiden, ja demütig, vielleicht sogar immun gegen Logik oder gar eine Teleologie der Geschichte.
Es kommt bei dieser Art von geschichtlicher Darstellung dann mehr auf das Zusammen- und Widerspiel der geschichtlichen Akteure und auf Situationen an, in denen Individuen und Zufälligkeiten eine entscheidende Rolle spielen, nicht auf angebliche Gesetzmäßigkeiten. Die detektivische Analyse kontingenter Situationen rückt damit, das ist mein ceterum censeo, ins Zentrum aller historischen Arbeit. So immunisiert gegen das Erwartbare und Vorhersehbare, müßte jemand wie ich eigentlich gewappnet gewesen sein für alle Fälle, auch jenen, der Russland unter Putin, Überfall auf die Ukraine und Entfesselung des Krieges in Europa heißt. Aber darauf gefaßt war ich nicht.
Gestrandet auf der Sandbank der Zeit, Sprachefinden
Der russische Überfall auf die Ukraine war der Schock. Es war der Augenblick, den ich mit dem Titel meinte: Gestrandet auf der Sandbank der Zeit – mit dieser Metapher ist der Augenblick bezeichnet, in dem das Schiff im Wechsel der Gezeiten auf Grund läuft, wo im Sturm die Orientierung verloren zu gehen droht und der Philosoph (Hans Blumenberg) den „Schiffbruch mit Zuschauer“ ausmacht. Zeit des Innehaltens, des Sich-neu-orientierens, des Wartens und des Hoffens auf die Flut, die doch kommen muss, einen wieder hinwegträgt über die Untiefe. Verstehen, dass man noch einmal ganz von vorne beginnen muss: In diesem Fall hiess das: endlich wahrzunehmen und anzuerkennen, dass es ein Land, einen Staat, eine Nation namens Ukraine gab, die in einem russozentrischen, ganz und gar auf die Hauptstadt der ehemaligen Sowjetunion fixierten Blick immer nur als Hinterland, Durchgangsland, Peripherie, Provinz wahrgenommen wurde, ohne eigene Geschichte, Kultur und Sprache.
Man traut es sich kaum auszusprechen: es bedurfte eines Krieges, um die Ukraine auf unsere mentale Landkarte zu bringen, aus dem Abseits ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Es bedurfte eines zweiten Schocks, der Invasion einer regulären Armee zu Land, zu Wasser und in der Luft, um dem letzten klar zu machen, dass der Ernstfall eingetreten war, ein Krieg, der für die friedensgewohnte und friedensverwöhnte, in dieser Hinsicht so erlebnisarme Generation, der ich angehöre, nur aus Fernsehnachrichten oder Filmen bekannt war. Die Konsequenz aus diesem Schock war: sich kundig machen, noch einmal auf die Schulbank zurück zu gehen, ja: und vor Ort sich umzusehen. Es sind nur 10 Stunden vom Berliner Hauptbahnhof bis Przemysl und Lemberg und dann weiter -nach Kyjiw, Donezk, Charkiw, Odessa, wo sich etwas anbahnte, was man bis dahin nur aus Geschichtsbüchern und Film-Dokumentationen kannte.
Sprachlosigkeit, hilfloser Anti-Putinismus
Doch wäre es verhängnisvoll, wenn im Zug der Veränderung der Blickrichtung neue tote Winkel und weisse Flecken entstehen würden, wenn aus dem Auge verloren würde, was erst recht der Aufklärung bedarf: was passiert in Russland selbst, was sind die Triebkräfte, die diesen mörderischen Krieg ausgelöst haben und bis heute in Gang halten? In einer Zeit, in der Russland zum Gegner, zum Feind geworden ist und ins Abseits der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu geraten droht, muss – so der Schluss – die Losung lauten: Jetzt erst recht! Nicht nur Ukraine-, sondern auch Russlandstudien auf der Höhe der Zeit!
Es gab nach 2014 nicht nur eine verzögerte Wahrnehmung des Ernstfalles, eine zögerliche Sanktionsbereitschaft – im Unterschied zur überwältigenden, spontanen Hilfsbereitschaft der Bevölkerung -, sondern auch eine Ohnmacht der Sprache, eine eigentümliche Begriffslosigkeit. Wieder einmal schienen jene recht zu haben, die sich hinter Fjodor Tjutschews berühmt-berüchtigtem Diktum verschanzten: Russland sei mit dem Verstand nicht zu begreifen, an Russland könne man nur glauben. Anders als viele der angeblichen Russlandversteher, die sich so schwer tun, ihre Turgenjew-Lektüre mit der Wirklichkeit von heute in Einklang zu bringen und dazu neigen, Diplomatie mit der Psychotherapie verschreckter Kinder zu verwechseln, fehlt es tatsächlich an Russland Verstehenden, von den wenigen Fachleuten natürlich abgesehen.
Symptom einer gewissen Unsicherheit gegenüber dem Phänomen des Putinschen Russland ist schon die Unsicherheit, wie es bezeichnet werden soll:
Handelt es sich um ein Revival des russischen Zarenreichen und um den Aufstieg eines neuen Zaren?
Haben wir es nur mit einem autokratischen System und einem gewöhnlichen Polizeistaat zu tun?
Handelt es sich schlicht um die revisionistischen und revanchistischen Regungen eines vom Verlust des Imperiums gedemütigten und traumatisierten Landes?
Was spricht dagegen, Putins Russland als faschistisch zu bezeichnen?
Trägt der Titel des Mafiastaates und der Kleptokratie wirklich? Wäre es nicht an der Zeit, die Begriffe der Totalitarismus-Analyse zu reaktivieren und von Formen des Neo-Totalitarismus zu sprechen?
Ist es nicht auffällig, dass so wenig von den Langzeitwirkungen des Stalinismus und seinen Verheerungen die Rede ist?
Sind diese Begriffe überhaupt angemessen oder nicht eher Hilfsbegriffe, die sich an uns historisch bekannten Herrschaftsformen orientieren und uns sogar in die Falle der Analogie tappen lassen?
Tatsächlich erfüllt einen die Beobachtung des heutigen Russland mit dem Gefühl, einer Ahnung, dass die von uns gebrauchten Begriffe und Kategorien viele Aspekte beschreiben, aber letztlich dem Phänomen nicht gewachsen sind, trotz der umfangreichen Literatur – von Systemanalysen bis zu anekdotenreichen Putiniana. In ihnen ist indes nicht aufgehoben, was mir an Putins Russland ins Auge fällt – dass hier Phänomene zusammenkommen, die in dieser Zusammensetzung historisch neu sind, und dass es daher notwendig wäre, die Neuheit des Putinschen Regimes, an der man sich analytisch abarbeiten muss, anzuerkennen. Was meine ich damit?
Ich bin zunächst einmal für phänomenologische Studien, Formanalysen, die den verschiedensten Aspekten des heutigen Russland Rechnung tragen. Da sind die Bilder der völkermörderischen Gewalt, aber auch des ganzen lächerlich-bizarren Grössenwahns des Putin-Regimes. Da gibt es das weitaus größte Land auf dem Globus, das sich eingekreist und bedroht fühlt. Das Land scheint kein wichtigeres Problem zu haben als sich mit Gayropa zu beschäftigen.
In den allabendlichen Talkshows wird ernsthaft über die Zweckmäßigkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen debattiert – nur um das richtige Ziel und die Treffsicherheit wird noch gestritten - soll es Posen sein oder Berlin. Ein Präsident begibt sich aufs Flugfeld von Scheremetjewo, um demonstrativ einen aus Berliner Haft heimgekehrten Auftragskiller mit einer Umarmung zu begrüssen. Aber er nimmt sich auch die Zeit, um sich vom italienischen Stararchitekten Renzo Piano eine von diesem glänzend restaurierte Industriearchitektur des 19.Jahrhunderts zeigen zu lassen.
Die Dreistigkeit der Lüge kennt schon längt keine Grenze mehr – was gestern angeblich noch Erfindung westlicher Medien war, wird einen Tag später bestätigt von Pressesprecher Dmitri Peskow, dem es jederzeit gelingt, schockierendste Verbrechen in harmlose Agenturmeldungen zu verwandeln. Man müßte herausfinden, wie es kommt, dass ein Mann wie Michail Piotrowski, immerhin der Chef der Eremitage, der – mit dem roten Schal als Markenzeichen – seit Perestrojka-Zeiten so erfolgreich zwischen Amsterdam, Barcelona und New York unterwegs gewesen ist, uns allen Ernstes mitteilt, dass der kraftlos-dekadente Westen durch einen neuen Skythensturm gerettet werden wird (der erste ereignete sich 1917).
Wie kommt es, dass ein Regime, das es bis heute nicht geschafft hat, seine Bevölkerung flächendeckend mit Gas- und Strom zu versorgen, es fertig bringt, den Rest der Welt in Angst und Schrecken zu versetzen, ist es nur der Besitz der Atombombe? Man könnte meinen, dass der Präsident, der die Gossensprache liebt und zugleich in Arme-Sünder-Manier in der Osternacht neben dem Patriarchen die Kerze hält, es mit der Inszenierung der Macht zu weit treibt, aber das Gegenteil ist der Fall. Er kann mit blossem Oberkörper hoch zu Pferde, den Duce zitierend den Macho geben und zugleich sich wochenlang feige vor Corona in seinem Bunker verstecken. Solche Bilder funktionieren offensichtlich.
Noch viel ratloser läßt uns die Frage zurück, warum das Volk nicht auf den Krieg reagiert, ob und wann endlich die Bilder von den Hunderttausenden der an der Front gefallenen Soldaten in den Köpfen der Russen ankommen, und warum der Krieg, wenn schon nicht begeistert begrüßt, so immerhin doch hingenommen, ja mitgetragen wird, also nicht nur Putins Krieg, sondern ein russischer Krieg ist.
Hier kommen offenbar Elemente zusammen, eine Ästhetik und Choreographie der Macht, die es geschichtlich in dieser Kombination noch nie zuvor gegeben hat: Ein Imperium, das anders als alle „klassischen“ kein Übersee-, sondern ein durch Selbst- und Binnenkolonisation entstandenes Kontinentalimperium ist. Niemals zuvor hat es eine solche Konzentration von Reichtum und Luxus gegeben, die aus einem geschichtlich beispiellosen Raub an Staats- und Volkseigentum hervorgegangen ist. Neu ist, dass die Führung eines Landes ganz offen erklärt, dass die „russische Welt“ keine Grenzen kenne. Putins Regime hat aus der Geschichte gelernt, denn es hält den gezielten Mord für effektiver als den willkürlich-wahllosen Massenmord der Stalinzeit.
Ein Totalitarismus neuen Typs braucht keine Fackelzüge, wie man sie aus alten Wochenschauen kennt, wohl aber die Hightech- Errungenschaften, die die Firmen im Silicon Valley entwickelt haben. Es steht eine Staatskirche bereit, die den Aufruf zum Heiligen Krieg zusammenbringt mit der spirituellen Aura des „heiligen Russland“. Zur neuen Kriegführung gehört auch Kultur als Waffe: mit Putins Dirigenten-Freund in den Ruinen von Baalbek, während Kampfflugzeuge das 4000 Jahre alte Aleppo in Schutt und Asche legen. Vorbei ist die Zeit der alt bekannten, nun schon betulich wirkenden sowjetischen Propaganda, die sich an die Unterscheidung von Schwarz und Weiss zu halten gelernt hatte, während Wladimir Solowjow und Margarita Simonjan in ihren Talkshows sich an die postmodern relativistische Devise halten: „alles ist gleich wahr, alles ist gleich falsch“, „Wir tun ja nur, was ihr im Westen schon lange tut“.
Man scheut sich in unseren aufgeklärten Zeiten vom „absolut Bösen“ zu sprechen. Anders als in den 1930er Jahren, in denen um eine „Theorie des Faschismus“ gerungen wurde, steht eine Diskussion zur theoretischen Bewältigung des Putinismus aus. Das ist besonders auffällig in Deutschland, das gefordert ist, seiner „Vergangenheitsbewältigung“ eine Bewältigung der Gegenwart folgen zu lassen. Dies umso mehr als sich die Spuren des heutigen russischen Krieges mit denen des deutschen Krieges auf ukrainischem Territorium immer wieder überkreuzen: man muss nur an die Ortsnamen denken, die in der allabendlichen Berichterstattung immer wieder auftauchen - Kramatorsk, Mariupol, der gesprengte Staudamm -, an die Photographien der Luftwaffe von einst und die Satellitenaufnahmen von Charkiw heute oder an die russischen Raketen, die über der Gedenkstätte des deutschen Massakers von Babyn Jar niedergegangen sind.
Es wundert einen, dass die klassischen Arbeiten zu Faschismus und Totalitarismus – Ernst Fraenkels „Doppelstaat“, Franz Neumanns „Behemoth“, die „Dialektik der Aufklärung“ Horkheimers und Adornos, Hannah Arendts Totalitarismus-Buch - nicht unter den heutigen Bedingungen neu gelesen werden. Niemand kann vorhersehen, was geschehen wird – nur Propheten, die für Utopien oder Kassandra, die für die Apokalypse zuständig ist. Es ist nicht klar, wie ein Russland nach dem Abschied vom Imperiums aussehen wird und wie es den Weg zur Bildung einer modernen Nation beschreitet. Wir wissen es nicht, umso mehr kommt es darauf an, hinzuhören, was in diesem riesigen Land jetzt vor sich geht.
Wer in Putins Russland die Dinge beim Namen nennt, riskiert seine Freiheit, ja sein Leben – wie dies die Verhaftungen, Willkürurteile, Schauprozesse, die Tausend politische Gefangene, gezielten Tötungen in den letzten Jahren, vor allem aber der völkermörderische Krieg gegen die Ukraine gezeigt haben. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem, was ich hier behelfsweise als Putinismus bezeichnet habe, kommt ohne das Wissen, ohne die Erfahrung, ohne den Mut all jener, die sich die Freiheit des Denkens nicht nehmen lassen – ob im Land oder im Exil – nicht aus. Es ist unsere Pflicht, ihnen beizustehen, nicht nur aus Gründen elementarer Solidarität, sondern weil es nicht nur um ihre Freiheit geht, sondern auch um unsere.
Diese Rede hielt Karl Schlögel am 25. November 2024 in Düsseldorf bei der Verleihung des Gerda Henkel Preis "für herausragende Forschungsergebnisse". Wir danken ihm und der Externer Link: Gerda Henkel Stiftung, dass wir seinen Vortrag übernehmen dürfen. Zitierweise: Karl Schlögel , "Gestrandet auf der Sandbank der Zeit: oder wie man lernt, sein Russlandbild neu zusammenzusetzen", in: Deutschland Archiv, 10.2.2025, www.bpb.de/558018, zeitgleich veröffentlicht in der FAZ. Alle Beiträge sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen AutorInnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar (hk).
Karl Schlögel, Prof. Dr. phil., geb. 1948; Osteuropahistoriker und Publizist. Studium der Philosophie, Soziologie, Osteuropäischen Geschichte und Slavistik an der Freien Universität Berlin; 1982/83 Forschungsstipendiat des DAAD in Moskau; Veröffentlichungen u. a.: Moskau lesen, Berlin 1984. Archäologie des Kommunismus oder Russland im 20. Jahrhundert. Ein Bild neu zusammensetzen, München 2014. Der renitente Held. Arbeiterproteste in der UdSSR 1953— 1983, Hamburg 1984. Mit Irina Scherbakowa: Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise, Hamburg 2015. Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen, München 2015, Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt, München 2017/2020, sowie zahlreiche weitere Publikationen und Aufsätze zur Geschichte der Sowjetunion und Einordnung Russlans in der Gegenwart.