Die vergessenen Toten. Wie viele Menschen starben bei Fluchtversuchen aus der DDR? Eine Bilanz 35 Jahre nach der Wiedervereinigung Europas und dem Abbau des "Eisernen Vorhangs" – als schier unüberwindbare Grenzbefestigung zwischen Ost- und Westeuropa im Kalten Krieg.
Die Zahl der Menschen, die im Interner Link: Kalten Krieg am Eisernen Vorhang zwischen 1948 und 1989 ihr Leben verloren haben, ist auch mehr als 35 Jahre nach der Öffnung dieser von der Sowjetunion durch Mittel- und Osteuropa gezogenen Grenze nicht genau bekannt. In etlichen Staaten des früheren Sowjetblocks hat es länger als in Polen und Deutschland gedauert, bis die dortigen Archive für die wissenschaftliche Forschung zugänglich wurden. Inzwischen liegen mehrere länderspezifische Untersuchungen zu den tödlichen Grenzanlagen vor, die über vierzig Jahre den seit Jahrhunderten gewachsenen europäischen Kulturraum zerteilt hatten. Der durch Stacheldraht, Stromfallen, Minengürtel, Selbstschussanlagen, und bewaffnete Grenzsoldaten gesicherte Eiserne Vorhang diente nicht, wie von den kommunistischen Machthabern behauptet, dem Schutz vor westlichen Übergriffen, sondern der Fluchtverhinderung und Abschreckung der eigenen Bevölkerung. Mauer und Eiserner Vorhang waren ein Machtinstrument der SED, DDR-Bürgerinnen und Bürger einzuschüchtern, eine Flucht gar nicht erst zu versuchen.
Ungarn hatte schon 1948 begonnen, die Grenze abzuriegeln; die ČSR (ab 1960 ČSSR) richtete ab 1950 eine zwei Kilometer breite Sperrzone ein. Stolperdrähte, Wachhunde und – bis 1964 – ein unter 3.000 bis 6.000 Volt Spannung stehender Grenzzaun sollten jede Flucht vereiteln. Der Eiserne Vorhang erwies sich für seine Bewacher noch gefährlicher als für Flüchtlinge: An der Grenze der Tschechoslowakei zu Bayern und Österreich kamen nach Erkenntnissen der Forschungsgruppe um den Zeithistoriker Stefan Karner vom Grazer Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung 648 Grenzsoldaten ums Leben. Die Todesursachen waren Stromschläge an dem elektrischen Grenzzaun, Minenverletzungen, Schusswaffenunfälle und Suizide. Im gleichen Zeitabschnitt wurde diese Grenze für rund 390 Zivilisten zum tödlichen Verhängnis. Auch für die innerdeutschen Grenzen gilt, dass dort mehr DDR-Grenzbewacher (228) als Flüchtlinge (133) ums Leben kamen.
Für die deutschen Todesopfer liegen 35 Jahre nach der Maueröffnung wissenschaftliche Untersuchungen zu den Todesfällen an der Berliner Sektorengrenze, der innerdeutschen Grenze, den Westgrenzen der ehemaligen Ostblockstaaten sowie zu gescheiteren Fluchtversuchen über die Ostsee vor. Die meisten Todesfälle an den deutschen Grenzen des Eisernen Vorhangs ereigneten sich demnach 1962 mit insgesamt 68 Toten. In der Ostsee ertranken in diesem ersten Jahr nach dem Mauerbau 25 DDR-Flüchtlinge, an der Berliner Mauer verloren 23 Personen ihr Leben, darunter 15 Flüchtlinge und vier Grenzsoldaten. An der innerdeutschen Grenze wurden 20 Personen getötet, elf Flüchtlinge, sechs DDR-Grenzsoldaten und drei Bundesbürger.
In den letzten zehn Monaten der SED-Diktatur starben 25 DDR-Bürger bei Fluchtversuchen, davon sieben noch im Oktober 1989. Der letzte DDR-Flüchtling, Frank Müller (21), ertrank am 27. Oktober 1989 in der Oder auf dem Fluchtweg zur westdeutschen Botschaft in Warschau. Außerdem nahmen sich 1989 zwei DDR-Grenzsoldaten im dienstlichen Kontext das Leben. Nach einer gescheiterten Fahnenflucht erhängte sich Jan Straßburg (21) in einer Arrestzelle der Offiziershochschule Löbau. Der Grenzsoldat Frank Scheffel (21) berichtete während seines Urlaubs Ende Oktober 1989 mehrfach unter Tränen von seinen Erlebnissen an der ČSSR-Grenze und im Raum Dresden. Er kehrte am 3. November 1989 nicht wieder zu seiner Grenzkompanie zurück. Man barg seine Leiche am frühen Morgen des 3. November 1989 gegen 5 Uhr in der Nähe des Bahnhofs Lichtentanne aus dem Gleisbett. Er hatte sich vor einen Zug geworfen.
Am 18. September 1989 gegen 20 Uhr ertrank die Lagerfacharbeiterin Marion Slowik aus Berlin-Friedrichshain beim Versuch, die Donau an der Grenze zwischen der ČSSR und der Ungarischen Volksrepublik zu durchschwimmen. Die 34jährige wollte mit ihren beiden Söhnen über Ungarn und Österreich nach West-Berlin zu ihrem Verlobten gelangen. Eine legale Einreise aus der Tschechoslowakei nach Ungarn, das seine Grenze bereits geöffnet hatte, war für viele zur Flucht entschlossene DDR-Bürger zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich, da die SED-Führung die Abteilungen Inneres der Städte und Kreise angewiesen hatte, „zur vorbeugenden Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR“ keine Reisepapiere mehr nach Ungarn auszustellen. Am 18. September 1989 lagen nach einer Information des DDR-Innenministeriums 39.000 Reiseanträge in das „sozialistische Ausland“ vor, 86 Prozent davon nach Ungarn.
Torsten Slowik und sein Bruder Karsten mussten am Abend dieses 18. September 1989 in Komárno mitansehen, wie tschechoslowakische Grenzer ihre Mutter aus der Donau zogen. Die Brüder saßen nur wenige Meter entfernt weinend in einem Polizeiwagen. Beide Kinder waren im letzten Moment vor dem Ertrinken gerettet worden und standen unter Schock. „Wir haben gesehen, wie meine Mutter aus dem Wasser gezogen wurde“, erinnert sich Karsten Slowik, der den tschechoslowakischen Sicherheitskräften unterlassene Hilfeleistung vorwirft: „Es war ein großes Geschrei und Gebrülle draußen. Aber die Leute dort haben keinerlei Versuch unternommen, sie wiederzubeleben. Mein Bruder hat immer wieder gesagt: ‘Die machen gar nichts!’“ Der an dem Fluchtversuch beteiligte Ost-Berliner Kellner Volker Swade ertrank ebenfalls in der Donau. Als Marion Slowik sich mit ihren Kindern und Volker Swade auf den Fluchtweg begab, konnte sie nicht wissen, dass die „Genehmigung des Antrages auf ständige Ausreise“ für Marion Slowik und ihre Kinder Torsten (15) und Karsten (11) der Abteilung Inneres im Rat des Bezirks Berlin-Friedrichshain schon zwei Monate zuvor übermittelt worden war. Doch die DDR-Bürokratie war zu diesem Zeitpunkt mit über 76.000 unerledigten Ausreiseanträgen aussichtslos überfordert.
Verschwiegene Todesursachen
In die bürokratischen Verfahren nach Todesfällen von DDR-Bürgern bei oder nach Fluchtversuchen waren jeweils zahlreiche DDR-Staatsfunktionäre und Institutionen einbezogen. Die SED war auf allen Ebenen durch ihre Funktionsträger an der Verschleierung von tödlich gescheiterten Fluchtversuchen aktiv beteiligt und für Repressionsmaßnahmen gegen Verwandte und Freunde der Todesopfer mitverantwortlich. Die Verstrickung von oberen, mittleren und unteren Verwaltungseinrichtungen in die bürokratische Abwicklung der Tötungsdelikte an den innerdeutschen Abschnitten des Eisernen Vorhangs und den Westgrenzen der verbündeten Ostblockstaaten konnte nach dem Ende des sowjetischen Imperiums nach und nach durch juristische und historische Untersuchungen aufgeklärt werden.
Dies geschah in den ehemaligen Ostblockstaaten nach den revolutionären Umbrüchen von 1989/90 mit zeitlichen Verzögerungen und unterschiedlicher Intensität. Polen, die Tschechoslowakei und Deutschland nahmen dabei eine Pionierrolle ein. Zahlreiche Verantwortungsträger in staatlichen Institutionen der kommunistischen Diktaturen entgingen jedoch einer Strafverfolgung. Der polnische Historiker Karol Sauerland hat darauf hingewiesen, dass eine Strafverfolgung von Beteiligten an Verwaltungsverbrechen kaum möglich ist. Dies galt auch für Verwaltungsvorgänge, in deren Verlauf kommunistische Staats- und Parteifunktionäre gegen geltende Gesetze ihrer eigenen Länder verstoßen haben.
So ignorierten DDR-Funktionäre in den Verwaltungsvorgängen zu getöteten DDR-Flüchtlingen immer wieder geltendes Recht. Sämtliche Todesfälle von DDR-Bürgerinnen und Bürgern im Ausland hatten die DDR-Botschaften und Konsulate demnach unverzüglich an das DDR-Außenministerium (MfAA) zu melden und die vor Ort angefertigten Dokumente über die Verstorbenen nach Ost-Berlin zu übermitteln. Für die Verwaltungsverfahren bei Todesfällen von DDR-Bürgern im Ausland galten etliche amtliche Verfahrensregelungen. Das waren vor allem
die „Verordnung über das Meldewesen“ vom 15. Juli 1965,
eine „gemeinsame vertrauliche Anweisung zur Überführung von Leichen vom 20. Oktober 1971“ und präziser noch
die „Ordnung Nr. 110/76 des Ministers des Inneren und Chefs der Deutschen Volkspolizei über Verfahren zu Personenstandsangelegenheiten“.
Mit letzterer wurde auch das Verfahren zur Benachrichtigung der nächsten Angehörigen nach Todesfällen von DDR-Bürgern im Ausland geregelt. Die Hinterbliebenen sollten nach Eingang einer Todesmitteilung durch eine DDR-Auslandsvertretung an das DDR-Außenministerium „unmittelbar“ durch den Rat des Kreises über den Todesfall informiert werden. Den nächsten Angehörigen sollten durch einen Mitarbeiter des Kreisrates unter anderem Todestag und Todesursache, der Aufbewahrungsort der Leiche und der Verbleib des Nachlasses „in geeigneter Weise“ mitgeteilt werden. „Schriftliche oder telefonische Benachrichtigungen sind unzulässig.“ Die Hauptabteilung Konsularische Angelegenheiten des MfAA nahm in diesen Verwaltungsabläufen eine Schlüsselstellung ein, denn sie erledigte die weiteren bürokratischen Formalitäten zur Benachrichtigung der Angehörigen über die Abteilungen Inneres der Städte oder Kreise sowie zur Leichenüberführung und zur Eintragung des Sterbefalls bei dem für Todesfälle im Ausland zuständigen Ost-Berliner Standesamt I.
Über die erfolgte Benachrichtigung der nächsten Verwandten war der Hauptabteilung für Konsularische Beziehungen Bericht zu erstatten. Diese Berichte sollten auch Angaben darüber enthalten, ob die Angehörigen eine Leichenüberführung wünschen und gegebenenfalls finanzieren oder einer Bestattung im Ausland zustimmen. Außerdem seien die relevanten Angaben zum Todesfall „unverzüglich der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit zur Kenntnis zu geben“. Mit der MfS-Dienststelle und dem Leiter der Abteilung Kriminalpolizei beim Volkspolizeikreisamt sollte außerdem das weitere Verfahren abgestimmt werden. Bei Einwänden dieser Dienststellen durften verbindliche Auskünfte und die Bestätigung der Leichenüberführung nicht erfolgen, wenn eine „Überführung des Verstorbenen sowie dessen Bestattung den staatlichen und gesellschaftlichen Interessen der Deutschen Demokratischen Republik entgegenstehen“.
Die DDR-Bürokratie stufte Todesfälle nach gescheiterten Fluchtversuchen über Ostblockstaaten generell als Gefährdung von „staatlichen und gesellschaftlichen Interessen“ der DDR ein und verweigerte den Hinterbliebenen nicht nur Auskünfte über die Todesumstände, sondern häufig auch über den Ort der Beerdigung ihrer Angehörigen. Die für die Bearbeitung der Todesfälle von DDR-Bürgern im Ausland zuständige Hauptreferentin des DDR-Außenministeriums Ursula Gott verschwieg nach Rücksprache mit dem DDR-Staatssicherheitsdienst den Hinterbliebenen die Informationen von DDR-Botschaften zum tödlichen Fluchtverlauf ihrer Angehörigen.
Todesnachrichten, die aus dem Ausland bei Gott eintrafen, mussten regelmäßig im nachfolgenden Behördengang zur Verschleierung der Todesursachen entsprechend manipuliert werden. Frau Gott behielt beispielsweise aus der Prager DDR-Botschaft am 20. September 1977 das zweite Exemplar der Sterbeurkunde des am 21. August 1977 an der tschechoslowakischen Grenze erschossenen DDR-Flüchtlings Kurt Hoffmeister. Im Begleitschreiben der Botschaft heißt es: „Normalerweise wird das Exemplar den Angehörigen des Verstorbenen übermittelt, was wir in diesem Fall für nicht opportun halten.“ Denn als Todesursache war in dem Dokument eine „Schußverletzung des Brustkorbs unter Mitverletzung der rechten Lunge, Herzschock DN 861.1.3.“ angegeben. Gott wies eine Vertrauensperson im zuständigen Standesamt I Berlin an, eine Austauschurkunde anzufertigen, in der die Todesursache nicht mehr erwähnt wird. Das Standesamt I Berlin fertigte bis zum Ende des SED-Regimes in keinem einzigen Fall eine Sterbeurkunde mit der Angabe einer Todesursache von DDR-Flüchtlingen aus. Auch den Angehörigen von getöteten Flüchtlingen erteilte das Standesamt I keine Auskünfte, sondern verwies sie an die Innenverwaltungen ihrer Heimatorte oder die zuständigen Staatsanwaltschaften.
Der Hauptabteilungsleiter des DDR-Außenministeriums August Klobes stimmte in mehreren Fällen der Beisetzung von erschossenen DDR-Flüchtlingen in Bulgarien zu, obwohl von deren Angehörigen eine Leichenüberführung in die DDR erbeten worden war. Nach der Tötung der beiden achtzehnjährigen Lehrlinge Detlef Heiner und Andreas Stützer, erschossen am 18. März 1980 an der bulgarisch-griechischen Grenze, wies Klobes die DDR-Botschaft in Sofia nach Rücksprache mit dem MfS an, „keine weiteren Aktivitäten“ zur Beschaffung von Obduktionsunterlagen zu unternehmen. Der Leipziger Stasi-Chef Generalmajor Manfred Hummitzsch ordnete am 27. März 1980 an, nach dem Eintreffen der beiden Särge auf dem Flugplatz Berlin-Schönefeld seien „sämtliche persönliche Sachen und Dokumente der Verstorbenen sowie die von bulgarischer Seite im Zusammenhang mit dem Vorkommnis gefertigten Dokumentationen“ sicherzustellen.
Den Angehörigen seien zu einem späteren Zeitpunkt bei einer Aussprache in der Abteilung Inneres nur solche persönlichen Gegenstände ihrer Söhne zu übergeben, „die keinen Aufschluß auf die Schußverletzungen geben“. Bei einer geheimen Nachobduktion in Dresden hatte sich nach der Leichenüberführung nämlich herausgestellt, dass die beiden jungen Männer nicht, wie von bulgarischer Seite behauptet, auf der Flucht von hinten erschossen worden waren, sondern von vorne, als sie bereits die Hände erhoben hatten.
Obwohl das Personal des DDR-Außenministeriums nur aus überprüften, zuverlässigen Parteigängern des SED-Regimes bestand, wurde es von der Hauptabteilung II/14 des DDR-Staatssicherheitsdienst mit großem Aufwand überwacht. In einer Lageeinschätzung zu ihrem Sicherungsbereich konstatierte diese MfS-Abteilung im Oktober 1982 „die starke Durchsetzung“ des DDR-Außenministeriums mit Stasioffizieren im besonderen Einsatz (OibE) und inoffiziellen Stasi-Mitarbeitern. In der Hauptabteilung Konsularische Beziehungen des MfAA befanden sich 1982 unter 55 Mitarbeitern vier Stasispitzel. In den DDR-Botschaften Prag, Budapest und Sofia kamen je zwei OibE der Spionageabwehr zum Einsatz sowie neun Stasi-Spitzel in der Prager DDR-Botschaft, elf in der Botschaft Budapest und sechs in der Botschaft Sofia. Außerdem arbeiteten in diesen Botschaften verdeckt jeweils zwei OibE der MfS-Hauptverwaltung für Auslandsspionage.
Die örtlichen MfS-Dienststellen in den DDR-Bezirken kamen zur Ermittlung etwaiger Mitwisser von gescheiterten Fluchtversuchen unter den Familienangehörigen sowie zur Überwachung der Beisetzungen zum Einsatz. Sie hatten auch dafür zu sorgen, dass die Todesursache weder in Todesanzeigen noch in Predigten am Grab Erwähnung fand. In einer Verfahrensanleitung des DDR-Staatssicherheitsdienstes heißt es: „Getötete Personen sowie deren nächste Angehörige und weitere im Zusammenhang mit der Grenzprovokation stehende Personen“ seien zum „Vorgang Grenzprovokation“ in den Stasikarteien zu registrieren. Sie galten fortan als Sicherheitsrisiko.
Mitwisser: Volkspolizei und Staatsanwaltschaften
Als weitere bürokratische Instanz war die DDR-Generalstaatsanwaltschaft in das Verfahren zum Umgang mit getöteten DDR-Flüchtlingen eingebunden. Sie regelte den Rechtshilfeverkehr mit den Partnerinstanzen in den sozialistischen Staaten auf der Grundlage von zwischenstaatlichen Verträgen. Die Zuständigkeit für den Informationsaustausch lag bei der Abteilung Internationale Verbindungen der DDR-Generalstaatsanwaltschaft. Das DDR-Außenministerium informierte sie über Todesfälle von DDR-Flüchtlingen im sozialistischen Ausland, was eigene staatsanwaltliche Ermittlungsvorgänge auslöste. Die Staatsanwaltschaften in den DDR-Bezirken erhielten von der Generalstaatsanwaltschaft Anweisungen, wie mit Auskunftsersuchen von Angehörigen zu verfahren sei.
Weiterhin waren auch örtliche Volkspolizeidienststellen an den bürokratischen Verfahren zu gescheiterten Fluchtversuchen beteiligt. Sie führten eigene Ermittlungen zu Mitflüchtlingen in Familien und Freundeskreisen sowie in den Arbeitsstellen durch und speisten die Daten von getöteten Flüchtlingen in die Registratur der „Zentralstelle für kriminalistische Registrierung“ ein. Auch die für politische Delikte zuständige Abteilung K1 der Volkspolizei schaltete sich häufig in die Untersuchung über Mitwisser oder Unterstützer von Flüchtlingen ein.
Das DDR-Außenministerium informierte die Abteilungen Inneres der Stadt- und Kreisverwaltungen über Todesfälle von DDR-Flüchtlingen und erteilte ihnen Anweisungen über die Sprachregelungen gegenüber den Angehörigen. Selbst wenn den Funktionären der örtlichen Abteilungen Inneres interne Informationen über die gescheiterten Fluchtversuche und die Todesumstände der Flüchtlinge vorlagen, teilten sie diese den Hinterbliebenen meist nicht mit, sodass sich Angehörige über Monate um die Aufklärung der Todesumstände bemühen mussten. So geschehen im Fall der am 13. August 1975 an der bulgarisch-griechischen Grenze erschossenen Brigitte von Kistowski (26) und ihres Lebensgefährten, dem Elektroingenieur Klaus Prautzsch (29).
Das Paar starb im Kugelhagel bulgarischer Kalaschnikows, als es bereits griechisches Staatsgebiet erreicht hatte. In dem Ermittlungsbericht des bulgarischen Staatssicherheitsdienstes, „Betr. Liquidierte DDR-Bürger auf griechischem Territorium“, wird eine Entdeckung der von den eigenen Kräften begangenen Grenzverletzung befürchtet, da Patronenhülsen und die Schuhe von Brigitte von Kistowski auf griechischem Gebiet zurückgeblieben waren. Auf das Paar waren 140 Schüsse abgegeben worden. Das Obduktionsprotokoll der bulgarischen Militärärzte enthält die Angabe, dass Klaus Prautzsch von 37 und Brigitte von Kistowski von 25 Geschossen getroffen worden war. DDR-Konsul Kurt Spörl identifizierte anhand der Personalpapiere noch am selben Tag die Toten und stimmte ohne Benachrichtigung der Verwandten ihrer Beisetzung in Sofia zu. Die DDR-Botschaft übernahm die Kosten der Grablegung, die am Montag, dem 18. August 1975 um 12.00 Uhr auf dem Friedhof „Bakrena Fabrika” erfolgte.
Die beiden Mütter des getöteten Paares kämpften über Monate um die Leichenrückführung in die DDR. Am 28. August 1975 reisten sie selbst nach Sofia und suchten die dortige DDR-Botschaft auf. DDR-Konsul Spörl berichtete nach Berlin, die beiden Frauen seien in Trauerkleidung erschienen und hätten damit gedroht, „nicht eher die VRB zu verlassen, bis sie die Genehmigung zur ‚Herausgabe der Särge‘ der Verstorbenen erhalten hätten“. Die Mutter von Brigitte von Kistowski habe unter Verweis auf ihre SED-Mitgliedschaft betont, sie werde sich an die bulgarischen Stellen wenden, wenn sie keine Unterstützung durch die Botschaft der DDR erhalte. Nach langen Auseinandersetzungen mit dem DDR-Außenministerium und der Generalstaatsanwaltschaft – und nachdem sich auch die westdeutsche Botschaft in Sofia eingeschaltet hatte –, konnten sich die Angehörigen schließlich durchsetzen und eine Überführung der sterblichen Überreste des Paares erreichen. Die beiden Zinksärge trafen am 10. und 11. November 1975 per Luftfracht in Ost-Berlin ein. Die Angehörigen hatten dafür 5.050 DDR-Mark zu entrichten.
Auch Westdeutsche betroffen
Doch nicht nur DDR-Bürger verloren bei Fluchtversuchen über die Grenzen von „Bruderstaaten“ der DDR ihr Leben. Der Nürnberger Augenoptikermeister Rolf Kühnle verliebte sich im Mai 1970 während eines Urlaubs in Prag in Wera Sandner aus Cottbus. Das Paar traf sich danach immer wieder in Prag und verlobte sich dort am Jahreswechsel 1971/72. Am 14. August 1972 trafen sich Rolf Kühnle und Wera Sandner in Burgas an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Die 26-Jährige war von Berlin-Schönefeld aus dorthin geflogen. Sie meldete sich im Hotel mit einem gefälschten westdeutschen Pass an, den Rolf Kühnle mitgebracht hatte. Am 23. August 1972 verließ das Paar Burgas und fuhr mit Kühnles Škoda in das bulgarisch-jugoslawische Grenzgebiet, um dort in der Dunkelheit die bulgarische Grenze nach Jugoslawien zu überqueren. Als ein bulgarischer Grenzsoldat die Beiden entdeckte und sie ansprach, versteckten sie sich in einem Waldstück. Zwei Grenzer näherten sich und feuerten mit ihren Maschinenpistolen in das Unterholz. Bei der Autopsie der Leichen in der Gerichtsmedizin des Krankenhauses Isul in Sofia wurden an Rolf Kühnles Körper acht Einschüsse und bei Wera Sandner sechs Schussverletzungen festgestellt.
Rolf Kühnles Leichnam wurde nach Westdeutschland überführt, Wera Sandner in Bulgarien beigesetzt. Obwohl das DDR-Außenministerium eine deutsche Übersetzung der Todesurkunde von Wera Sandner erhielt, erhielten ihre Eltern auf Veranlassung der MfAA-Hauptreferentin Ursula Gott eine vom Standesamt I in Berlin angefertigte Sterbeurkunde, die keine Angaben über die Todesursache enthielt. Jahrelange Bemühungen der Eltern des Paares, eine Überführung der sterblichen Überreste von Wera Sandner in die Grabstätte von Rolf Kühnle nach Bad Königshofen zu erreichen, blockte das DDR-Außenministerium ab.
Auf den Grabstein von Rolf Kühnle war auf Veranlassung seiner Mutter Lisa bereits der Name von Wera Sandner eingemeißelt worden. Am 14. Juni 1980 wandte sich Lisa Kühnle aus der Krankenanstalt in Elztal-Dallau an den Ministerrat der DDR und erbat erneut die Leichenüberführung Wera Sandners in die Grabstätte ihres Sohnes: „Ich bete jeden Tag darum, dass es geschieht, und das ist vielleicht mein letzter Wunsch. Bitte, sehr geehrte Herren, betrachten Sie die Tat der Republik-Flucht nach 8 Jahren als gesühnt, die Beiden waren jung und verliebt und töricht. Es war ja nicht politisch. Bitte, einer armen, gottgläubigen Mutter zuliebe. Mit vorzüglicher Hochachtung! Lisa Kühnle“. MfAA-Hauptabteilungsleiter August Klobes heftete einen Notizzettel an Lisa Kühnles Bittbrief: „Gen. Gott, Bitte Vorgang! nicht antworten“.
Lange ungelöster Expertenstreit
Nach der Publikation unserer ersten Forschungsergebnisse über Todesfälle an der innerdeutschen Grenze kam es 2019 zu einer anhaltenden Debatte über die Frage, ob auch DDR-Bürger und Bürgerinnen, die in den frühen 1950er Jahren Lebensmittel und Waren aus dem Westen in die DDR geschmuggelt hatten und beim Passieren der DDR-WestGrenze erschossen worden waren, als Opfer des DDR-Grenzregimes gelten dürften.
Sogar die damalige Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, brachte sich in diese Auseinandersetzung ein und erklärte im April 2019, dass die Einbeziehung der an der innerdeutschen Grenze Getöteten vor 1961 "fragwürdig" sei, weil vor der endgültigen Abriegelung der Sperranlagen "auch Schmuggel oder blanker Hunger die Gründe sein konnten, die Zonen- und spätere DDR-Grenze zu überqueren“. Zahlenangaben wurden später korrigiert. Gestritten wurde auch über die Einbeziehung von DDR-Grenzern, die nach Konflikten oder Drangsalierungen in ihren Einheiten Suizid begingen, über die Selbsttötungen von festgenommenen Flüchtlingen in der Haft sowie über die außerhalb des Grenzgebietes von Flüchtlingen erschossenen Sicherheitskräfte.
Kontrovers blieb auch, wie Suizide nach gescheiterten Fluchtversuchen zu berücksichtigen wären. So tötete sich die Ärztin Gudrun Lehmann nach einem gescheiterten Fluchtversuch im August 1967 im bulgarischen Nessbar mit einer Überdosis Morphium. Ebenfalls nach einem gescheiterten Fluchtplan vergiftete sich im März 1977 die 22jährige Röntgenassistentin der Charité Sabine Schmidt, die erfolglos versucht hatte, zu ihrem kurz zuvor nach West-Berlin geflüchteten Verlobten zu gelangen. Da sie in ihrer Wohnung im Bezirk Prenzlauer Berg aus dem Leben schied, gilt sie nicht als Maueropfer. Das gleiche gilt für die Kranführerin Marlies Varschen und ihren Verlobten Dieter Krause. Das Paar nahm sich am 7. März 1977 in Ost-Berlin das Leben. Dieter Krause war 1972 nach West-Berlin geflüchtet. Er traf seine Verlobte regelmäßig in Polen, bis der DDR-Staatssicherheitsdienst das durch eine Reisesperre für Marlies Varschen verhinderte. Dieter Krause verließ am 26. Februar 1977 am Bahnhof Friedrichstraße den Transitzug nach Polen und verbrachte bis zum gemeinsamen Suizid noch neun Tage bei seiner Verlobten.
Die schwierige Ermittlung verlässlicher Zahlen
Die Bundeszentrale für politische Bildung ließ im Mai 2024 die strittigen Fragen der „Kategorisierung“ von Todesfällen an den DDR-Grenzen und dem gesamten Eisernen Vorhang durch zwei Expertenrunden erörtern, um, wie es der Präsident der Bundeszentrale Thomas Krüger ausdrückte, „in diesem zeitweise erbittert geführten Expertenstreit endlich Brücken zueinander zu bauen, und zwar auch im Interesse möglichst verlässlicher politisch-historischer Bildung“. Ob Krügers Vorschlag zum Tragen kommt, statt über eine absolute Zahl und unterschiedliche Kategorien zu streiten, ausdifferenzierte Zahlenangaben nach Fallgruppen zur Diskussion zu stellen und in der politischen Bildung, „kontroverse Themen auch kontrovers darzustellen“, bleibt abzuwarten.
Ausweislich der im November 2023 abgeschlossenen Untersuchungsergebnisse der Forschungsteams von Freier Universität Berlin und Universität Greifswald bleiben trotz langjähriger wissenschaftlicher Recherchen noch drei Todesfälle am Eisernen Vorhang und 104 Todesfälle in der Ostsee zweifelhaft.Durch die erwähnten Studien über Todesfälle an der innerdeutschen Grenze, an der Berliner Sektorengrenze/Mauer, in der Ostsee und bei Fluchtversuchen über Ostblockstaaten wurden bisher 915 Personen erfasst, die zwischen 1948 und 1989 am Eisernen Vorhang ihr Leben verloren haben. Dabei handelte es sich um:
Todesfälle bei Fluchtversuchen 425
Suizide vor Zwangsaussiedlungen aus dem Grenzgebiet 6
Todesfälle bei Kontrollen 97
Todesfälle vor bzw. nach Festnahmen im Grenzgebiet 36
Todesfälle ohne Fluchtabsicht 67
Todesfälle von DDR-Grenzsoldaten im Dienst 236
Todesfälle von westdeutschen Grenzschützern 6
Suizide von DDR-Grenzern in dienstlichem Kontext 42
Die Forschungsergebnisse zu den Todesfällen von DDR-Bürgern und Bürgerinnen an den Grenzen von Ostblockstaaten beruhen auf einer internationalen Kooperation des FU-Teams mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Bulgarien, Österreich, Rumänien, Serbien, Ungarn, Tschechien, der Slowakei und Polen. Erst durch die Archivrecherchen in den jeweiligen Ländern konnten die Schicksale von Opfern des Eisernen Vorhangs für eine länderübergreifende Darstellung rekonstruiert werden, dokumentiert sind sie weitgehend auf der Website der FU Berlin: Externer Link: www.eiserner-vorhang.de.
Die Abschottung des Ostblocks und die gewaltsame Teilung Europas endete 1989 vor allem durch die Freiheitsbewegungen in den kommunistisch beherrschten Ländern und deren Re-Demokratisierung. Darauf folgte der Zerfall des sowjetischen Imperiums. Die danach durch mehrere ehemalige Sowjetstaaten errungene Unabhängigkeit versucht Russland seit einigen Jahren mit kriegerischen Übergriffen rückgängig zu machen. In Anbetracht dieses erneuten Versuchs, Europa gewaltsam zu spalten, bleibt die Erinnerung an das durch den Eisernen Vorhangs angerichtete menschliche Leid eine aktuelle Aufgabe der politischen Bildung.
Zitierweise: Jochen Staadt, „Menschenfalle Eiserner Vorhang", in: Deutschland Archiv vom 04.01.2025. Link: www.bpb.de/557983. Alle Beiträge im Deutschlandarchiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar und dienen als Mosaikstein zur Erschließung von Zeitgeschichte. (hk)
Dr. Jochen Staadt war bis 2024 langjähriger Projektleiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin und Redaktionsmitglied der Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat. 1977 Dissertation über Romane der DDR an der FU Berlin. Diverse Veröffentlichungen über die westdeutsche Studentenbewegung von 1968, über die DDR und über die deutsch-deutschen Beziehungen.
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