Die Todesopfer des Grenzregimes der DDR
Überlegungen zu einer Gesamtbilanz
Gerhard Sälter
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35 Jahre, nachdem das Grenzregime der DDR im November 1989 sein Ende fand, liegt noch keine Gesamtbilanz zu den Todesopfern vor, die es gefordert hat. Warum?
Das liegt einerseits daran, dass die Forschungen zu den Todesopfern an verschiedenen Grenzabschnitte unterschiedliche Kriterien angelegt haben, um zu bestimmen, wer ein Opfer des DDR-Grenzregimes war. Dazu gab es hier im Deutschland Archiv und andernorts bereits eine intensive Diskussion. Andererseits scheint mir ein tiefer liegender Grund darin zu bestehen, dass die historische Forschung bis heute kaum ein Verständnis davon entwickelt hat, warum die SED dieses Grenzregime implementiert hat und wozu es ihr dienen sollte. Zu selbstverständlich ging man davon aus, dass es eine Antwort auf die wachsende Migrationsbewegung aus der DDR in Richtung Westen gewesen sein müsse, dabei eine politisch und medial konstruierte Gewissheit aus der Zeit des Kalten Krieges transportierend, die niemand so recht für Wert befand, einmal zu hinterfragen.
Im vorliegenden Beitrag werde ich versuchen, auch auf der Basis der Ergebnisse eines eintägigen Workshops, (siehe Titelfoto) den die Bundeszentrale für Politische Bildung (Externer Link: bpb) zusammen mit der Externer Link: Stiftung Berliner Mauer am 29. Mai 2024 durchgeführt hat, eine neue Kategorisierung der Opfer vorzuschlagen. Aufgrund der erwähnten Defizite im Kenntnisstand zum Grenzregime wird dies in drei Schritten erfolgen. Zunächst sollen die bisherigen Forschungen zu den Grenzopfern kurz dargestellt werden, darauf folgt ein Versuch, das Grenzregime der DDR in seiner grundlegenden Tendenz zu beschreiben, woraufhin der Beitrag sich einer neuen Kategorisierung der Todesopfer zu nähern versucht.
Forschungen zu den Todesopfern: Eine Synopsis
Es hat recht lange gedauert, bis erste Forschungen zu den Grenzopfern begonnen wurden. Bis dahin kursierten Listen der Berliner Staatsanwaltschaft und der polizeilichen Sonderbehörde für die DDR-Ermittlungen (ZERV) über ihre jeweiligen Kenntnisstände, die sich zwischen 264 bis 421 Todesopfer bewegten. Erst nach der Jahrhundertwende wurden an der Gedenkstätte Berliner Mauer und am Zentrum für Zeithistorische Forschungen konkrete Überlegungen zu einem Forschungsprojekt angestellt. Erste Überlegungen zu einer Kriterienbildung, wer als Opfer des Grenzregimes zu verstehen sei, wurden 2006 publiziert. Eine durch diese Offenlegung ermöglichte öffentliche Diskussion über die Kriterien blieb allerdings aus. Die frühen rechtswissenschaftlichen Studien konnten nur wenig zur Klärung der Kriterien beisteuern, weil sie einerseits rechtsdogmatisch argumentierten und sich andererseits – naturgemäß – auf die strafrechtlich relevanten Todesfälle beschränkten.
Das erste Projekt wurde gemeinsam von der Gedenkstätte Berliner Mauer und dem Externer Link: ZZF Potsdam durchgeführt. Es lehnte sich sehr eng an die bereits formulierten Kriterien an. Eine Studie, die auf die Grenzen des heutigen Sachsen zur Bundesrepublik fokussierte, übernahm die Definition des Mauertoten-Projekts ausdrücklich. Auch eine an der Universität Hannover erarbeitete Vorstudie zur innerdeutschen Grenze lehnte sich an die Kategorienbildung des ersten Projekts an. Als 2010 das Projekt zu den Todesopfern in Berlin vor 1961 begann, hatte es – abgesehen vom Haus am Checkpoint Charlie – keine kritischen Stimmen dazu gegeben. Deshalb übernahm auch das Projekt zu Berlin 1948 bis 1961 die bisher verwendeten Kriterien weitgehend und passte sie nur leicht an die Bedingungen des etwas anders gelagerten Grenzregimes an. So etwa setzt die Zählung der Opfer in diesem Projekt schon 1948 mit der Blockade Berlins ein, also bevor DDR überhaupt gegründet worden und die SED dort an die Macht gekommen war – eine Setzung, die sicher diskussionswürdig ist.
Mit den Forschungen zu den Opfern an der innerdeutschen Grenze wurde der Externer Link: SED-Forschungsverbund an der FU Berlin beauftragt. Dieses Projekt setzte andere Akzente und formulierte Kriterien, die den bisherigen Kategorien weitere hinzufügten. Die Verantwortlichen vertraten im Gegensatz zu den anderen Projekten etwa die Auffassung, dass ein Teil der Suizide von Grenzpolizisten und Grenzsoldaten direkt auf das Grenzregime als Motiv beziehungsweise als Ursache zurückgeführt werden könne. Außerdem nahmen sie Personen auf, die nach einer Verhaftung an der Grenze von Gerichten der DDR oder der Sowjetunion zu einer Todesstrafe verurteilt worden waren. Diese waren in den anderen Projekten, deren Untersuchungen auf den Grenzraum als Handlungsort in einem engen Sinn abgestellt waren, eher als Justizopfer gesehen und nicht mit in ihre Darstellungen aufgenommen worden. Es gab weitere Unterschiede in der Frage, wer als Todesopfer verstanden werden solle und wer nicht, darüber wurde im Deutschland Archiv schon ausführlich berichtet.
Die Ausweitung der Opferkategorien führte zu Kritik an diesem Projekt. Dazu kamen Vorwürfe, Opfer aufgenommen zu haben, die gar nichts mit dem Grenzregime zu tun gehabt hätten – so ein SS-Mann, der mit seinen während des Zweiten Weltkrieges begangenen Gewalttaten geprahlt hatte und deswegen festgenommen worden war. Die verschiedenen Sichtweisen prallten in einer von den meisten Autoren engagiert geführten Debatte aufeinander. In deren Zentrum standen die Unterschiede in den Kategorien der erfassten Todesopfer, die eine Gesamtbilanz der Opfer des DDR-Grenzregimes zu verunmöglichen schien. Eine erste Expertenrunde im Jahr 2023, in der mehrere Projektleiter diese Diskrepanzen in der bpb miteinander diskutierten, blieb zunächst ohne Ergebnis.
Die Forschungen sind indessen mit diesen Projekten nicht an ein Ende gekommen. An der Universität Greifswald ging eine Forschergruppe um Prof. Dr. Hubertus Buchstein und Dr. Jenny Linek den bei der Flucht ertrunkenen Flüchtlinge in der Ostsee nach. Die Arbeiten sind abgeschlossen, die Publikation dazu befindet sich in Vorbereitung. Aufgrund der Konzentration auf Todesfälle, die einen Fluchtzusammenhang aufwiesen, scheinen die Ergebnisse dieser Forschergruppe sich in die bisher erzielten Ergebnisse problemlos einzufügen. Außerdem haben die Historiker vom SED-Forschungsverbund 2024 einen weiteren Band vorgelegt, in dem sie die Grenzregime anderer Staaten in Osteuropa skizzieren und die dort bei der Flucht in den Westen getöteten oder verunglückten Menschen aus der DDR beschreiben. Dies stellt eine sinnvolle Ergänzung zu den Forschungen zum DDR-Grenzregime dar, allerdings sind diese Todesfälle meines Erachtens nicht ohne weiteres den Opfern hinzuzurechnen, die direkt durch das von der SED errichtete Grenzregime verursacht worden und von ihr zu verantworten sind.
Eine Chronologie des Grenzregime der DDR
Üblicherweise wird das von der SED an ihren Grenzen zum Westen errichtete Grenzregime als eine direkte Antwort auf die Massenmigration aus der DDR in die Bundesrepublik wahrgenommen. Das scheint mir eine Verkürzung zu sein, und das vermeintliche Motiv der SED, die Abwanderung zu stoppen, scheint mir bisher nicht durch eine Untersuchung zu Diskursen in den Parteigremien zu dieser Frage untermauert worden zu sein. Deshalb halte ich es in diesem Zusammenhang für sinnvoll, sich die Chronologie des Grenzregimes zu vergegenwärtigen.
Der erste Schritt von einem von den vier Siegermächten gestalteten Grenzregime hin zu einer besonderen Überwachung der Grenzen für das Territorium der SBZ/DDR geschah ganz dezidiert nicht im Zusammenhang mit dem Migrationsregime der SED, sondern in Vorbereitung auf die Blockade Berlins. Am 1. April 1948 ordnete die Sowjetische Militäradministration in Deutschland den Beginn von Kontrollen an. An 94 Kontrollpunkten rund um Berlin wurde seitdem der Verkehr zwischen der DDR und den beiden Stadthälften kontrolliert. An der innerdeutschen Grenze ist zeitgleich eine langsame Verdichtung von Stacheldrahtsperren und Wachtürmen zu verzeichnen, außerdem eine intensivere Überwachung des grenzüberschreitenden Verkehrs. Außerdem begannen SED-Funktionäre sog. Flurscheine einzuziehen, die Bauern bis dahin recht unbürokratisch erhielten, um Felder auf der jeweils anderen Seite der Grenze zu bestellen.
Die Maßnahmen in Berlin zielten nicht auf eine vollständige Abschottung West-Berlins ab, das war angesichts knapper Personalkapazitäten bei den eingesetzten Polizeikräften auch gar nicht möglich. In Berlin ist gegen Weihnachten 1948 zwar eine Verschärfung der Kontrollen durch die SBZ-Polizei zu verzeichnen, aber wir haben auch für die folgenden Monate zahlreiche Berichte über Hamsterfahrten von West-Berlinern ins Umland, die waren also noch möglich. An der innerdeutschen Grenze gab es zu dieser Zeit nur etwa 14.000 Grenzpolizisten, was im Dreischichtbetrieb etwa drei bis vier Polizisten auf einen Grenzkilometer ergibt. Damit war eine vollständige Kontrolle der Grenzübertritte überhaupt nicht zu leisten.
1952 wurde die innerdeutsche Grenze auf sowjetischen Wunsch hin befestigt, ähnliches geschah zugleich in anderen Ostblockstaaten, die eine gemeinsame Grenze mit einem westlichen Staat oder Jugoslawien besaßen. Wiederum war die Abriegelung der DDR lange nicht so effizient wie beabsichtigt, denn Ende 1952 war nur etwa die Hälfte der Grenze mit Stacheldraht versehen. In Berlin waren mit Ende der Blockade die Kontrollen in der Innenstadt beendet worden, die an den Grenzen Berlins – und zwar beider Stadthälften – zum Umland waren jedoch beibehalten worden. Auch an der Außengrenze Berlins entstanden 1952 erste Stacheldrahtverhaue und andere Sperren.
Mit dem zögerlichen Ausbau der Grenze ging die Schaffung eines Grenzgebiets einher, das einen Landstreifen von fünf Kilometern Breite entlang der innerdeutschen Grenze umfasste und für das ein besonderes Kontrollregime entwickelt wurde: Zahlreiche Alltagshandlungen wie etwa Besuche wurden ebenso genehmigungspflichtig wie die Wohnsitznahme. Nicht vom Staat kontrollierte Einrichtungen wie Wirtshäuser mussten schließen, auch Gottesdienste wurden genehmigungspflichtig. Damit einher ging die Aussiedlung von etwa 8.400 Menschen, die als unzuverlässig galten. Volkspolizei und Grenzpolizei errichteten im Zusammenhang mit den zahlreichen Genehmigungspflichten eine engmaschige Überwachung.
Nach Stalins Tod und dem Juni-Aufstand 1953 in der DDR verlor das Grenzregime zeitweilig seine Priorität für die SED-Führung. Der Grenzausbau in Berlin und an der innerdeutschen Grenze wurde vernachlässigt, und die Grenzsperren verrotteten langsam. Wie sehr sich die Situation gewandelt hat, ist aus den seit Mitte der fünfziger Jahre in großer Menge an DDR-Bürger vergebenen Reiseerlaubnissen ersichtlich: 1957 etwa durften knapp drei Millionen Menschen in die Bundesrepublik reisen. Die Überwachung der Bevölkerung im Grenzgebiet an der innerdeutschen Grenze wurde jedoch beibehalten und schuf zusammen mit der Gefahr der Ausweisung einen Konformitätsdruck, der deutlich über dem ohnehin hohen Niveau in der DDR lag. Gegen Ende der fünfziger Jahre richtete die SED-Führung erneut größere Aufmerksamkeit auf das Grenzregime. Die Bewilligungen für Privatreisen in den Westen wurden wieder deutlich zurückgefahren.
Außerdem begann sich das Ministerium für Staatssicherheit für den Ausbauzustand der Grenzanlagen zu interessieren und Berichte über die Tätigkeit der Grenzpolizei zu verfassen. Auch die Überwachung der Zufahrtswege ins Grenzgebiet wurde intensiviert; auf den Zugstrecken nach Berlin fuhren in den nächsten Jahren sogenannte Zugbegleitkommandos der Polizei mit, die Flüchtlinge entdecken sollten. In Berlin ist eine ähnliche Tendenz festzustellen. Dort waren die Kontrollen an der innerstädtischen Grenze etwa 1953 wieder aufgenommen worden, wobei theoretisch ein Doppelposten jeweils einen Straßenübergang überwachte. Bei geschätzt 500.000 Grenzübertritten pro Tag waren allerdings nur Stichprobenkontrollen möglich. Seit dem Chruschtschow-Ultimatum 1958 wurden die Kontrollen an den Berliner Außengrenzen und in der Innenstadt intensiviert, und an einigen Stellen entstanden wieder Hindernisse, um das Durchbrechen der Grenze mit Autos zu verhindern. Seit Anfang 1961 wurden die Zaunsperren an den Berliner Außengrenzen massiv verstärkt.
Mit dem Mauerbau erreichte das Grenzregime eine neue Qualität. In drei sich überlagernden Bauphasen ließ die SED die Grenzanlagen in Berlin ausbauen: ab 1961 mit einer provisorischen Mauer und zusätzlichen Sperren, ab 1963 mit einem einheitlich geplanten System von Grenzsperren, die Ende der siebziger Jahre ihre größte Dichte erreichten, und ab 1980 mit der neuen Grenzmauer, wobei einige Sperren entfernt wurden. An der innerdeutschen Grenze entstand seit 1961 ebenfalls ein in die Fläche greifendes System aus Sperren. Erneut wurden über 3.000 Menschen ausgesiedelt. Wiederum auf sowjetischen Wunsch wurde seit 1961 ein Gürtel aus Minenfeldern entlang der Grenze angelegt. Ab 1971 wurden auch Splitterminen verwendet, im Westen zumeist Selbstschussanlagen genannt. Mitte der achtziger Jahre ist wie in Berlin eine Demilitarisierung festzustellen: Minen und Selbstschussanlagen verschwanden zusammen mit weiteren besonders martialischen Sperren. Mit dem Ausbau seit 1961 war an den Grenzen der DDR zum Westen ein Sperrsystem entstanden, das für Flüchtlinge eine effiziente Sperre bildete und zugleich erhebliche Gefahren für Leib und Leben für sie begründete.
Mit dem Mauerbau erreichte das Grenzregime ganz neue Dimensionen. Zunächst verbesserten die beteiligten Behörden ihre Kooperation. Am Grenzregime wirkten nicht nur die Grenztruppen mit, die direkt an der Grenze eingesetzt waren. Einbezogen in die Überwachung des Grenzvorfeldes und letztlich der gesamten DDR waren die Volkspolizei, das MfS, zivile Behörden und einige ehrenamtliche Helfer. Seit den siebziger Jahren war es eine Maßgabe, dass Flüchtlinge nicht an der Grenze zu verhaften seien, sondern bei Verlassen ihrer Wohnung. Das gelang natürlich nicht, lässt aber den Umfang von Informationen erahnen, die über alle Bürger benötigt wurden, um eine solche Zielstellung umzusetzen. Das Grenzregime hat ganz wesentlich dazu beigetragen, die DDR zu dem Polizeistaat zu machen, der sie letztlich war. Schließlich begann in den sechziger Jahren eine intensive Kooperation mit anderen Ostblockstaaten, um die Flucht von DDR-Bürgern über Drittstaaten zu unterbinden.
Schon diese kurze chronologische Skizze verdeutlicht, dass der bisher angenommene enge Zusammenhang zwischen der Fluchtbewegung aus der DDR und dem von der SED an den Grenzen der DDR zum Westen eingeführten Grenzregime zu kurz greift. Das Grenzregime setzt ein mit der Blockade Berlins und durchlief bis 1949 seine erste Testphase. Nach einer Intensivierung 1952 verlor es Mitte der fünfziger Jahre gerade dann an Relevanz, als die Flüchtlingszahlen erheblich anstiegen. Nachdem mit dem Mauerbau und dem danach einsetzenden Grenzausbau an der innerdeutschen Grenze seit 1961 das Flüchtlingsproblem für die SED eigentlich hätte gelöst sein müssen, erhielt das Grenzregime demnach immer größere Aufmerksamkeit. Was die Dichte der Sperren angeht, erhielten die Grenzen der DDR Mitte der siebziger Jahre, als eine Fluchtbewegung kaum mehr bestand, ihren intensivsten Ausbauzustand.
Aufgrund dieser Diskrepanzen scheint es sinnvoll, den Motiven der SED für das Grenzregime weiter nachzugehen. Je länger ich mich mit diesem Grenzregime befasse, desto stärker wachsen meine Zweifel an der Wahrnehmung, es habe vorrangig der Fluchtabwehr gedient. Damit möchte ich nicht in Zweifel ziehen, dass die befestigten Grenzen der DDR spätestens ab 1961 in ihrer Funktionalität darauf gerichtet waren, Flüchtlingen den Weg nach Westen möglichst effizient zu versperren. Wenn man jedoch, um nur einige Punkte zu nennen, in Rechnung stellt,
dass der Ausbau der innerdeutschen Grenze seit 1952 auf sowjetischen Wunsch geschah und gar nicht von
dass die seit 1952 tatsächlich an der Grenze gebauten Zäune diese kaum zu einer wirksamen Sperre gegen Flüchtlinge gemacht hatte, das neue Grenzregime aber eine deutlich intensivere Überwachung der Grenzbevölkerung nach sich zog,
dass die Grenzkontrollen in den fünfziger Jahren in Berlin ebenfalls unter Einsatz der Schusswaffe durchgeführt wurden, obwohl gleichzeitig daneben hunderte von Flüchtlingen täglich die offene Grenze überquerten,
dass die SED 1956/57 Millionen DDR-Bürgern Reisen in den Westen gestattete, die natürlich auch zur Migration durch Wegbleiben genutzt wurden, ohne in dieser Zeit das Regime an der Grenze abzumildern,
und dass die SED den Mauerbau 1961 intern vor allem als Sieg über den Westen feierte und als Mittel der Machtkonsolidierung , und nicht als Ende der Abwanderung,
dann scheint mir das Motiv der Fluchtverhinderung für das Grenzregime nicht mehr so eindeutig gegeben zu sein. Demgegenüber habe ich den Eindruck, dass es der SED-Führung
angesichts des bundesdeutschen Anspruchs, auch die DDR-Bürger zu vertreten,
angesichts der alliierten Präsenz in der Viermächtestadt Berlin mitten in der DDR und der nicht von der DDR konzedierten Bewegungsfreiheit alliierten (also gegnerischen) Militärs auf den Transitrouten zwischen der Bundesrepublik und Berlin und
angesichts der bis in die siebziger Jahre fehlenden internationalen Anerkennung der DDR
mit ihrem Grenzregime vor allem darum ging, ihre Macht nach innen zu festigen und die Souveränität der DDR an ihren Grenzen nach außen sichtbar zu dokumentieren.
Ein solches Motiv lässt sich etwa dann erkennen, wenn der MfS-General Bruno Beater im Dezember 1961 erfolgreiche Fluchten als Unterstützung des Propagandafeldzugs des Westens wertete, mit dem der durch den Mauerbau eingeleitete Konsolidierungsprozess in der DDR untergraben werden solle. Eine ähnliche Logik sehe ich auch bei Erich Honecker, der 1974, als es die DDR endlich an der Seite der Bundesrepublik in die UNO geschafft hatte und sie damit die internationale Anerkennung erhielt, nach der die SED immer gestrebt hatte, auf einer Sitzung des Nationalen Verteidigungsrats ausführte, dass „jeder Grenzdurchbruch politischen Schaden für die DDR“ mit sich bringe. Dieser Ansatz, das Grenzregime mit einem Streben nach Ausweitung der Souveränität nach außen und innen zu motivieren, scheint mir auch die Unbedingtheit besser zu erklären, gegen unbewaffnete Flüchtlinge schwer bewaffnetes Militär einzusetzen, wo spätestens nach dem Mauerbau allein die Sperren an der Grenze ausgereicht hätten, um die Fluchtbewegung auf ein Minimum zu reduzieren.
Diese Interpretation scheint mir durch einen Hinweis gestützt, den Muriel Blaive und Thomas Lindenberger in die Diskussion eingeführt haben. Sie wiesen darauf hin, dass die kommunistischen Regime seit den dreißiger Jahren die Tendenz hatten, insbesondere in den Grenzregionen ihr Feindbilder zu schärfen, wo die Bevölkerung wegen ihrer räumlichen Nähe zum Klassenfeind auf der anderen Seite der Grenze ohnehin unter dem Generalverdacht des Verrats am Sozialismus stand. Dazu passt die große Aufmerksamkeit, welche die SED-Führung der Überwachung der Grenzbevölkerung in der DDR zuteilwerden ließ.
Folgt man dieser Argumentation, die ein Streben nach innerer und äußerer Souveränität als zentrales Motiv der SED für das Grenzregime annimmt, so bedeutet das, dass ein enger Konnex zwischen Flucht und Grenzregime auch für die Problematik der Todesopfer keinen Sinn ergibt. Es sind deshalb weniger die Motive der Ost-West-Migranten für die Kategorisierung als Todesopfer relevant als die Motive der SED für das Grenzregime im Zeitraum 1949 bis 1989.
Vorschlag für eine Definition von Opfergruppen
Aus den hier ausgebreiteten Überlegungen und aus der Diskussion auf dem Expertenworkshop im Mai 2024 ergibt sich eine veränderte Sicht auf die Todesopfer an den Grenzen der DDR. Auf diesem Workshop haben mehrere Teilnehmer vorgeschlagen, auf die endgültige Definition eines Kriterienkatalogs zu verzichten, die für alle Projekte gleichermaßen gelten solle und nach der man bestimmen könne, wer ein Opfer des Grenzregimes gewesen sei – und wer nicht. Dafür seien die Herangehensweisen an die Grenzproblematik einfach zu unterschiedlich gewesen und die Tatumstände an den verschiedenen Grenzen und zu verschiedenen Zeiten zu komplex. Die Unterschiede in der Kriterienbildung haben durchaus ihren Sinn, wenn man berücksichtigt, dass der Opferbegriff seit mehreren Jahrzehnten erheblich ausgeweitet und in vergleichbaren Zusammenhängen auch sehr unterschiedlich verstanden und angewendet wird.
Es besteht in der Öffentlichkeit eine Erwartung, dass in solchen Fragen Eindeutigkeit in der historischen Bewertung produziert werden müsse (und könne). Interpretationskonflikte und methodische Debatten werden gelegentlich als Konflikte um „wahr“ oder „falsch“ wahrgenommen. Gegenüber solchen Erwartungen kann es sinnvoll sein, die Komplexität des Bewertungsprozesses hervorzuheben und die darin enthaltenen oder in diesem Prozess produzierten Ambivalenzen zu verdeutlichen, um ein Verständnis für die Art der Bewertung zu schaffen. Wichtig ist dabei, dass die Bildung von Kriterien und deren konkrete Anwendung zur Einordnung von Fällen und zur Produktion von Opferzahlen gegenüber der Öffentlichkeit transparent und nachvollziehbar gemacht werden.
Insofern scheint eine Differenzierung der Opfergruppen sinnvoll, die verschiedene Ansätze zulässt, aber verdeutlicht, wie die Gruppierung zustande gekommen ist. Eine solche Differenzierung möchte ich im Folgenden vorschlagen. Es würden dabei drei sich ergänzende Gruppen gebildet, wobei die Zuordnung zu einer sich nicht wertend versteht, sondern nur begriffliche Klarheit zu schaffen versucht.
1. Opfer illegitimer Staatsgewalt
In einer ersten Gruppe würde ich Todesopfer zusammenfassen, deren Tod dem von der SED geformten und gelenkten Staat unmittelbar zuzurechnen sind, hier würden wir von Opfern illegitimer Staatsgewalt sprechen. Darunter sollte ein Gewalteinsatz staatlicher Akteure verstanden werden, der nach heutigem Verständnis nicht gerechtfertigt gewesen ist. Die handelnden Akteure müssen dem Staat unmittelbar zuzurechnen sein, etwa Soldaten oder Polizisten im Dienst, die entsprechend ihrem Auftrag gehandelt haben. Der Auftrag selbst ist im Zusammenhang des DDR-Grenzregimes als einer zu verstehen, der die elementaren Menschenrechte der getöteten Personen verletzt. Dadurch sind diese Opfer der Herrschaftsgewalt der SED, die ihren Tod verursacht hat, als Urheber unmittelbar zuzurechnen, und ihr Tod kann als Ergebnis unrechtmäßigen staatlichen Handelns verstanden werden. Hierzu zählen vor allem die Opfer von Schusswaffeneinsatz an der Grenze und die Opfer von Minen.
Eine solche Definition bringt Klarheit in zwei Beziehungen. Erstens besticht diese Kategorisierung meines Erachtens durch ihre Klarheit im strafrechtlichen Sinn. Es handelt sich um die Fälle, über welche die deutsche Justiz seit der Vereinigung 1990 geurteilt hat und die sie als durch staatliches Unrecht verursacht erkannt hat, auch in den Fällen, in denen die Gerichte die Täter nicht hat belangen können. Zweitens stellt eine solche Opferkategorie eine Vergleichbarkeit zu Todesopfern illegitimer Gewalt anderer Staaten her, bei denen üblicherweise vergleichbare Kriterien angewendet werden.
Einen Unterschied gibt es jedoch im Vergleich zu anderen Formen illegitimer staatlicher Gewalt. Andere Unrechtsregime haben Oppositionelle systematisch mit dem Tode bedroht und getötet. In Argentinien etwa wurden während der Diktatur verhaftete Kritiker aus Flugzeugen aus großer Höhe ins offene Meer gestürzt. Anderen Menschen drohte der Tod wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer politisch, ethnisch, religiös oder anders definierten Gruppe. Die systematische Ermordung von Juden – der Zivilisationsbruch des Holocaust – gehört in diesen Zusammenhang. Auch andere Staaten haben, etwa während des Kalten Krieges, mit System und Intention gemordet, etwa, als während der Massaker in Indonesien – mit westlicher Billigung – Mitte der sechziger Jahre mehrere hunderttausend Menschen getötet wurden.
In diesen Beispielen war die eingesetzte Gewalt intentional auf die Ermordung der davon betroffenen Menschen gerichtet. Das jedoch war an den Grenzen der DDR nicht der Fall. Das von der SED initiierte Grenzregime zielte auf die Verhinderung von nicht erlaubten Grenzübertritten, nicht aber auf die Tötung der Flüchtlinge. Der Einsatz von Minen und Schusswaffen kalkulierte allerdings das Risiko ein, dass Menschen zu Schaden oder gar zu Tode kamen. Ihr Tod wurde, um es in der Sprache der Strafgerichte zu formulieren, die seit 1990 die sog. Mauerschützen und ihre Befehlsgeber verurteilten, „billigend in Kauf genommen“. Die fehlende Intentionalität sollte jedoch bei der Bewertung eine Rolle spielen.
2. Durch das Grenzregime verursachte Todesopfer
In einer zweiten Gruppe würde ich Todesopfer zusammenfassen, die unmittelbar durch das Grenzregime verursacht wurden, die zu ihm in einer kausalen Beziehung stehen. Hierbei folge ich den Überlegungen von Aziz Epik auf dem Expertenworkshop im Mai. Er wies darauf hin, dass als Opfer staatlichen Handelns nicht nur diejenigen gelten können, deren Tod staatlichen Akteuren direkt zuzurechnen ist. Wenn ein Staat oder einem Staat zurechenbare Akteure Individual- oder Kollektivrechte systematisch verletzen, die nach nationalem oder internationalem Recht geschützt sind, dann sind die davon Betroffenen ebenfalls als Opfer zu begreifen. Dazu zählt die schwerwiegende Verletzung grundlegender Normen des Völkerrechts und der Menschenrechte. Das Grenzregime der DDR lässt sich in diesem Sinne durchaus verstehen als systematische Beeinträchtigung der Zivilbevölkerung unter Negierung ihrer grundlegenden Menschenrechte, etwa des Rechts auf Freizügigkeit.
Der Befestigung des Staatsgebiets an den Außengrenzen entsprach eine restriktive Kontrolle der Freizügigkeit der Bürger nicht nur im engeren Sinn. Das Konzept der Grenze imprägnierte die gesamte soziale Ordnung in der DDR. In Übertragung ihres Grenzkonzeptes beschränkte die SED die Autonomie der Bürger in der DDR, indem sie deren soziales Handeln einerseits auch räumlich begrenzte, andererseits klar definierte Räume schuf, in denen erwünschte kollektive Aktivitäten stattzufinden hatten.
Menschen in der DDR waren darüber hinaus direkt vom Grenzregime betroffen. Geschätzt 75.000 Menschen waren wegen eines Fluchtversuchs inhaftiert. Sie stellen in den siebziger und achtziger Jahren die Mehrheit derjenigen, die aus politischen Gründen inhaftiert wurden. Zudem ist die Unterbindung von grenzüberschreitenden sozialen Beziehungen zwischen Ost und West als Beschneidung von Grundrechten zu verstehen. Durch das engmaschige Kontrollregime im Grenzgebiet war die dort ansässige Bevölkerung dauerhaft erheblichen Restriktionen im Alltagsleben ausgesetzt; etwa 13.000 Menschen wurden zudem 1952 und 1961 zwangsweise umgesiedelt. Dazu kommen die Diskriminierung und teilweise Kriminalisierung von vermutlich 300.000 Menschen, die in den siebziger und achtziger Jahren einen Antrag auf Übersiedlung stellten. Schließlich stellt die Genehmigungspflicht für eine Übersiedlung in ein westliches Land, die in der Regel nicht zugestimmt wurde, eine Einschränkung des Rechts auf Freizügigkeit dar.
Folgt man dieser Beschreibung des Grenzregimes als eine systematische Beeinträchtigung von Menschenrechten, dann müssen auch jene Personen als dessen Opfer gelten, die als seine unmittelbare Folge zu Tode kamen, ohne dass direkt staatliche Gewalt eingesetzt wurde. Zu dieser Gruppe würde ich etwa Menschen zählen, die auf der Flucht, weil sie anders die DDR nicht verlassen konnten, tödlich verunglückten. Dazu würden auch Personen gehören, die an der Grenze verhaftet wurden und sich im Gewahrsam selbst das Leben nahmen.
3. Weitere Todesfälle im Zusammenhang mit dem Grenzregime
Über diese beiden Gruppen hinaus gab es viele Menschen, die im Zusammenhang mit dem Grenzregime zu Tode kamen, jedoch weder Opfer illegitimer Staatsgewalt wurden noch als direkte Opfer des Grenzregimes gewertet werden können. Dazu würde ich zum Beispiel Personen rechnen, die bewaffnet vom Westen her ins Grenzgebiet der DDR eindrangen und dann von Grenzsoldaten erschossen wurden. Sie sind zwar auch Opfer staatlicher Gewalt, aber in diesen Fällen wäre sie nicht als illegitim zu bewerten.
Auch gehören dazu Grenzsoldaten, die im Dienst getötet wurden. Oder auch Grenzpolizisten und Grenzsoldaten, die sich das Leben nahmen, weil sie mit den Zumutungen des Dienstes an der Grenze nicht zurechtkamen und eine Verweigerung oder den Weg in den Westen als Möglichkeit, sich dem Grenzdienst zu entziehen, aus verschiedenen Gründen scheuten. Das trifft auch auf Militärangehörige zu, die beim Reinigen ihrer Waffe unvorsichtig waren und dabei einen Kameraden versehentlich töteten.
All diese Fälle können und sollten im Zusammenhang mit dem Grenzregime erzählt werden, um seine Komplexität, die Vielfalt der möglichen Erfahrungen und die Veränderungen, denen es unterlag, verständlich zu machen. Die davon Betroffen sind, auch wenn sie ihren Dienst als Wehrdienstleistende häufig unfreiwillig und unwillig leisteten, jedoch den staatlichen Akteuren der DDR zuzurechnen und waren damit Teil des Grenzregimes. Ich würde sie deshalb nicht zu den Personen rechnen wollen, an die man an Gedenktagen erinnert oder die man öffentlich in Reden als Todesopfer des Grenzregimes würdigt.
Zitierweise: Gerhard Sälter, „Die Todesopfer des Grenzregimes der DDR - Überlegungen zu einer Gesamtbilanz". in: Deutschlandarchiv 05.1.2025, www.bpb.de/558017. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Der Historiker Dr. Gerhard Sälter ist langjähriger Leiter der Abteilung Forschung und Dokumentation in der Stiftung Berliner Mauer. Von 2012 bis 2015 war er Mitarbeiter der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendiensts (BND). Von ihm liegen zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. zur Geschichte der DDR und zur Berliner Mauer und zur Geschichte der Geheimdienste und des BND vor.
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