Rohheit, Hass und Gewalt im öffentlichen Diskurs. Ein beunruhigter Rückblick. Und ein Wunsch für das Wahljahr 2025.
Welch bitteres Jahresende. Der 20. Dezember 2024 hat auf erschreckende Weise vor Augen geführt, welche Macht von Ideologen verbreitete Feindbilder haben können und wie schnell rezipierbare Vorurteile Hass wachsen lassen. Da war zunächst die schockierende Amokfahrt eines 50-jährigen im SUV über einen Weihnachsmarkt in Magdeburg, bei dem fünf Menschen starben und über 200 brutal verletzt worden sind. Dieser Anschlag ist durch nichts zu rechtfertigen. Aber das Echo darauf ist zu hinterfragen.
Der Täter, 2006 aus Saudi-Arabien nach Deutschland gekommen, war offenkundig verblendet, "Rechtsextremist, Linksextremist und Islamist" zugleich, wie der Radikalisierungsforscher Peter R. Neumann tags darauf im Spiegel analysierte, , an anderer Stelle wurde er auch als "islamophob", also islamfeindlich beschrieben, er habe "eine Islamisierung Deutschlands befürchtet" und im Netz entsprechende Positionen der AfD geteilt. Aber noch bevor solche Recherchen veröffentlicht wurden, boten User und Userinnen diverser Social Media-Kanäle schlagartig ihre Schlüsse feil, auffallend schnell aus dem Umfeld der Rechtsaußenpartei AfD, "nur die" könne jetzt "unser Land retten" war mehrfach zu lesen, und zwar vor "islamistische Gefährdern und Massenmördern, die hier ihr Unwesen treiben".
Auch in Facebook-Foren wie "DDR Erinnerung & Nostalgie" wurde Unrühmliches notiert. Dort postete am 20.12.24 ein User über Magdeburg die Grafik eines am Boden zerstörten, traurigen Weihmachtsmannes mit der Unterzeile: "Sie hassen uns, leben von uns, wohnen bei uns, fressen sich durch bei uns, verachten uns". Mehr Verallgemeinerung geht kaum. Die über 600 Kommentare darunter waren teils entsetzt, aber nicht wenige, die spontan mit einstimmten: "Wird Zeit für Remigration!!!", "Auffällige und Straffällige sofort mit der ganzen Sippe des Landes verweisen!!!!!!" und "Fragt nicht, was ich noch auf der Zunge habe".
Wie soll solches hasserfülltes Klima erst im Bundestagswahlkampf ab Anfang 2025 werden? Zwar einigten sich schon am 22. Dezember die großen Parteien auf ein Fairness-Abkommen, das alle Parteien dazu verpflichtet, "insbesondere auf persönliche Herabwürdigungen zu verzichten, sich extremistischen Äußerungen entgegenzustellen und keine bewusst falschen Tatsachenbehauptungen zu verbreiten", AfD und BSW fehlen jedoch aus unterschiedlichen Gründen im Kreise der Mitunterzeichner..
Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen beschäftigen sich schon länger mit den Ursachen des Anwachsens solcher Frustrationen und Hassreaktionen voller verbaler und tätlicher Gewalt, vermehrt seit dem deutsch-deutschen Vereinigungsprozess und der Transformation. Nachfolgend eine Betrachtung von Prof. Wolfgang Benz, der Historiker leitete lange Zeit das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, das spezialisiert ist auf Vorurteilsforschung (hk):
Zunächst ein Rückblick. Wie es zur Stunde antidemokratischer Demagogen kam
Zu den prägenden Sozialisationsunterschieden in Ost und West gehört die Erfahrung unbegrenzter Staatsmacht durch die DDR-Bürger und Bürgerinnen, die als Misstrauen gegenüber der Obrigkeit und deren gleichgeschaltete Verlautbarungen in den Medien internalisiert wurde. Im Westen war das Staats- und Gesellschaftsmodell Demokratie zwar von den Besatzungsmächten (wie der Sozialismus im Osten) oktroyiert, zeigte aber sofort überaus positive Wirkung im „Wirtschaftswunder“, für das Ludwig Erhard mit der Devise „Wohlstand für alle“ zum Synonym wurde. Gleichzeitig war die bürgerliche Freiheit Staatsziel mit der Wirkung, dass der Bürger der Bundesrepublik als Individuum einer begrenzten Staatsmacht mit Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen begegnete.
Zum Missverständnis von DDR-Bürgern und Bürgerinnen, mit dem Untergang des sozialistischen Systems sei das Wirtschaftswunder wiederholbar und auf individuellen Wohlstand bestehe ein Anspruch, kam die Arroganz westlicher Eliten, deren Vertreter und Vertreterinnen die Zügel ergriffen, um das östliche Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftssystem in großer Hast zu demontieren. Zu den Sünden der Wendezeit gehörte, dass das Führungspersonal der östlichen Industrie entmachtet wurde, anstatt es am Umbau zu beteiligen. Als Kardinalfehler erwies sich weithin die Rekrutierung des Personals, das in den „neuen Bundesländern“ die Schaltstellen übernahm.
Schmerzhaft nachhaltig war die Verachtung aller Errungenschaften der DDR, die im Kahlschlag der Wendezeit zum Ausdruck kam. Aus der Ernüchterung wurde Skepsis gegenüber den neuen Institutionen. Antidemokratische Demagogen nutzen die Gelegenheit und pflegen die Emotionen derer, die sich durch westliche Dominanz gedemütigt fühlen, die ihre individuelle Lebensleistung nicht gewürdigt sehen, deren materielle Erwartungen nicht schnell genug oder gar nicht erfüllt wurden.
Frustrationen, Emotionen, Verrohungen – nicht nur auf den Osten beschränkt
Die Verrohung der Gesellschaft, die in Gewaltdelikten, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit Ausdruck findet, ist jedoch keineswegs auf das Territorium der ehemaligen DDR beschränkt. Die historischen Sozialisationsbedingungen und die daraus resultierende Gefühlswelt von Bürgern und Bürgerinnen in Ost und West sind unterschiedlich, die Ausprägung als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, als Gewaltbereitschaft und gesellschaftliche Rohheit sind aber nicht erst seit dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen 1992 existent.
Die Morde in Solingen 1993 und ähnliche Vorfälle in den Jahren danach waren im bundesdeutschen Alltag nicht selten, wie 2008 der folgende in Magdeburg, dieses Beispiel ist 2024 immer noch aktuell, auch wenn der schreckliche Anschlag in Magdeburg vom 20.12.2024 vom Ausmaß deutlich schwerer wiegt. Aber im Alltagsrassismus verletzen auch Attacken der Fremdenfeindschaft Menschen: Eine aus Bosnien-Herzegowina stammende Frau und ihr minderjähriger Sohn wurden im Juli 2008 in einer Straßenbahn wegen ihres äußeren Erscheinungsbildes Opfer einer rassistischen Gewalttat. Sie waren von einem weiblichen Fahrgast lautstark mit den Worten attackiert worden „Es gibt hier keinen Platz für Kanaken, ich als deutsche Frau kann mich hier hinsetzen!“. Kurz darauf versetzte die Angreiferin der Frau mit ihrer rechten Faust einen Schlag gegen den Oberkörper und trat ihr gegen die Beine. Den minderjährigen Sohn stieß sie so, dass am Folgetag größere Hämatome im Bereich der Hüfte auftraten. Ein Jahr nach dem Ereignis wurde die aggressive Dame, die sich beleidigend und tätlich gegen Mutter und Sohn betragen hatte, zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt, die Kosten des Verfahrens hatte sie zu tragen. Sie legte jedoch den Offenbarungseid ab und blieb die Prozesskosten schuldig.
Die Welle von Asylsuchenden 2014/15 verstärkte die längst bestehende und politisch instrumentalisierte Abneigung gegen „Fremde“. Zuvor hatten Muslimfeinde aus der vermeintlichen Mitte der Gesellschaft Abstiegs- und Verlustängste der Mittelklasse stimuliert. Ein Tiefpunkt war 2010 das Pamphlet „Deutschland schafft sich ab“ des Autors Thilo Sarrazin, der, wie der frühere Berlin-Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky, im Schutz eines SPD-Parteibuchs rassistische Emotionen gegen Migranten (überwiegend Muslime) schürte, wie sie seit 2013 die Partei „Alternative für Deutschland“ anstelle eines konstruktiven Programms im Schilde führt.
Die seit Langem schwelende Parteien- und Politikverdrossenheit wird durch Hass auf Mandatsträger und Funktionäre („Merkel muss weg“ oder „Ampel muss weg“) agiert und mündet in der Ablehnung der Demokratie, ihrer Werte und des demokratischen Systems als Ordnungsmodell. Als jüngstes Alarmsignal muss auch der Rückzug des sächsischen CDU-Bundestagsabgeordneten Marco Wanderwitz gelten, der am 20. November 2024 mitteilte, im Februar 2025 nicht wieder für den Bundestag zu kandidieren. Seine Begründung: „Ich muss meine Familie und mich körperlich und seelisch schützen." In den vergangenen Jahren habe er mehrere Morddrohungen erhalten, ohne dass die Polizei Täter ermitteln konnte, auch nicht nach einem Brandanschlag auf sein Wahlkreisbüro an Silvester 2021/22.
Bei ehemaligen DDR-Bürgerinnen und Bürgern, die Begrifflichkeit und Inhalt freiheitlich-rechtsstaatlicher Ordnung nach der Wende neu erlernen mussten, ebenso den fairen öffentlichen Diskurs, Kompromissfindungswege und Minderheitenschutz als hohe Güter der Demokratie spielten oft falsche Erwartungen und enttäuschte Hoffnungen auf schnellen positiven Wandel eine erhebliche Rolle. Und schnell wurden Sündenböcke gesucht.
Ihren partiellen Verlust an Glaubwürdigkeit im alten Westen haben die Parteien und ihre Akteure in hohem Grad selbst verschuldet. Der Akzeptanzverlust der Demokratie – erkennbar an den Wahlerfolgen von Rechtsaußenparteien wie der der AfD – geht auf das Konto nachlassender Kenntnis und zunehmender Verweigerung der Erfahrung nationalsozialistischer und antidemokratischer Ideologie und den daraus resultierenden Folgen. Die zunehmende Emotionalisierung, der Verlust an Distanz und Respekt im öffentlichen und privaten Diskurs und im politischen Prozess sind Ursachen gesellschaftlicher Feindbildprägungen, Rohheit und Gewalt.
Ressentiment
Vorurteile, die sich zu Ressentiments verdichten, sind immer pauschal, verallgemeinern eine Situation, eine Begegnung, einen Vorfall. Differenzierung ist dem Vorurteil entgegengesetzt, löst dessen Substanz auf und verweist in die entgegengesetzten Gefilde der Rationalität. Vorurteile dienen – meist unbewusst – als Wegweiser, ermöglichen rasche Kategorisierung, ordnen Wahrnehmungen in ein Weltbild ein und bestätigen sich stets selbst. Ressentiments sind ausschließlich emotional bestimmt, sie definieren Freund- und Feindbilder und steuern das Verhalten:
Zuneigung im positiven, Abneigung im negativen Fall.
Mächtige Feindbilder evozieren Hass und Gewalt.
Phänomene wie Rassismus, Antisemitismus oder Chauvinismus sind generalisierende ideologisierte Komplexe von Feindbildern, die durch negative Zuschreibungen markierte Kollektive – ethnische Gruppen, religiöse Gemeinschaften, soziale Kollektive, Nationen et cetera – ausgrenzen, verfolgen und vernichten wollen.
Feindbildgesteuerte Gewalt wird zuerst von Individuen gegen andere Individuen geübt, oder von Einzelnen, die glauben, einen Auftrag auszuführen gegen Kollektive, die in ihrer Fantasie als Feinde existieren. Das Sendungsbewusstsein gegenüber eingebildeten Feinden, der Drang, gefühlten Missständen entgegentreten zu müssen, kann sich zum obsessiven Bewusstsein steigern, zum fantasierten Auftrag, stellvertretend handeln zu müssen, weil Politik und Gesellschaft versagen. Hassdelikte, ausgelöst durch rassistische, politische, religiöse oder andere Feindbilder, sind alltäglich geworden. Dass Internet-Medien einen erheblichen Anteil an der Zunahme von Hassbotschaften haben, ist evident.
Der jüngste Fall ist ein Überfall Rechtsextremer auf einen SPD-Informationsstand in Berlin-Lichterfelde zur Adventszeit 2024. Vier junge Rechtsextremisten überfielen den SPD-Stand und demonstrierten mit roher Gewalt ihre feindselige Gesinnung: Einen Mann schlugen sie zu Boden und traten ihm ins Gesicht. Andere, darunter zwei Polizeibeamte, wurden bei der Attacke ebenfalls verletzt. Dieser Angriff ist auch ein Resultat vorausgehender Hassbotschaften und Feindbildprägungen, sei es durch Ideologen aus der rechten Szene im Netz oder populistische Medien.
Aus der Pogromforschung wissen wir um die Ansteckungsgefahr gewaltsamen Verhaltens gegen Andersdenkende, Fremde und Minderheiten, die mit Feindbildern versehen werden. In der „Reichskristallnacht“ 1938 waren es keineswegs nur fanatische Nazis, die befohlenen Antisemitismus agierten. Nachbarn, unbescholtene, unpolitische Bürger ließen sich vom Pogromgeschehen mitreißen: Emotionen machen Bürger zum Mob, der fremdenfeindliche Parolen grölt, Steine und Bierflaschen gegen Polizisten wirft, das Gewaltmonopol des Staates infrage stellt, um vermeintliche Gefahr und Bedrohung durch Fremde oder als unerwünscht stigmatisierte Minderheiten abzuwehren.
An zwei weiteren Ereignissen soll die Feindbildkonstruktion auf der Basis von Ressentiments erläutert werden: Die Szene wie aus dem Wildwestfilm ereignete sich im Herbst 2024. Sie ist ein Muster organisierter Rohheit. Am 26. Oktober 2024 wurde zwischen Löwenberg und Gransee in Brandenburg ein Zug auf der Fahrt von Essen nach Rostock zum Halten gebracht und von etwa 200 vermummten Personen mit Böllern und Steinen angegriffen.
Die Passagiere des Sonderzugs, etwa 750 Fußball-Fans, waren auf der Fahrt zu einem Spiel ihres Vereins Rot-Weiß Essen gegen den FC Hansa in Rostock. Die Angreifer verschwanden, nachdem sie den Zug demoliert, die Passagiere in Angst und Schrecken versetzt und einige von ihnen verletzt hatten, im Nebel. Der Fall ist unerhört, aber sein Nachrichtenwert war gering. Die Medien berichteten nur knapp, obwohl der Anschlag mindestens den Tatbestand des Landfriedensbruchs erfüllt.
Zweites Beispiel: Die Berliner Kriminalitätsstatistik verzeichnet für 2023 18.784 Opfer häuslicher Gewalt. Das ist der höchste Wert seit 10 Jahren, die Dunkelziffer ist vermutlich erheblich. Femizid ist die äußerste Form von Gewalt gegen Frauen. Motive können Macht und Ehre, männlicher Verfügungsanspruch, kulturell, religiös, patriarchalisch begründete Dominanz sein oder einfach Hass auf das weibliche Geschlecht. Charakterisiert und definiert ist das Gewaltdelikt, dem Kriminologie und Soziologie erst vor Kurzem den Namen Femizid gaben, als Mord an einer Frau, weil sie eine Frau ist. Der Tatbestand ist schwer zu analysieren und wissenschaftlich kaum erforscht. Fest steht, dass laut Bundeskriminalamt im Jahr 2023 in der Bundesrepublik 360 Femizide verübt wurden. Über das jeweilige Motiv und die Täter-Opfer-Beziehung gibt die Statistik keine Auskunft. Immerhin sind 155 Fälle als Opfer häuslicher Gewalt definiert. Die Tendenz der Häufigkeit des Delikts ist steigend und damit ein Indiz für die zunehmende Verrohung der Gesellschaft auch auf privatem Aktionsfeld.
Angst
Eine wichtige, vielleicht die entscheidende Triebkraft, die Ressentiments in Gewalt münden lässt, ist Angst. Vielfältige Formen von Angst kennzeichnen das soziale Leben: Überfremdungsängste werden besonders deutlich artikuliert, weil sie sich öffentlich als Auftrag verstehen lassen, das Vaterland, die Wertegemeinschaft, die durch Brauchtum und Tradition charakterisierte Heimat zu verteidigen. Die Abwehr von Fremden erleben wir täglich. „Argumente“ gegen Fremde sind deren „aggressive Religion“, deren „inkompatible Kultur“, deren „mangelnde Zivilisation“ und andere Zuschreibungen sowie „deren Armut“ und die daraus vermeintlich resultierende Gier, unsere Sozialsysteme „auszuplündern“ oder Eigentum, Arbeitsplätze und vieles mehr zu „rauben“. Unter Überfremdungsängsten subsumieren sich viele Emotionen, vom Sexualneid über die befürchtete Kriminalisierung der Gesellschaft bis zur geargwöhnten gewaltsamen Islamisierung des Abendlandes.
Ein diffuses Gemenge von Unsicherheit und Angst, von Ratlosigkeit und Unverständnis gegenüber rasanten und komplexen Veränderungen der Welt quält Menschen in der Mitte der Gesellschaft: Werden die Sozialsysteme überfordert, sind Zukunft und Alter unsicher, ist die Vision Europa von Politikern zerredet und von Bürokraten in Brüssel so kleingearbeitet worden, dass nur noch nationaler Patriotismus die Rettung bringt? Ein zentrales Motiv, das solchen Ressentiments zugrunde liegt, ist das Gefühl, nicht genug partizipieren zu dürfen, die Empfindung der Ohnmacht gegenüber Obrigkeit und Eliten, gegenüber unkalkulierbaren Entwicklungen.
„Pegida“ war ein Versuch zur Gemeinschaftsbildung gleichgesinnter Bürger durch gemeinsame Ressentiments. Es war eine Flucht aus dem Unbehagen. Die Motive der nicht mehr aktiven Empörungsbewegung sind vielfältig: Weil sie komplizierte Zusammenhänge der Politik nicht verstehen, weil sie Probleme mit dem System der repräsentativen Demokratie haben, weil sie ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit im Rechtsstaat nicht verwirklicht sehen, schließen sich Empörte zur Kultivierung ihrer Vorurteile zusammen. Den Bindekitt bilden Ängste und das Bedürfnis nach schlichten Welterklärungen. Ohne Programm und Struktur werden Unzufriedene mit Ressentiments mobilisiert, wie etwa Islamfeindschaft, Xenophobie oder Nationalpatriotismus, sie werden beim Gemeinschaftserlebnis des Protestes und der Kundgebung mit Phrasen gefüttert, sie dürfen Parolen skandieren und Aufbegehren darstellen. Dann werden sie zurückgestoßen in die politische Verdrießlichkeit.
Verschwörungsdenken
Konspirationsmythen gewinnen zunehmend Raum im Diskurs einer Orientierung suchenden Gesellschaft, die – aus unterschiedlichen Gründen – demokratische Regelungen des Zusammenlebens, der Konfliktlösung und des Interessenausgleichs verweigert, die Ordnungsmodelle und Wissenschaftlichkeit als Quelle von Erkenntnis infrage stellt und das Recht auf schrankenlose Unmutsbekundung und individuelle Selbstermächtigung einfordert.
Zum Wesen der Verschwörungsfantasie als Botschaft gehört es, dass sie unmittelbar geglaubt und nicht kritisch reflektiert wird, weil sie Wünschen und Erwartungen entspricht. Gemeinsames Merkmal ist das Absurde, die Verweigerung der Gesetze der Logik, der Anspruch auf gültige Welterklärung mit Argumenten und „Beweisen“, die fern jeder Rationalität sind und deshalb nicht verifiziert werden können, sondern durch Glauben gültig werden. Verschwörungsmythen nutzen als Ausgangspunkt reale Begebenheiten, sie bedienen Gefühle des Bedrohtseins, der Angst, der Abwehr wirklicher oder imaginärer Gefahr, sie markieren Feinde und grenzen sie aus. Sie schaffen den Zusammenhalt unter Gläubigen mit der radikalen Absage an rationales Denken und bekennen sich zur äußersten Form der Emotionalität. Individuelle und kollektive Ängste werden in Verschwörungsfantasien kanalisiert, die Feindbilder fixieren und dadurch Hemmungen vor der Ausübung von Gewalt im öffentlichen Diskurs abbauen. Sich der Feinde zu erwehren, wird dann zur vermeintlich notwendigen und gerechten Sache: Rohheit als Handlungsmuster ist scheinbar legitimiert.
Protest
Die Abneigung gegen Migranten und Migrantinnen, die Feindschaft gegen Muslime, die sich in organisierter kollektiver Gewalt gegen Wohnheime oder in individueller Tätlichkeit gegen Menschen erkennbar fremdartigen Aussehens oder vermuteter Herkunft austobt, haben seit 1990 zugenommen. Brandstiftungen, Hetzjagden und weitere Gewalttaten sind Indizien für Unsicherheit, Verlustangst und Gefühle existentieller Bedrohung. Die latente Skepsis und das verbreitete Misstrauen gegenüber einer als feindlich, ineffektiv und uferlos regelnd wahrgenommenen Obrigkeit (von der Kommune bis zum Herrschaftsapparat in Brüssel) verbinden sich mit der Abneigung gegenüber Medien als vermeintliche „Lügenpresse“, äußern sich im Anspruch auf unmittelbare politische Partizipation und der Neigung, Informationen ausschließlich in den sozialen Medien auszutauschen. Das Bedürfnis politischer und administrativer Eliten, alle Lebensbereiche durch Normen zu regulieren, bürokratisiert den Alltag und evoziert Kritik. Die Einschränkung des individuellen Freiraums zur Zeit der Pandemie durch „Impfzwang“, Geselligkeitsverbot, Entzug selbstbestimmter Entscheidung wurde zum vorläufigen Höhepunkt bürgerlicher Wut. Mit Verschwörungsmythen, Realitätsverweigerung und bewusst eingesetzter Desinformation wiegelten Demagogen ihre Anhänger zum gewaltsamen Protest auf – als angeblich notwendiger Selbsthilfe gegen die Staatsmacht und deren Repräsentanten.
„Querzudenken“ und als Gruppe „Widerstand zu leisten“ ist zum Markenzeichen einer Auflehnung geworden, die als „Bewegung“ strukturiert und teilweise organisiert ist, die ihre Impulse von Populisten und Verschwörungsideologen, von Identitären und „Reichsbürgern“, von Rechtsextremen, von kreidefressenden AfD-Politikern, von Sektierern und Narren erhält. Provokation und Usurpation sind die Methoden. Ziel ist die Destruktion von Normen und Regeln, die friedlichem Miteinander und vernünftigem Interessenausgleich in Staat und Gesellschaft dienen. Ursachen sind das Unverständnis und die Verweigerung von Solidarität und Toleranz sowie die kollektive Entfaltung unbeschränkter Egozentrik. Möglicherweise ist die destruktive Mechanik des Vorgangs vielen Beteiligten unbewusst, weil sie vor allem persönliche Emotionen in gleichgesinnter Gemeinschaft abreagieren, wie zum Beispiel Ärger, Enttäuschung, Zukurzgekommensein, Inferioritätskomplexe, Sozialneid, beruflichen oder existenziellen Misserfolg. Vielleicht suchen sie Trost in gemeinschaftlicher Auflehnung gegen gesellschaftliche und staatliche Ordnung. Manchen ist wohl auch nur langweilig. Demonstrationen haben Unterhaltungswert, wenn gemeinsam gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen wird, wie beim Sturmversuch auf den Reichstag Ende August 2020, im Bewusstsein, dass die Verteidiger – Polizei und sonstige Ordnungskräfte – an die Regeln gebunden bleiben, während sie der Mob durch Selbstermächtigung außer Kraft setzt.
Hass
Hass gegen Kollektive und Individuen aufgrund diverser Merkmale (Herkunft, Aussehen, Religion, Kultur und anderes mehr) ist die Triebkraft der Ausgrenzung, Diskriminierung und Verleumdung, die in Gewalt mündet. Mangelnder Respekt, zunehmende Distanzlosigkeit und die Wirkungsmöglichkeiten via soziale Medien sind die Voraussetzungen einer unerfreulichen Situation, in der Andersdenkende und Unerwünschte denunziert, verleumdet und bedroht werden. Die neuen Medien haben das Gespräch am Stammtisch und die Leserbriefspalten der Heimatzeitung abgelöst, die lange Zeit Orte des öffentlichen bürgerlichen Diskurses über Angelegenheiten von allgemeinem Interesse waren.
Der Austausch findet längst vor allem online statt. Die Grundregeln sind trotz des dramatisch veränderten Ambientes, trotz des Autismus, in den die Beschwerdeführer und Heilskünder durch ihre Einsamkeit am PC versetzt sind, dieselben: Die Meinungsäußerung erfolgt unmittelbar, das heißt wenig reflektiert, Gefühlswallung ist die Regel, schwierige Sachverhalte werden in drastischen Worten simplifiziert, vermeintliche Feinde werden deutlich benannt, Fehlverhalten wird ohne Wenn und Aber gebrandmarkt – und am richtigen Weg ist kein Zweifel zugelassen.
Geändert hat sich vieles. Der Ton ist radikaler geworden, denn wenn man unsichtbar ist, den Gegner auch nicht sehen kann und einem ebenfalls unsichtbaren Publikum erst beschreiben muss, wer die Feinde sind, dann genügt die Andeutung nicht mehr, man muss laut und drastisch werden. Der Andersdenkende kann ja auch nicht mehr, wie der Stammtischbruder im Goldenen Lamm, durch Heben der Augenbrauen anzeigen, dass er die Rede des Gegenübers beleidigend findet und dass dieser sich jetzt unbedingt mäßigen muss. Und das gepostete Wort kann nicht zurückgenommen oder wenigstens relativiert werden. Auch was gelöscht wird, ist einmal geschrieben und schon tausendfach wahrgenommen worden, es wird auch nach der Tilgung, die somit keine ist, zitiert und kommentiert.
Die unter Pochen auf die Meinungsfreiheit gesendeten Hasstiraden, die Aufrufe zur Gewalt, die Zunahme menschenfeindlicher Rohheit in der Öffentlichkeit der sozialen Medien beunruhigen nicht nur intellektuelle Schöngeister, die sich im analogen Zeitalter eingeigelt haben. Im August 2015 sorgte sich der damalige Bundesjustizminister Heiko Maaß zuständigkeitshalber, schrieb einen Brief an das Facebook-Management, signalisierte Gesprächs- und Regelungsbedarf. Beratungen zur Steuerung des Übels begannen unmittelbar. Nach Möglichkeit binnen 24 Stunden werden nun Hasstiraden (sofern als solche erkannt und bewertet) gelöscht. Dieses Versprechen wurde im Dezember 2016 veröffentlicht. Neu an der Vereinbarung ist, dass deutsches Recht (und nicht nur die Regeln der Netzbetreiber) bei der Entscheidung zugrunde gelegt wird. Unbefriedigend bleibt, dass es zwischen Antragsteller und Medienanbieter in der Regel strittig ist, ob eine Löschung begründet ist, dass die zur Klärung nötige Zeit der Verbreitung der Hass-Botschaft nützt und dass ein einmal ins Netz gestelltes Dokument nicht mehr aus der Welt geschafft werden kann.
Der Haupteinwand gegen die fromme Absicht, durch Löschen das Böse (oder wenigstens dessen allerschlimmsten Auswüchse) zu verhindern, besteht aber in der aus der Ressentimentforschung längst gewonnenen Erkenntnis, dass es der ultimativen drastischen Gebärde - der Beleidigung von Personen oder Gruppen, dem Aufruf zur Gewalt – gar nicht bedarf, um den Mechanismus von Vorurteil und daraus resultierendem Feindbild, der Implantation von Verachtung und Abscheu, gipfelnd im Wunsch nach Ausgrenzung, Vertreibung und Gewalt, in Gang zu setzen. Das ist mit subtileren Methoden und mit stetigen, niedrigschwelligen Appellen vielleicht noch besser möglich als mit Getöse und Pogromaufruf. Das Feindbild „Asylbewerber“, „Flüchtling“, „Aggressor“, „Eindringling“ wird durch Agitation hergeleitet und fixiert. Argumente und Parolen der Stigmatisierung – „kulturfremd“, „nicht integrationsfähig“, „fanatisch religiös“ und so weiter – können, wenn sie als persönliche Überzeugung vorgebracht werden, so wenig unterdrückt werden wie Meinungsäußerungen, die der Angst vor „Überfremdung“ entspringen und individuell möglicherweise berechtigte Sorgen ausdrücken.
Auch wenn solche Meinungen kleinlich und spießig sein mögen, wenn die Zukunftsvisionen von einem islamisierten Europa lächerlich sind, so spiegeln sie doch reale Ängste und sind deshalb legitim – und wären auch nicht durch Knopfdruck zu tilgen. Die Wirkung öffentlich vorgetragener Mutmaßungen über Fremde und Minderheiten ist dank des Multiplikationseffekts, dank neuer Wahrnehmungs- und Diskursstrukturen in den sozialen Medien ungleich erheblicher als in der geschlossenen Gesellschaft des alten Stammtischs. Auch dessen erweiterte öffentliche Form, die Leserbriefseite der Heimatzeitung, ist nicht vergleichbar, denn dort muss man sich Mühe geben, sein Anliegen einigermaßen präzise und sprachlich korrekt zu formulieren. Und die Redaktion hat ein Auge darauf, dass Argumente benutzt werden, dass nicht nur Hassgebrüll zu Papier gebracht wird, um verbreitet zu werden.
Morddrohungen
Die Übergänge zwischen den Medien sind allerdings fließend. Nachdem der Berliner Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu in einem Artikel auf den online-Seiten der Zeitung „Tagesspiegel“ Demokratieerziehung und politische Bildung in den Schulen gefordert hatte, erhielt er Morddrohungen. Auf rechten Internetseiten war sein Beitrag verlinkt und mit der Aufforderung versehen worden, ihm Hassmails zu schreiben. Er selbst hatte den Text 2016 auf Facebook verbreitet. Er bekam Post, in der er zum Beispiel als „Grüner Türken-Nazi!“ beschimpft wurde. Eine Zuschrift lautete „Öczan Mutlu du gehörst umgelegt du Ratte“. Der Verfolgungseifer der Behörden ist in solchen Fällen gering, Strafanträge sind, auch gegen ermittelte Täter, meist erfolglos. Eine frühere Mitteilung an den Abgeordneten hatte gelautet: „Auschwitz muss wieder in Betrieb genommen werden, und diesmal muss es Türkenasche regnen“. Der Strafantrag wurde mit der Mitteilung beantwortet, der Tatbestand Volksverhetzung sei nicht erfüllt, denn die Äußerung sei ja nicht öffentlich erfolgt, sondern nur per E-Mail.
Die rüpelhafte Diktion der Botschaften ist ebenso konstitutiv für das Medium wie die häufig benutzte Fäkalsprache und eine augenscheinliche Rechtschreibschwäche vieler Nutzer und Nutzerinnen. Der Inhalt spiegelt Sorgen, Ängste, Gewissheiten, Überzeugungen. Die Kompromisslosigkeit und die lustvoll zur Schau gestellte Intoleranz kennzeichnen eine Situation, die nicht nur in den sozialen Medien herrscht. Die Gesellschaft wird gespalten in „Gute“ und „Böse“. Das bedeutet Kampf, da Meinungsverschiedenheiten nur noch mit sprachloser Gewalt ausgetragen werden. Es bleibt nicht bei den Hasstiraden im Netz, mit denen die Welt in Freunde und Feinde geteilt wird, zwischen denen es keinen Kompromiss gibt.
Konsequenzen
Die Mehrheit, gegen die sich dann verbale und infolge leicht auch tätliche Gewalt richtet, muss die zunehmende Verrohung nicht hinnehmen, denn sie hat die Macht und die Möglichkeit, ihre demokratischen Werte zu verteidigen.
Toleranz gegenüber anderer Meinung ist eine Tugend, die gelebt werden muss durch Respekt vor dem Mitbürger. Achtsamkeit und Distanz sind notwendige Eigenschaften im Miteinander, aber kein Hindernis im Aufeinanderzugehen, im gewaltlosen Meinungsaustausch. Auch bei divergierender Weltanschauung und unterschiedlicher Kultur. Denn sozialer Frieden und Humanität im alltäglichen Umgang sind unerlässlich. Die Überwindung der Spaltung der Gesellschaft in Freunde und Feinde, in Gute und Böse, in Zugehörige und Fremde ist das Ziel, dazu gehört es besonders, Feind- und klischeefördernde Schwarz-Weiß-Bilder zu demontieren und nicht länger zuzulassen, und im gesellschaftlichen Diskurs allein auf Sachlichkeit zu setzen, nicht aber auf Emotion und Verunglimpfung. Mutmesch und Mitmensch sein, in diesen Tugenden sind wir gefragt. Insbesondere im Anlauf auf die bevorstehende Bundestagswahl ist das aller Anstrengung der Demokratinnen und Demokraten hierzulande wert.
Zitierweise: Wolfgang Benz, "Abschied von der zivilen Gesellschaft?“, www.bpb.de/557982, Deutschlandarchiv vom 23.12.2024. Alle Beiträge im Deutschland Archiv sind Recherchen und Sichtweisen der jeweiligen Autoren und Autorinnen, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. (hk)
Prof. Dr. em., geb. 1941; lehrte bis 2011 an der Technischen Universität Berlin und leitete von 1990 bis 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung.
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